Unterrichtung durch die Europäische Kommission
Vorschlag für eine Verordnung des Rates über die Ausübung des Rechts auf Durchführung kollektiver Maßnahmen im Kontext der Niederlassungs- und der Dienstleistungsfreiheit COM (2012) 130 final

Der Bundesrat wird über die Vorlage gemäß § 2 EUZBLG auch durch die Bundesregierung unterrichtet.

Das Europäische Parlament wird an den Beratungen beteiligt.

Hinweis: vgl.
Drucksache 547/91 = AE-Nr. 912243,
Drucksache 647/93 = AE-Nr. 932546,
Drucksache 663/10 (PDF) = AE-Nr. 100827,
Drucksache 698/10 (PDF) = AE-Nr. 100870 und
Drucksache 232/11 (PDF) = AE-Nr. 110287

Brüssel, den 21.3.2012 COM (2012) 130 final 2012/0064 (APP)

Vorschlag für Verordnung des Rates über die Ausübung des Rechts auf Durchführung kollektiver Maßnahmen im Kontext der Niederlassungs- und der Dienstleistungsfreiheit (Text von Bedeutung für den EWR)

{SWD(2012) 63}
{SWD(2012) 64}

1. Begründung

Allgemeiner Kontext

In seinen Urteilen in den Rechtssachen Viking-Line1 und Laval2 anerkannte der Gerichtshof erstmals, dass das Recht auf Durchführung einer kollektiven Maßnahmen, einschließlich des Streikrechts, als Grundrecht fester Bestandteil der allgemeinen Grundsätze des EU-Rechts ist, deren Beachtung der Gerichtshof sicherstellt3. Er hielt zudem ausdrücklich Folgendes fest: Da die Europäische Union nicht nur eine wirtschaftliche, sondern auch eine soziale Zielrichtung hat, müssen die sich aus den Bestimmungen des Vertrags über den freien Waren-, Personen-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehr ergebenden Rechte gegen die mit der Sozialpolitik verfolgten Ziele abgewogen werden, zu denen die Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen, ein angemessener sozialer Schutz und der soziale Dialog zählen4. Des Weiteren räumte er ein, dass das Recht auf Durchführung einer kollektiven Maßnahme, die den Schutz der Arbeitnehmer zum Ziel hat, ein berechtigtes Interesse darstellt, das grundsätzlich Beschränkungen der durch den Vertrag gewährleisteten Grundfreiheiten rechtfertigen kann. Der Schutz der Arbeitnehmer zählt somit zu den bereits vom Gerichtshof anerkannten zwingenden Gründen des Allgemeininteresses5.

Trotz dieser Klarstellung lösten die Gerichtsurteile eine umfassende, intensive Debatte aus über ihre Auswirkungen auf den Schutz der Rechte entsandter Arbeitnehmer und generell über die Frage, inwieweit die Gewerkschaften weiterhin die Rechte der Arbeitnehmer in grenzüberschreitenden Situationen schützen können. Insbesondere entfachten sie eine kontroverse Diskussion darüber, ob die bestehenden EU-Bestimmungen angemessen sind, um die Arbeitnehmerrechte im Kontext der Dienstleistungs- und der Niederlassungsfreiheit zu schützen6.

An der Debatte beteiligte sich ein breites Spektrum von Stakeholdern, u.a. Sozialpartner, Politiker, Rechtswissenschaftler und Vertreter anderer Rechtsberufe. Während einige Diskussionsteilnehmer die durch die EuGH-Rechtsprechung herbeigeführte Klarstellung der Binnenmarktregeln begrüßten, vertraten viele die Meinung, in den Urteilen werde ein Vorrang der wirtschaftlichen Freiheiten gegenüber der Ausübung der Grundrechte anerkannt; damit werde die Gefahr eines "Sozialdumpings" und unlauteren Wettbewerbs heraufbeschworen, ja geradezu herausgefordert. Ein besonderer Kritikpunkt war der, dass der Gerichtshof zwar anerkannte, dass das Recht auf Durchführung einer kollektiven Maßnahme, einschließlich des Streikrechts, ein Grundrecht ist, das fester Bestandteil der allgemeinen Grundsätze des EU-Rechts ist, er jedoch ausdrücklich festhielt, dass jedoch "seine Ausübung bestimmten Beschränkungen unterworfen werden [kann]"7. Dadurch würde vor allem die Möglichkeit der Gewerkschaften beeinträchtigt, Maßnahmen zum Schutz der Arbeitnehmerrechte durchzuführen.

