Antrag der Länder Berlin, Brandenburg, Hamburg, Mecklenburg-Vorpommern, Thüringen
Entschließung des Bundesrates zur Schaffung von Grundlagen zur Refinanzierbarkeit digitaler altersgerechter Assistenzsysteme im Rahmen des SGB XI

Der Regierende Bürgermeister von Berlin Berlin, 28. Februar 2020

An den Präsidenten des Bundesrates
Herrn Ministerpräsidenten
Dr. Dietmar Woidke

Sehr geehrter Herr Präsident,
die Landesregierungen von Berlin, Brandenburg, Hamburg, Mecklenburg-Vorpommern, Thüringen haben beschlossen, dem Bundesrat die als Anlage beigefügte Entschließung des Bundesrates zur Schaffung von Grundlagen zur Refinanzierbarkeit digitaler altersgerechter Assistenzsysteme im Rahmen des SGB XI zuzuleiten.

Ich bitte Sie, die Vorlage gemäß § 36 Absatz 2 der Geschäftsordnung des Bundesrates auf die Tagesordnung der 986. Sitzung des Bundesrates am 13. März 2020 zu setzen und sie anschließend den zuständigen Ausschüssen zur Beratung zuzuweisen.

Mit freundlichen Grüßen
Michael Müller

Entschließung des Bundesrates zur Schaffung von Grundlagen zur Refinanzierbarkeit digitaler altersgerechter Assistenzsysteme im Rahmen des SGB XI

Der Bundesrat begrüßt die Bestrebungen der Bundesregierung, mit der Konzertierten Aktion Pflege die Potenziale der Digitalisierung voma. für die Arbeitswelt Pflege sichtbar und nutzbar zu machen.

Damit auch pflegebedürftige Menschen und ihre pflegenden Angehörigen möglichst bald von digitalen Lösungen profitieren können, fordert der Bundesrat die Bundesregierung auf, zeitnah einen Gesetzentwurf vorzulegen, mit dem

Begründung:

Vor dem Hintergrund des demografischen Wandels, der damit einhergehenden steigenden Anzahl pflegebedürftiger Menschen und pflegender Angehöriger sowie einem gleichzeitig wachsenden Fachkräftemangel, steht die Pflege vor großen Herausforderungen, für die es innovative Lösungen braucht. Die mit der Digitalisierung verknüpften Potenziale sind dabei unter anderem eine Möglichkeit, die Lebensqualität pflegebedürftiger Menschen zu erhöhen, pflegende Angehörige zu entlasten und häusliche Pflegearrangements zu stabilisieren. Technische Assistenzsysteme leisten einen Beitrag zu mehr Sicherheit und Teilhabe. Durch ihren Einsatz kann Selbstständigkeit länger erhalten und/oder eine Verschlechterung des Gesundheitszustands verzögert werden. Vor diesem Hintergrund sollten insbesondere technische Unterstützungsangebote in den Blick genommen werden, die bei einem möglichst langen Verbleib in der Häuslichkeit unterstützen. Hierbei sollten nicht nur einzelne technische Lösungen und Pflegehilfsmittel, sondern auch wohnumfeldverbessernde Maßnahmen berücksichtigt werden.

Zu 1.

Trotz der skizzierten Potenziale zeigt sich hierzulande eine Diskrepanz zwischen dem, was technisch möglich und sinnvoll ist und dem, was als technische Unterstützung bei den Menschen ankommt. Ursache für diese Diskrepanz ist das Fehlen grundlegender rechtlicher, finanzieller und struktureller Rahmenbedingungen. Da all diese Aspekte sich gegenseitig bedingen, braucht es rechtliche Vorgaben, mit denen die Verkettung der zentralen Hemmnis-Faktoren durchbrochen wird. Die wesentlichen Hemmnisse werden nachfolgend skizziert.

Der Bedarf an AAL-Systemen wird derzeit im Leistungskatalog der Pflegeversicherung nur ungenügend abgebildet. Bislang gibt es keine ausreichende Finanzierungsgrundlage für technische Hilfsmittel für pflegebedürftige Menschen auf der Grundlage des SGB XI. Will man aber vermeiden, dass der Einsatz technischer Unterstützungssysteme den jeweiligen Finanzierungsmöglichkeiten der Privathaushalte allein überlassen bleibt und damit ggf. soziale und gesundheitliche Ungleichheit verstärkt wird, sollte man die Grundlagen dafür schaffen, dass eine bewusste Auswahl solcher Systeme über die Versichertengemeinschaft allen pflegebedürftigen Menschen zugänglich ist.

Derzeit beinhaltet das Pflegehilfsmittelverzeichnis lediglich verschiedene Varianten des Hausnotrufes, was nicht hinreichend dem heutigen und perspektivischen Potenzial technischer Unterstützungssysteme entspricht. Als Schaffung einer regelhaften Finanzierungsgrundlage für AAL-Systeme wäre eine Anpassung des § 40 SGB XI denkbar, z.B. durch eine Erweiterung des § 40 Abs. 1 Satz 1 bzw. Abs. 4 Satz 1 SGB XI um die Aspekte der höheren Sicherheit, der selbstständigen Lebensführung, der Selbstbestimmung und der sozialen Teilhabe im Sinne des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs. Die konkrete Ausgestaltung ist Aufgabe des Bundes.

Um zu entscheiden, welche Produkte Eingang in das Pflegehilfsmittelverzeichnis finden sollten, sind Nachweise zur Wirksamkeit der Produkte erforderlich. Bisher liegen nur wenige dieser Nachweise vor. Um diese Leerstelle nach und nach zu füllen, sollten entsprechende Studien in Auftrag gegeben bzw. ein grundlegendes Verfahren zur Nachweisprüfung entwickelt werden. Für den Nachweis der Wirksamkeit sollten Nutzerinnen und Nutzer in die Studien einbezogen und an der Auswertung beteiligt werden.

