Beschluss des Bundesrates:
Lebenslagen in Deutschland - Zweiter Armuts- und Reichtumsbericht

Der Bundesrat hat in seiner 810. Sitzung am 29. April 2005 beschlossen, zu dem Bericht wie folgt Stellung zu nehmen:

1. Der Bundesrat begrüßt, dass die Bundesregierung mit dem Zweiten Armuts - und Reichtumsbericht zahlreiche Daten zur sozialen Lage in Deutschland vorlegt und damit wichtige Grundlagen für das politische Handeln schafft. Allerdings weist der Bundesrat darauf hin, dass wie bei dem Ersten Armuts- und Reichtumsbericht aus dem Jahr 2001 erneut weder eine ungeschminkte Bestandsaufnahme stattfindet noch eine umfassende Ursachenanalyse vorgenommen wird. Infolgedessen wird auch der politische Handlungsbedarf nur unvollständig erfasst.

2. Nach Auffassung des Bundesrates sind die im Zweiten Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung aufgezeigten sozialen Entwicklungen in jeder Hinsicht alarmierend. Der Bericht zeigt insbesondere ein dramatisches Auseinanderklaffen der Schere zwischen Arm und Reich. So ist der Anteil der laut Bericht unter der Armutsgrenze lebenden Menschen von 12,l Prozent im Jahr 1998 auf 13,5 Prozent im Jahr 2003 und das Armutsrisiko von Haushalten mit Kindern von 12,6 Prozent im Jahr 1998 auf 13,9 Prozent im Jahr 2003 deutlich gestiegen.

Besonders alarmierend ist dabei die Situation der Alleinerziehenden und der Mehrkindfamilien, die sich während der Amtszeit der von SPD und BÜNDNIS 90/die GRÜNEN getragenen Bundesregierungen deutlich verschlechtert hat. Eine überproportional hohe Armutsrisikoquote besteht z.B. bei Alleinerziehenden mit 35,4 Prozent und Paaren mit drei und mehr Kindern mit 13,9 Prozent.

Zudem ist Armut in Deutschland inzwischen überwiegend jene von Kindern und Jugendlichen. So liegt die Armutsrisikoquote bei den bis 15-Jährigen bei 15,0 Prozent und bei den 16- bis 24-Jährigen bei 19,l Prozent.

3. Der Ursachenanalyse der Bundesregierung kann der Bundesrat nicht zustimmen. Nach Meinung des Bundesrates ist die Verschärfung der allgemeinen sozialen Lage in Deutschland nicht in erster Linie auf Auslandseinflüsse, auf die zahlreichen externen Schocks wie z.B. den Anschlag vom 11. September 2001 und den Irakkrieg, dem Abbrechen des IT-Booms und den Auswirkungen der US-Bilanzskandale zurückzuführen, sondern auf eine verfehlte inländische Wirtschaftspolitik. Während Deutschland sich als Wachstumsschlusslicht in Europa etabliert, haben andere Länder ihre Hausaufgaben gemacht.

4. Der Bundesrat stimmt mit dem Zweiten Armuts- und Reichtumsbericht überein, dass die Arbeitslosigkeit eine der Hauptursachen von Armut und sozialer Ausgrenzung darstellt. So entwickelte sich das Armutsrisiko von 1998 bis 2003 laut Bericht analog den gesamtwirtschaftlichen Rahmenbedingungen. Entsprechend der konjunkturellen Lage waren die Möglichkeiten zur Erzielung von Markteinkommen eingeschränkt. Langfristig sind für den Wohlstand der breiten Bevölkerung daher die Markteinkommen entscheidend - staatliche Umverteilung kann nur korrigieren und unterstützen, wirtschaftliche Schwächen aber nicht langfristig ausgleichen.

5. In der Zunahme des Armutsrisikos spiegelt sich der politische Misserfolg der Bundesregierung für die oftmals Schwächsten in der Gesellschaft deutlich wider. Zudem zeigt der Bericht, dass sich die Bundesregierung vor einer konsequenten Umsetzung ihrer eigenen Einsichten drückt, indem sie sich weiteren Reformen verweigert.