Laut Professor Monti8 offenbarten die Gerichtsurteile von 2007 und 20089 die Verwerfungslinien, die zwischen dem Binnenmarkt und der auf der nationalen Ebene verwirklichten sozialen Dimension verlaufen. Sie rissen "eine alte, nie verheilte Wunde auf: die Spaltung zwischen den Befürwortern eines stärker integrierten Markts und jenen, die befürchten, dass der Ruf nach wirtschaftlichen Freiheiten und dem Niederreißen aufsichtsrechtlicher Barrieren ein Codewort für den Abbau auf nationaler Ebene geschützter sozialer Rechte ist". Und Professor Monti weiter:

"Durch die Neubelebung dieser Spaltung könnte sich ein Teil der öffentlichen Meinung - die Arbeiterbewegung und die Gewerkschaften, die lange Zeit wichtige Befürworter der wirtschaftlichen Integration waren - vom Binnenmarkt entfremden."

Der Vertrag von Lissabon

Gemäß Artikel 3 Absatz 3 des Vertrags über die Europäische Union errichtet die Union einen Binnenmarkt und wirkt auf eine in hohem Maße wettbewerbsfähige soziale Marktwirtschaft hin, die auf Vollbeschäftigung und sozialen Fortschritt abzielt. Bei der Festlegung und Durchführung ihrer Politik und ihrer Maßnahmen trägt die Europäische Union den Erfordernissen im Zusammenhang mit der Förderung eines hohen Beschäftigungsniveaus, mit der Gewährleistung eines angemessenen sozialen Schutzes und mit der Bekämpfung der sozialen Ausgrenzung Rechnung10. Darüber hinaus ist mit dem Vertrag von Lissabon die Anerkennung der Grundrechte im Primärrecht dadurch gestärkt worden, dass die Charta der Grundrechte der Europäischen Union und der Vertrag nun rechtlich gleichrangig sind11.

Die soziale Dimension ist ein zentrales Element des Binnenmarkts, der ohne eine ausgeprägte soziale Dimension und ohne Rückhalt bei den Bürgerinnen und Bürgern nicht ordnungsgemäß funktionieren kann12.

Der Gerichtshof hat ebenfalls festgestellt, dass die Union nicht nur eine wirtschaftliche, sondern auch eine soziale Zielrichtung hat. Daher sind die sich aus den Bestimmungen des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) über den freien Waren-, Personen-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehr ergebenden Rechte in Einklang mit den mit der Sozialpolitik verfolgten Ziele auszuüben, zu denen, wie aus Artikel 151 Absatz 1 AEUV hervorgeht, u.a. die Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen, ein angemessener sozialer Schutz und der soziale Dialog zählen.

Darüber hinaus ist die Union nach Artikel 152 AEUV bestrebt, die Rolle der Sozialpartner auf EU-Ebene anzuerkennen, zu fördern und zu stärken sowie den Dialog zwischen ihnen zu fördern, wobei sie die Unterschiedlichkeit der nationalen Systeme berücksichtigt und die Autonomie der Sozialpartner achtet.

In seiner Feierlichen Erklärung zu den Rechten der Arbeitnehmer, zur Sozialpolitik und zu anderen Angelegenheiten vom 18./19. Juni 2009 bekräftige der Europäische Rat, dass die Verträge in der durch den Vertrag von Lissabon geänderten Fassung vorsehen, dass die Europäische Union die Rolle der Sozialpartner auf Ebene der Europäischen Union anerkennt und fördert.

