Stellungnahme des Bundesrates
Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung der Opferrechte im Strafverfahren
(3. Opferrechtsreformgesetz)

Der Bundesrat hat in seiner 932. Sitzung am 27. März 2015 beschlossen, zu dem Gesetzentwurf gemäß Artikel 76 Absatz 2 des Grundgesetzes wie folgt Stellung zu nehmen:

1. Zum Gesetzentwurf allgemein

Der Bundesrat bittet die Bundesregierung, den im Gesetzentwurf dargestellten Erfüllungsaufwand in Zusammenarbeit mit den Ländern zu prüfen und das Ergebnis in die weiteren Beratungen des Gesetzentwurfs einzubringen.

Begründung:

Der Gesetzentwurf weist einen jährlichen Erfüllungsaufwand der Länder von voraussichtlich 90 000 Euro aus. Grundlage für diese Schätzung sind laut Gesetzentwurf die Erfahrungen aus Mecklenburg-Vorpommern; dort sind für den Doppelhaushalt 2014/2015 allerdings pro Haushaltsjahr 175 000 Euro veranschlagt worden. Es ist davon auszugehen, dass die Beträge in Mecklenburg-Vorpommern in unmittelbarem Zusammenhang mit der Zahl der Einwohner stehen. Rechnet man den Erfahrungswert auf die Einwohnerzahl in Deutschland hoch, ergibt sich daraus bereits der 50-fache Betrag, also über 8,7 Millionen Euro.

Zudem ist darauf hinzuweisen, dass sich die dortigen Erfahrungen ausschließlich auf ein freiwilliges Angebot für Minderjährige beziehen. Es ist jedoch davon auszugehen, dass sich die Zahl der Fälle deutlich erhöhen wird, wenn durch den Gesetzentwurf ein Rechtsanspruch nicht nur für Minderjährige, sondern auch für vergleichbar schutzbedürftige Personen geschaffen wird. Eine weitere deutliche Steigerung der Zahl der Fälle dürfte sich auch durch die Einbeziehung der Verletzten mit besonderer Schutzbedürftigkeit ergeben.

Schlussfolgerungen für den wahrscheinlichen Erfüllungsaufwand lassen sich insbesondere aus polizeilichen Kriminalstatistiken ziehen. So ergeben sich aus der Polizeilichen Kriminalstatistik 2013 bundesweit rund 37 200 Fälle im Schutzbereich des Gesetzentwurfs mit minderjährigen Verletzten. Berechnet man für diese Fälle die im Gesetzentwurf genannte Untergrenze für die Fallpauschale von 1 000 Euro, ergeben sich bereits hierdurch Kosten in Höhe von 37,2 Millionen Euro. Die gleiche Statistik weist in der Summe der volljährigen Verletzten, die für eine psychosoziale Prozessbegleitung in Frage kommen (ohne Minderjährige), insgesamt 90 539 Fälle auf.

Diese beispielhaft berechneten Fallzahlen und Beträge zeigen deutlich, dass die im Gesetzentwurf enthaltenen Kosten für den Erfüllungsaufwand den oben genannten Aspekten nicht hinreichend Rechnung tragen.

2. Zu Artikel 1 Nummer 10 Buchstabe c (§ 406d Absatz 3 Satz 2 StPO)

In Artikel 1 Nummer 10 Buchstabe c sind in § 406d Absatz 3 Satz 2 die Wörter "wenn die Anordnung von Untersuchungshaft gegen den Beschuldigten zu erwarten ist" durch die Wörter "wenn Untersuchungshaft gegen den Beschuldigten vollzogen wird" zu ersetzen.

Begründung:

Soweit die Anordnung von Untersuchungshaft gegen den Beschuldigten zu erwarten ist, soll nach dem Gesetzentwurf der Bundesregierung die entsprechende Belehrung über die Informationsrechte von Verletzten gleich bei Anzeigeerstattung erfolgen. Dieser Zeitpunkt ist verfrüht.

Eine belastbare Einschätzung der Wahrscheinlichkeit einer späteren Untersuchungshaft ist bei Anzeigeerstattung nur in Ausnahmefällen möglich.