Die Finanzierung neuer technischer Unterstützungssysteme ist unabdingbar mit der Existenz von Kriterien zur Bewertung und Anerkennung solcher Systeme verbunden; die jedoch liegen bisher nicht vor. Damit fehlt es zum einen an einer für Versicherte nachvollziehbaren Entscheidungsgrundlage, zum anderen aber auch an Transparenz für die Hersteller technischer Unterstützungsangebote. Den Herstellern muss klar sein, welche Kriterien zu erfüllen sind, damit sie diese bereits in der Produktentwicklung berücksichtigen können. Um nutzer- und bedarfsorientierte Produkte marktfähig zu machen, sollte ein zentrales Kriterium der nachweisliche Einbezug der potenziellen Anwenderinnen und Anwender bei der Produktentwicklung sein.

Es bleibt zudem zu prüfen, welche Gremien/Institutionen künftig die Aufgabe der Kriterienentwicklung übernehmen können. Hierbei sollte die Unabhängigkeit des Gremiums zentral sein.

Zu 2.

Ein weiteres Hemmnis zur Etablierung technischer Unterstützungssysteme stellt das derzeitige Anerkennungsverfahren dar. Das Verfahren ist unter Herstellern wenig bekannt, zudem ist es kompliziert und langwierig. Hierdurch ergeben sich wenige Anreize für Hersteller, Anträge auf Anerkennung einzureichen. Zudem widerspricht die Dauer der Bearbeitung der Anträge der Dynamik des Technikmarktes.

Aufgrund der sehr hohen Dynamik im Bereich der Technikentwicklung, was die Fülle und Art der Technologien betrifft (so auch in und für die Pflege), ist es vor allem bei potenziell refinanzierbaren Produkten erforderlich, eine Begrenzung vorzunehmen. Hierbei wäre unter anderem zu bestimmen, nach welcher Systematik technische Unterstützungsprodukte klassifiziert bzw. eingeteilt werden sollen (z.B. entlang der Module des neuen Begutachtungsinstruments oder nach einzelnen Lebensräumen bzw. Wohnräumen in der Häuslichkeit). Auch wäre eine Systematik zu entwickeln, nach der die klassifizierten und ausgewählten Produktgruppen, auch im Falle deren technischer Weiterentwicklung, Gegenstand des Leistungskataloges bleiben können bzw. wie diese auszutauschen sind.

Zu 3.

Grundlegend und ebenfalls noch offen ist die Frage nach der Verordnung und Bereitstellung der Technologien für die Nutzerinnen und Nutzer. Unterstützungsbedarfe im Pflegefall verändern sich. Das dürfte sich auch auf den Einsatz von technischen Assistenzlösungen auswirken. Um auf diese Veränderungen zeitnah reagieren zu können und die technischen Lösungen anzupassen, wären kontinuierliche fachlich fundierte Begutachtungen und Beratungen erforderlich. Zudem ist zu klären, wer die technischen Unterstützungssysteme verordnet, was wiederum voraussetzt, dass die anerkannten Systeme den verordnenden Akteuren/Akteursgruppen bekannt sind. Die vorhandenen Beratungsstrukturen wie auch die Infrastruktur zur Bereitstellung technischer Assistenzsysteme sind auf die dafür notwendige Leistungsfähigkeit hin zu prüfen und entsprechend der erforderlichen und sich wandelnden Bedarfe anzupassen.

Der Bund sollte mit Blick auf die zunehmende Fachkräfteproblematik und den steigenden Pflegebedarf die Potenziale technischer Unterstützungssysteme dringend nutzen und hierfür die zentralen Weichen stellen. Nicht zuletzt durch die Ergebnisse der Arbeitsgruppe 3 der Konzertierten Aktion Pflege (Innovative Versorgungsansätze und Digitalisierung) wurde dieses Potenzial unterstrichen. So wird das Ziel formuliert, digitale und technische Unterstützung für pflegebedürftige Menschen und pflegende Angehörige nutzbar zu machen. In diesem Zusammenhang ist auch die Förderung von Projekten, die den Nutzen digitaler Systeme untersuchen, zu begrüßen. Auch der Bedarf einer Anpassung des § 40 SGB XI wurde erkannt und ein Prüfauftrag an den GKV-Spitzenverband zur Weiterentwicklung der entsprechenden Nutzenkriterien vereinbart. Der Prüfauftrag sollte dringend durch den Bund nachgehalten werden und mit zielführenden Ergebnissen verbunden sein. Mit der Einrichtung eines Online-Portals für die zukünftige Abwicklung von Anträgen zur Aufnahme in das Pflegehilfsmittelverzeichnis wäre ein erster Schritt zum Abbau von Hürden bezüglich des Antragsverfahrens gemacht. Damit sich die Potenziale technischer Assistenzsysteme für die Pflege jedoch entfalten können, ist es entscheidend, dass diesen und den anderen Vereinbarungen konkrete Maßnahmen folgen und die entsprechenden finanziellen, rechtlichen und strukturellen Rahmenbedingungen geschaffen werden. Diese Maßnahmen müssen Bestandteil eines Gesamtkonzeptes sein, wenn eine Potenzialentfaltung der Digitalisierung in der Pflege gelingen soll. Mit der vorliegenden Bundesratsinitiative wird der Bundesgesetzgeber aufgefordert, die notwendigen Grundlagen dafür zu schaffen, dass technische Unterstützungssysteme den pflegebedürftigen Menschen und pflegenden Angehörigen zugutekommen.