Das Recht auf Kollektivverhandlungen - das Recht auf Durchführung kollektiver Maßnahmen - das Streikrecht oder die Streikfreiheit

Auch wenn die relevanten Instrumente nicht immer ausdrücklich auf das Streikrecht oder die Streikfreiheit verweisen, so wird das Recht auf Durchführung von Kollektivmaßnahmen, das sich vom Recht auf Kollektivverhandlungen ableitet, durch verschiedene internationale Instrumente anerkannt, die von den Mitgliedstaaten unterzeichnet wurden bzw. an denen sie mitgewirkt haben13. Niedergelegt ist dieses Recht in von diesen Mitgliedstaaten auf EU-Ebene erarbeiteten Instrumenten14 und in der am 7. Dezember 2000 in Nizza verkündeten Charta der Grundrechte der Europäischen Union15, in der am 12. Dezember 2007 in Straßburg angenommenen Fassung16. In verschiedenen Mitgliedstaaten genießt es überdies den Schutz der Verfassung.

In diesem Kontext hält Artikel 28 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union17 das Recht auf Kollektivverhandlungen fest, das bei Interessenkonflikten das Recht beinhaltet, zur Verteidigung dieser Interessen kollektive Maßnahmen, einschließlich Streiks, zu ergreifen.

Laut dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte stellt das Recht auf Eintritt in Kollektivverhandlungen bzw. Abschluss von Kollektivverträgen ein inhärentes Element des Vereinigungsrechts dar, d.h. des in Artikel 11 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten garantierten Rechts der Arbeitnehmer, zum Schutz ihrer Interessen Gewerkschaften zu bilden und diesen beizutreten18.

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte19 anerkannte ebenfalls, dass im Bereich der gewerkschaftlichen Freiheit wegen der Sensibilität der sozialen und politischen Fragen, die bei einem angemessenen Ausgleich der widerstreitenden Interessen zu beantworten sind, und angesichts der starken Abweichungen zwischen den nationalen Systemen in diesem Bereich, die Vertragsstaaten bei der Frage, wie die Freiheit der Gewerkschaften, die beruflichen Interessen ihrer Mitglieder zu schützen, gewährleistet werden kann, einen weiten Beurteilungsspielraum haben. Er hielt jedoch fest, dass dieser Spielraum nicht unbegrenzt ist, sondern Hand in Hand mit der europäischen Kontrolle des EGMR geht, dessen Aufgabe es ist, endgültig zu entscheiden, ob eine Einschränkung mit der durch Artikel 11 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten garantierten Vereinigungsfreiheit vereinbar ist.

Gleichwohl hat, wie vom Gerichtshof und vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte anerkannt,20 das Streikrecht keinen absoluten Charakter und kann seine Ausübung bestimmten Beschränkungen unterworfen sein, die sich auch aus den nationalen verfassungsrechtlichen Bestimmungen, Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten ergeben können. Wie in Artikel 28 der Charta bekräftigt, muss es nach dem Recht der Europäischen Union sowie nach den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten wahrgenommen werden.

Somit kommt den Gewerkschaften in diesem Zusammenhang eine wichtige Rolle zu und sie sollten, wie vom Gerichtshof bestätigt, weiterhin in der Lage sein, Maßnahmen zum Schutz der Arbeitnehmerrechte zu ergreifen, u.a. die Möglichkeit, ihre Mitglieder zum Streik aufzurufen und Boykotts oder Blockaden zu organisieren, um die Interessen und Rechte der Arbeitnehmer zu schützen und den Schutz von Arbeitsplätzen oder Arbeitsbedingungen zu gewährleisten, vorausgesetzt diese Maßnahmen erfolgen in Einklang mit dem EU-Recht und den nationalen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten.