Vielfach gilt es zunächst, weitere Zeugen zu vernehmen, Spuren auszuwerten und Beschuldigten rechtliches Gehör zu gewähren. Eine vorweggenommene Bejahung dringenden Tatverdachts ist in diesen Fällen nicht angezeigt. Zum Zeitpunkt der Anzeigeerstattung sind zudem die einen Haftgrund begründenden und beseitigenden Tatsachen zumeist noch nicht ermittelt. Den anzeigeaufnehmenden Ermittlungspersonen liegen in der Regel bereits keine verlässlichen Erkenntnisse zu Vorstrafen vor, da diese in den polizeilichen Datenverarbeitungssystemen nicht vorgehalten werden. Auch werden Anzeigen vielfach bei den für die Gefahrenabwehr zuständigen Beamtinnen und Beamten erstattet, die mangels Zuständigkeit für die weiteren Ermittlungen nicht über die erforderlichen Erfahrungen für die Einschätzung des weiteren Verfahrensganges verfügen.

Dem Opfer ist aber nicht gedient, wenn es falsch informiert wird. Unnötige Spekulationen und Nachfragen gilt es ebenso zu vermeiden wie absehbare Enttäuschungen und Verunsicherungen. Erst nach Bearbeitung der Anzeige durch die zuständigen Kommissariate und Beurteilung durch Staatsanwaltschaft und Gericht entscheidet sich, ob Untersuchungshaft angeordnet wird.

Die zwingende Vorgabe einer Belehrung über die Informationsrechte von Verletzten ist daher erst bei Vollzug der Untersuchungshaft sachgerecht, praxisnah und an den praktischen Bedürfnissen der Opfer von Straftaten orientiert.

3. Zu Artikel 1 Nummer 11 (§ 406g Absatz 2 Satz 2 StPO)

In Artikel 1 Nummer 11 sind in § 406g Absatz 2 Satz 2 nach dem Wort "es" die Wörter "nach Maßgabe des § 406f Absatz 2" einzufügen.

Begründung:

§ 406g Absatz 2 Satz 1 StPO-E sieht ein ausdrückliches Recht des Verletzten vor, sich eines psychosozialen Prozessbegleiters zu bedienen. In Satz 2 wird dieses Recht dahingehend näher ausgestaltet, dass es dem Prozessbegleiter gestattet ist, bei Vernehmungen des Verletzten und während der Hauptverhandlung gemeinsam mit dem Verletzten anwesend zu sein.

Auf Grundlage dieser Regelung hat das Gericht keinerlei Handhabe, einen ohne Beiordnung gewählten Prozessbegleiter abzulehnen, dessen Anwesenheit bei der Vernehmung des Verletzten etwa aufgrund einer Involvierung in das Tatgeschehen oder sonstiger persönlicher Verflechtungen untunlich ist. Die Regelung des § 406f Absatz 2 StPO über den vergleichbaren Fall der Hinzuziehung einer Vertrauensperson sorgt für derartige Sonderkonstellationen vor, indem das Gericht die Anwesenheit der Vertrauensperson bei der Vernehmung ausnahmsweise nicht gestatten muss, wenn hierdurch der Untersuchungszweck gefährdet werden könnte. Auch in den Fällen der Beiordnung eines Prozessbegleiters nach § 406g Absatz 3 StPO-E wird dem Problem Rechnung getragen, indem die Vorschrift in Satz 4 eine Rechtsfolgenverweisung auf § 142 StPO enthält, nach dessen Absatz 1 Satz 2 der gewählte Beistand aus wichtigem Grund abgelehnt werden kann. Für den Zeugenbeistand sieht § 68 Absatz 1 Satz 3 und 4 StPO eine entsprechende Ausschlussmöglichkeit vor. Es erscheint nicht sachgerecht, dem Gericht im Fall der Hinzuziehung eines psychosozialen Prozessbegleiters ohne Beiordnung keine solche Möglichkeit an die Hand zu geben.

Regelungstechnisch bietet sich in erster Linie eine Verweisung auf die Vorschrift des § 406f Absatz 2 StPO an, da dieser mit dem Recht des Verletzten auf Hinzuziehung einer Vertrauensperson bei Vernehmungen ein dem Anwesenheitsrecht des psychosozialen Prozessbegleiters inhaltsgleiches und auch sonst eng verwandtes Beteiligungsrecht regelt. Insoweit können aufgrund der übereinstimmenden Interessenlage auch die Folgeregelungen der Sätze 2 und 3 des § 406f Absatz 2 StPO für den hiesigen Fall übernommen werden. Dies gilt insbesondere auch für die Unanfechtbarkeit der gerichtlichen Ausschlussentscheidung, da nicht ersichtlich ist, dass dem Verletzten gegenüber dem Ausschluss des jedenfalls formal austauschbaren Prozessbegleiters eine höhere Schutzwürdigkeit zukommt als gegenüber der Ablehnung der individuell gewählten Vertrauensperson.