6. Der Bundesrat ist der Ansicht, dass weitere Reformschritte dringend notwendig sind. So reicht die Agenda 2010 nicht annähernd weit genug. Angesichts einer registrierten Arbeitslosenzahl von rund 5,2 Mio. im März 2005 besteht dringender Handlungsbedarf; hier muss die Bundesregierung ansetzen, sonst wird ihr Bekenntnis zur Armutsbekämpfung ein reines Lippenbekenntnis bleiben. Dabei sind u.a. die rechtliche Absicherung der betrieblichen Bündnisse für Arbeit, eine Flexibilisierung des Arbeitsrechts und eine Senkung der Lohnnebenkosten dringend anzeigt. Flankierend müssen auf Bundesebene alle wirtschaftlich und beschäftigungspolitisch relevanten Rahmenbedingungen nachhaltig verbessert und die Wachstums- und Innovativkräfte spürbar gestärkt werden. Deutschland braucht den Mut zu Reformen mit den Schwerpunkten Bürokratieabbau, Kostendämpfung und Stärkung der investiven und innovativen Kräfte.

7. Insbesondere ist der Bundesrat der Auffassung, dass nicht nur die Armutsrisiken junger Menschen, sondern auch diejenigen älterer arbeitsloser Erwerbsfähiger (55 bis 64 Jahre) explizit thematisiert werden müssten. Arbeitslosigkeit ist gerade für ältere Erwerbsfähige auf Grund der bisher unzureichenden Wiedereinstellungschancen ein hohes Risiko für sozialen Abstieg und das Abgleiten in Armut. Aus diesem Grund sind entschlossene Schritte zur Beseitigung von Beschäftigungshemmnissen für Ältere notwendig, um deren bessere Integration in den Arbeitsmarkt zu erreichen.

8. Der Bundesrat fordert die Bundesregierung auf darzulegen, welche Schritte sie plant, um 58-Jährigen Erwerbslosen einen Wiedereinstieg in das Arbeitsleben zu ermöglichen, wenn ab dem Jahr 2006 der bislang beschrittene Weg der Frühverrentung nach § 428 SGB III - richtigerweise - nicht mehr zur Verfügung steht. Der Bundesrat bezweifelt in diesem Zusammenhang, dass die seit Januar 2005 geltende Grundsicherung für Arbeitssuchende nach dem SGB II hinsichtlich ihrer Arbeitsanreizwirkungen ausreichend ist. Ein völliger Irrweg wäre es, wenn sich Überlegungen konkretisieren sollten, neue Wege für einen frühzeitigen Übergang in die Rente zu ermöglichen.

9. Der Bundesrat ist weiterhin der Auffassung, dass ohne eine deutliche Steigerung der Erwerbsquote Älterer das Armutsrisiko auch der Bestandsrentner deutlich ansteigen wird, da die Höhe der Rentenanpassungen wegen des Nachhaltigkeitsfaktors in der gesetzlichen Rentenversicherung gebremst wird. Dabei muss ein Anstieg des Rentenbeitragssatzes aus beschäftigungspolitischen Gründen verhindert werden. Denn die Unterlassung wirksamer Maßnahmen zur Steigerung der Erwerbsquote Älterer darf unter keinen Umständen zu einer Verschlechterung der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen führen.

10. Der Bundesrat stellt mit Besorgnis fest, dass die Armutsrisikoquote von Familien mit Kindern seit dem Jahr 1998 trotz eines in diesem Zeitraum deutlich erhöhten Mittelaufwandes der Bundesregierung erneut angestiegen ist. Auch die Situation von Alleinerziehenden hat sich seit 1998 nicht verbessert. Der Bundesrat wiederholt seine Auffassung, dass eine wesentliche Ursache für diesen negativen Befund darin besteht, dass einzelne Gruppen in einer "Sozialleistungsfalle" stecken, was deren Integration in den Arbeitsmarkt entscheidend erschwert (vgl. BR-Drs. 456/04(Beschluss) PDF , Ziffer 17).

11. Zudem erfüllt der von der Bundesregierung im Zuge von Hartz IV eingeführte, als familienpolitische Errungenschaft gefeierte Kinderzuschlag seine Funktion nur unzureichend. So muss bezweifelt werden, dass der Kinderzuschlag in Anbetracht der vielfältigen Anrechnungserfordernisse zu einer relevanten Entlastung von Familien im unteren Einkommensbereich und damit tatsächlich zu einer Verringerung der Kinderarmut führt.