Wirtschaftliche Freiheiten - Beschränkungen - Schutz der Arbeitnehmerrechte

Die Niederlassungsfreiheit und die Dienstleistungsfreiheit gehören zu den Grundprinzipien des EU-Rechts. Eine Beschränkung dieser Freiheiten ist entsprechend der Rechtsprechung des Gerichtshofs nur zulässig, wenn mit ihr ein berechtigtes und mit dem Vertrag zu vereinbarendes Ziel verfolgt wird und wenn sie durch zwingende Gründe des Allgemeininteresses gerechtfertigt ist. In diesem Fall muss sie zur Verwirklichung des mit ihr verfolgten Ziels geeignet sein und darf nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung dieses Ziels erforderlich ist.

Der Schutz der Arbeitnehmer, insbesondere ihr sozialer Schutz und der Schutz ihrer Rechte, sowie das Bemühen, Störungen auf dem Arbeitsmarkt zu verhindern, stellen anerkanntermaßen zwingende Gründe des Allgemeininteresses dar, die Beschränkungen der durch das EU-Recht gewährleisteten Grundfreiheiten rechtfertigen.

Des Weiteren hat der Gerichtshof anerkannt, dass die Mitgliedstaaten über einen Ermessensspielraum verfügen, wenn es darum geht, Hindernisse für den freien Verkehr abzuwenden, die sich aus dem Vorgehen privater Akteure ergeben.

Zusammenfassend ist festzuhalten, dass wirtschaftliche Freiheiten und Grundrechte sowie deren effektive Ausübung somit Beschränkungen und Begrenzungen unterliegen können.

2. Ergebnisse der Anhörungen interessierter Kreise der Folgenabschätzungen

2.1. Anhörung interessierter Kreise

Wie bereits erwähnt, haben die Gerichtsurteile in den Rechtssachen Viking-Line, Laval, Rüffert und Kommission/Luxemburg (2007/2008) zu einer intensiven Debatte geführt, die im Wesentlichen die Frage betraf, wie sich die Dienstleistungs- und die Niederlassungsfreiheit auf den Schutz der Arbeitnehmerrechte und die Rolle der Gewerkschaften beim Schutz der Arbeitnehmerrechte in grenzüberschreitenden Fällen auswirken.

Die europäischen Gewerkschaften halten diese Urteile für unsozial. Sie streben eine Änderung der Rechtsvorschriften an, um die Rechtslage zu klären und in Zukunft Urteile zu verhindern, die ihrer Ansicht nach den Arbeitnehmerinteressen zuwiderlaufen. In diesem Kontext haben sie zwei Hauptforderungen gestellt:

Andere Stakeholder vertreten einen anderen Standpunkt. BusinessEurope hat die Klarstellung durch die EuGH-Rechtsprechung begrüßt und hält eine Überarbeitung der Richtlinie nicht für erforderlich. Zahlreiche Mitgliedstaaten haben sich ebenfalls in diesem Sinne geäußert. Einige Mitgliedstaaten (SE, DE , LU und DK) haben ihre Rechtsvorschriften geändert, um sie mit den Urteilen in Einklang zu bringen.

Im Oktober 2008 nahm das Europäische Parlament eine Entschließung21 an, in der es alle Mitgliedstaaten zur ordnungsgemäßen Durchsetzung der Entsenderichtlinie aufforderte und sich dafür aussprach, dass die Kommission nach einer sorgfältigen Analyse der Probleme und Herausforderungen eine teilweise Überarbeitung der Entsenderichtlinie nicht ausschließen sollte. Gleichzeitig unterstrich es, "dass die Dienstleistungsfreiheit ein Grundpfeiler des europäischen Einigungswerkes ist"; es vertrat jedoch die Ansicht, "dass dies einerseits gegen die in den Verträgen dargelegten Grundrechte und sozialen Ziele und andererseits gegen das Recht der öffentlichen und sozialen Partner, Nichtdiskriminierung, Gleichbehandlung und Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen sicherzustellen, abgewogen werden sollte"22. Am 2. Juni 2010 organisierte der Ausschuss für Beschäftigung und soziale Angelegenheiten eine Konsultation mit drei Experten, die die Kommission, den EGB und BE vertraten; Abgeordnete von S&D, den Linken und den Grünen übten Druck auf die Kommission aus und argumentierten dabei ähnlich wie der EGB.