4. Zu Artikel 1 Nummer 11 (§ 406g StPO)

Der Bundesrat bittet, im weiteren Gesetzgebungsverfahren zu prüfen, ob § 406g StPO-E um eine genaue Definition der Befugnisse, Aufgaben und Pflichten des psychosozialen Prozessbegleiters zu ergänzen ist, die unter anderem auch ein Verbot von Gesprächen über die Tat und fallbezogener rechtlicher Beratung, qualifizierte Dokumentationspflichten für den Fall einer Thematisierung der Tat durch den Verletzten und eine Belehrungspflicht hinsichtlich der etwaigen zeugenschaftlichen Aussagepflicht des Prozessbegleiters enthält.

Begründung:

§ 406g StPO-E enthält in Absatz 1 Satz 1 zunächst eine Definition der psychosozialen Prozessbegleitung als "besondere Form der nichtrechtlichen Begleitung für besonders schutzbedürftige Verletzte vor, während und nach der Hauptverhandlung". Satz 2 fügt dem eine allgemeine Aufgabenbeschreibung hinzu, nach der die Begleitung "die Informationsvermittlung sowie die qualifizierte Betreuung und Unterstützung im gesamten Strafverfahren" umfasst "mit dem Ziel, die individuelle Belastung der Verletzten zu reduzieren, ihre Sekundärviktimisierung zu vermeiden und ihre Aussagetüchtigkeit zu fördern". Als einzige konkrete Aussage zu den Handlungsbefugnissen des Prozessbegleiters enthält § 406g Absatz 2 Satz 2 StPO-E die Bestimmung, dass es dem psychosozialen Prozessbegleiter gestattet ist, "bei Vernehmungen des Verletzten und während der Hauptverhandlung gemeinsam mit dem Verletzten anwesend zu sein".

Diese nur sehr vage Ausgestaltung der Tätigkeitsinhalte des Prozessbegleiters berücksichtigt nicht das in verschiedener Hinsicht bestehende Spannungsverhältnis zwischen dem Anliegen des Opferschutzes und dem im Strafverfahren geltenden Ziel der Wahrheitserforschung. Es ist in der Rechtwissenschaft seit Langem anerkannt und entspricht auch der forensischen Erfahrung in der Rechtsanwendung, dass der Zeugenbeweis durch eine institutionalisierte Betreuung des Opfers im Einzelfall beeinträchtigt werden kann.

Um vor allem seitens der strafrechtlichen Praxis geäußerten Bedenken zu begegnen, erscheint es zumindest erwägenswert, die Handlungsbefugnisse des Prozessbegleiters in der gesetzlichen Regelung genauer auszugestalten und insbesondere eine klarstellende Bestimmung aufzunehmen, nach der sich der Prozessbegleiter tatbezogener Gespräche und sonstiger Tätigkeiten zu enthalten hat, die geeignet sind, die Zeugenaussage des Verletzten inhaltlich zu beeinflussen. Ferner wäre eine Belehrungspflicht denkbar, dass er über Äußerungen des Opfers unter Umständen als Zeuge vernommen werden kann.

5. Zu Artikel 1 Nummer 11 (§ 406g StPO)

Der Bundesrat bittet, im weiteren Gesetzgebungsverfahren zu prüfen, ob § 406g StPO-E um einen Auslagenersatz- und Honoraranspruch des beigeordneten Prozessbegleiters zu ergänzen ist.

Begründung:

Der Gesetzentwurf sieht keine Bestimmung über das Honorar und den Auslagenersatz des gerichtlich beigeordneten psychosozialen Prozessbegleiters vor. Die Ausgestaltung der Finanzierung des obligatorischen Unterstützungsangebots soll durch die Länder erfolgen.

Insoweit bedarf es der Prüfung, ob die Höhe der den Prozessbegleitern zustehenden Vergütung tatsächlich von der Regelung und Förderung des Instruments in den einzelnen Ländern abhängig gemacht werden kann oder ob das aus den vorgesehenen Anspruchstatbeständen resultierende Gebot einer flächendeckenden, homogenen Bereitstellung der Unterstützungsdienste die bundeseinheitliche Normierung eines Auslagenersatz- und Honoraranspruchs in bestimmter Höhe erforderlich macht. Verschiedene Finanzierungsmodelle in den einzelnen Ländern könnten unter Umständen zu unterschiedlichen Versorgungsstandards führen, weshalb auch die Opferschutzeinrichtung WEISSER RING e.V. die Aufnahme einer Vergütungsregelung entschieden befürwortet.