12. Der Bundesrat teilt die Einschätzung der Bundesregierung, dass die Umstrukturierung des Gesundheitssystems noch nicht abgeschlossen ist. Noch immer ist das bestehende Gesundheitssystem nämlich durch starke Fehlanreize und Undurchsichtigkeit gekennzeichnet. Dadurch kommt es zu einer ineffizient hohen Nachfrage nach Gesundheitsleistungen und damit verbunden zu einer entsprechenden Angebotsausweitung. Er spricht sich aber entschieden gegen die von der Bundesregierung präferierte Option einer Bürgerversicherung aus, da sie die Fehlanreize und damit die Ausgabendynamik im Gesundheitssystem nicht beheben würde. Entscheidende Ansatzpunkte für die Gesundheitspolitik müssen darin gesehen werden, wie weitere Anreize für kostensparendes Verhalten der Nachfrager von Gesundheitsdienstleistungen gesetzt werden können und wie auf der Anbieterseite Kostenersparnisse und Innovationen mobilisiert werden können.

13. Der Bundesrat tritt entschieden der Auffassung der Bundesregierung entgegen, eine weitreichende Reform der sozialen Pflegeversicherung könne zeitlich noch bis zum Ende einer ausführlichen Debatte über Umfang und Qualität der Pflegeleistungen aufgeschoben werden. In der sozialen Pflegeversicherung gibt es vielmehr akuten Handlungsbedarf, denn die finanziellen Rücklagen sind spätestens bis zum Jahr 2007 aufgebraucht. Auch hier ist ein rascher Umstieg hin zu einem kapitalgedeckten System unausweichlich, will man die schon heute erkennbare erhebliche Zunahme pflegebedürftiger Menschen in der Zukunft meistern und damit potenzielle Armutsrisiken vermindern. Die bisherigen Maßnahmen der Bundesregierung, die eine finanzielle Belastung Kinderloser vorsehen, sind hierzu völlig unzureichend.

14. Der Bundesrat stimmt mit der Ansicht überein, dass die Förderung von Bildung und Ausbildung ein wesentliches Mittel zur Vermeidung von Armut und sozialer Ausgrenzung ist.

15. Der Bundesrat weist aber darauf hin, dass die Entscheidungen über Maßnahmen im Bildungsbereich der Verantwortung der Länder obliegen, da die Bildungshoheit das Kernstück der Eigenstaatlichkeit der Länder darstellt (s. BVerfGE 6, 309). Dem Bund stehen allein im Bereich der außerschulischen beruflichen Bildung Kompetenzen zu. Die dem Bund im Rahmen der Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung zustehenden Kompetenzen für eine gemeinsame Bildungsplanung beziehen sich nicht auf die Umsetzung der dort erarbeiteten Ergebnisse. Die Bundesregierung kann weder über die nach dem Grundgesetz dem Bund zustehenden Kompetenzen hinaus die Empfehlungen des FORUM Bildung umsetzen, noch in diesem Rahmen eine umfassende Unterrichtsreform vornehmen, da die gemeinsame Bildungsplanung die Länder nicht von ihrer umfassenden Verantwortung für die Gestaltung der Bildung entbindet.

16. Der Bundesrat stellt fest, dass das Investitionsprogramm der Bundesregierung "Zukunft Bildung und Betreuung" kein wichtiger Schritt auf dem Weg zu einer von der Bundesregierung behaupteten gemeinsamen Bildungsreform sein kann. Zum einen stellt das Investitionsprogramm "Zukunft Bildung und Betreuung" allein Mittel für Investitionen in Baumaßnahmen zur Verfügung. Eine gemeinsame Bildungsreform von Bund und Ländern widerspräche zum anderen grundlegend der Kompetenzordnung des Grundgesetzes.

17. Abschließend weist der Bundesrat darauf hin, dass die Bundesregierung zukünftig nicht nur schreiben sollte, dass das Prinzip des Gender-Mainstreaming beachtet wurde, sondern darauf achten sollte, dass dieses Prinzip auch tatsächlich in allen Bereichen des Armuts- und Reichtumsberichts Anwendung findet, d.h. auch in Themenbereichen wie z.B. Kinderlosigkeit, Erwerbstätigkeit von Eltern, Jugendarbeitslosigkeit und schulische Ausbildung zum Ausdruck gebracht wird.