Im Nachgang der Aufforderung, die Kommissar Spidla und Minister Bertrand in seiner Funktion als Ratspräsident im Rahmen des Forums vom Oktober 2008 an die europäischen Sozialpartner gerichtet hatten, einigten sich diese darauf, gemeinsam die Auswirkungen der EuGH-Urteile in den Bereichen Mobilität und Globalisierung zu analysieren. Im März 1023 legten die europäischen Sozialpartner einen Bericht über die Folgen der einschlägigen EuGH-Urteile vor. In dem Dokument spiegeln sich die großen Meinungsunterschiede zwischen den Sozialpartnern wider. Während BusinessEurope gegen eine Überarbeitung der Richtlinie ist (jedoch den Klärungsbedarf bestimmter Aspekte der Durchsetzung akzeptiert), möchte der EGB eine grundlegende Änderung.

Im Jahr 2010 nahm der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss eine Stellungnahme zur "sozialen Dimension des Binnenmarktes"24 an, in der er eine wirksamere Durchführung der Richtlinie 96/71/EG forderte und zum Ausdruck brachte, dass er eine Initiative der Kommission - einschließlich einer teilweisen Überarbeitung der Richtlinie - zur Klärung der rechtlichen Verpflichtungen der nationalen Behörden, der Unternehmen und der Arbeitnehmer befürwortet. In der Stellungnahme wird die Kommission zudem ermutigt, das Streikrecht vom Binnenmarkt auszunehmen und der Idee einer Art "Europäischer Interpol für den Sozialbereich" zur Unterstützung der Arbeitsaufsichten in den Mitgliedstaaten nachzugehen.

Angesichts der durch die EuGH-Urteile entfachten Auseinandersetzung sprach Professor Monti in seinem Bericht "Eine neue Strategie für den Binnenmarkt" folgende Empfehlungen aus:

Die öffentliche Anhörung stieß bei Gewerkschaften, Bürgern und NRO auf großes Interesse und zeigte, dass diese entsprechende Maßnahmen unterstützen.

Aus 740 (der mehr als 800) eingegangenen Antworten ging hervor, dass Vorschlag 29 über die wirksame Umsetzung der Charta der Grundrechte und die soziale Folgenabschätzung als eine der wichtigsten Fragen angesehen wird.

Die europäischen Sozialpartner blieben in der Anhörung bei ihren bereits bekannten Standpunkten. Der EGB forderte erneut ein "Protokoll über den sozialen Fortschritt" zur Änderung des Vertrags und vertrat weiterhin die Auffassung, die Kommission solle nicht nur die Durchführung der Entsenderichtlinie klären und verbessern, sondern die Richtlinie auch gründlich überarbeiten. BusinessEurope sprach sich für den Ansatz der Kommission aus, also für eine bessere Durchführung und Durchsetzung der geltenden Richtlinie.

Neben einem "Protokoll über den sozialen Fortschritt" wurde der Gedanke einer sogenannten Monti-II-Verordnung vom EGB als positiver Schritt in die richtige Richtung begrüßt (und auch in mehreren Antworten nationaler Gewerkschaften ausdrücklich erwähnt). BusinessEurope hat dazu nicht klar Stellung bezogen; allerdings scheint man den Mehrwert einer solchen Verordnung zu bezweifeln, was sich aus der eindeutig geäußerten Meinung ergibt, sie solle den Ausschluss des Streikrechts aus der Zuständigkeit der EU nicht in Frage stellen.