Regelungstechnisch käme insoweit entweder die Aufnahme einer Anspruchsnorm innerhalb des betreffenden Regelungskomplexes der StPO nach dem Vorbild des § 158 Absatz 7 FamFG oder die Schaffung eines gesonderten Regelwerks nach dem Vorbild des VBVG in Betracht. Diese Lösungen wären einer Vergütung nach dem JVEG, wie vom WEISSEN RING e.V. vorgeschlagen, vorzuziehen, da auch andere Zeugen- und Parteibeistände nicht nach dem JVEG vergütet werden. Der Höhe nach könnte sich eine Vergütungsregelung an den in Artikel 3 des Gesetzentwurfs vorgesehenen, vom Verurteilten zu tragenden Aufschlägen auf die Gerichtsgebühren orientieren, die nach der Vorstellung des Bundesgesetzgebers jedoch offenbar keine vollständige Umlegung der Kosten der Prozessbegleitung bewirken sollen.

6. Zu Artikel 3 Nummer 2 (Nummer 3150, Nummer 3151, Nummer 3152 Gebührenspalte, Anlage 1 [zu § 3 Absatz 2 GKG] Kostenverzeichnis)

In Artikel 3 Nummer 2 ist im Kostenverzeichnis die Gebührenspalte wie folgt zu ändern:

Begründung:

Grundlage des geltenden Kostenrechts ist das Veranlassungsprinzip. Dies gebietet es, dem Verurteilten die Kosten der wegen seiner Tatbegehung erforderlich gewordenen Prozessbegleitung grundsätzlich in voller Höhe aufzuerlegen. Dass diese Kosten durchschnittlich mindestens 1 100 Euro betragen, ist allgemein anerkannt.

Der Resozialisierungsgedanke rechtfertigt es nicht, selbst vermögende Täter von vornherein nur mit einem Teil der Kosten der Prozessbegleitung zu belasten. Dem Resozialisierungsgebot wird vielmehr genügt, wenn bei der Anwendung der kosten- und haushaltsrechtlichen Vorschriften, insbesondere des § 10 Absatz 1 Kostenverfügung und der jeweiligen landesrechtlichen Vorschriften über das Beitreibungsverfahren, die wirtschaftlichen Verhältnisse des Kostenschuldners berücksichtigt werden und im Einzelfall Stundung, Ratenzahlung, Niederschlagung oder Erlass gewährt werden (vgl. BVerfG, Beschluss vom 27. Juni 2006 - 2 BvR 1392/02 - Abs. -Nr. 26 ff.).

Bedient sich ein zum Anschluss als Nebenkläger Berechtigter nach § 406g Absatz 2 StPO-E des Beistands eines psychosozialen Prozessbegleiters, ohne dass dieser im Sinne des § 406g Absatz 3 StPO-E beigeordnet wurde, würde sich der Resozialisierungsgedanke sogar gegen den Verletzten richten. Die Auslagen des Zeugen für die Prozessbegleitung können, selbst wenn sie in weiterem Umfang notwendig waren, nach § 472 Absatz 1 Satz 2 StPO-E gegen den Verurteilten nur bis zu dem Betrag der Gebührenerhöhung festgesetzt werden, die im Fall der Beiordnung eingetreten wäre. Der Verletzte wird damit für die Differenz auf den Zivilrechtsweg verwiesen und so erneut Belastungen ausgesetzt, die mit der Einführung der psychosozialen Prozessbegleitung gerade verringert werden sollen.

7. Zu Artikel 4 Satz 2 (Inkrafttreten)

In Artikel 4 Satz 2 ist die Angabe "2016" durch die Angabe "2017" zu ersetzen.

Begründung:

Der Gesetzentwurf sieht ein Inkrafttreten der Regelungen über die psychosoziale Prozessbegleitung zum 1. Januar 2016 vor. Dieser Zeitpunkt ist verfrüht. Die Einführung der psychosozialen Prozessbegleitung erfordert in den meisten

Ländern einen erheblichen Umsetzungsbedarf. Hierzu gehören insbesondere Regelungen zur Sicherstellung der Finanzierung, die Etablierung von Anerkennungsverfahren sowie die Schaffung personeller und organisatorischer Strukturen auf der Basis der von allen Ländern gebilligten bundeseinheitlichen Mindeststandards der Bund-Länder-Arbeitsgruppe "Psychosoziale Prozessbegleitung". Daher bedarf es einer Verlängerung der Übergangsfrist bis 1. Januar 2017, um den gesetzlichen Anspruch zu erfüllen.