Im Anschluss an die umfassende öffentliche Debatte und auf der Grundlage der einschlägigen Beiträge nahm die Kommission am 13. April 2011 die Mitteilung "Binnenmarktakte - Zwölf Hebel zur Förderung von Wachstum und Vertrauen"26 an. Legislativinitiativen betreffend die Entsendung von Arbeitnehmern finden sich in den 12 Leitaktionen des Kapitels zum sozialen Zusammenhalt:

"Erlass einer Rechtsvorschrift zur Verbesserung und Verstärkung der Umsetzung, Anwendung und praktischen Einhaltung der "Entsenderichtlinie", die Maßnahmen zur Prävention und Sanktionierung von Missbrauch und Umgehung geltender Vorschriften enthält, sowie einer Rechtsvorschrift, mit der die Wahrnehmung der Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit im Verhältnis zu den sozialen Rechten geklärt werden soll."

Nach der Verabschiedung der Binnenmarktakte nahm das Europäische Parlament am 6. April 2011 drei Entschließungen27 an. Im Gegensatz zu der allgemeineren Frage der Mobilität (und der Übertragbarkeit von Rentenansprüchen) gehörte die Entsendung der Arbeitnehmer nicht zu den darin genannten Prioritäten.

Dagegen gehören die Entsendung der Arbeitnehmer und die wirtschaftlichen Freiheiten zu den Prioritäten des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses28.

In seinen Schlussfolgerungen zu den Prioritäten für die Neubelebung des Binnenmarkts hielt der Rat Folgendes fest:

"14. IST der Auffassung, dass die ordnungsgemäße Um- und Durchsetzung der Entsenderichtlinie den Schutz der Rechte der entsandten Arbeitnehmer verbessern, mehr Klarheit über die Rechte und Pflichten der Dienstleistungserbringer sowie der einzelstaatlichen Behörden schaffen und zudem dazu beitragen kann, die Umgehung geltender Vorschriften zu verhindern; IST darüber hinaus der Auffassung, dass das Verhältnis zwischen der Wahrnehmung der Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit einerseits und den sozialen Grundrechten andererseits geklärt werden sollte"29.

Anlässlich der Konferenz über die sozialen Grundrechte und die Entsendung von Mitarbeitern (27. -28. Juni 2011) kamen Minister, Sozialpartner, Vertreter der EU-Institutionen und Wissenschaftler zusammen, um sich über die Regelungsoptionen und den möglichen Inhalt von Legislativinitiativen auszutauschen und dazu beizutragen, gangbare Lösungen zu ermitteln30. Zweck der Konferenz war es, durch eine offene und konstruktive Debatte zu einer Annäherung der Sichtweisen zu gelangen und die Ergebnisse der jüngsten Studien vorzustellen.

Darüber hinaus wurde in der Krakauer Erklärung31 bekräftigt, dass die grenzüberschreitende Erbringung von Dienstleistungen und die Mobilität entsandter Arbeitskräfte wichtige Aspekte des Binnenmarkts sind. Die Erleichterung der befristeten grenzüberschreitenden Erbringung von Dienstleistungen sollte mit der Gewährleistung eines angemessenen Schutzes für diejenigen Arbeitnehmer einhergehen, die in einen anderen Mitgliedstaat entsandt werden, um diese Dienstleistungen zu erbringen.

2.2 Folgenabschätzung

Im Rahmen ihrer Politik für bessere Rechtsetzung hat die Kommission auf der Grundlage einer externen Studie32 eine Folgenabschätzung zu den verschiedenen Handlungsalternativen vorgenommen.

Die ermittelten Problempunkte sind in vier Rubriken gegliedert, wobei Problem 4 ("Spannungsverhältnis zwischen Dienstleistungsfreiheit/Niederlassungsfreiheit und Arbeitsbeziehungen auf nationaler Ebene") für den vorliegenden Vorschlag unmittelbar von Belang ist. Die EuGH-Urteile zur Auslegung der Bestimmungen der Richtlinie und des Vertrags in den Rechtssachen Viking und Laval verwiesen auf das Spannungsverhältnis zwischen Dienstleistungsfreiheit und Niederlassungsfreiheit einerseits und der Ausübung der Grundrechte, wie des Rechts auf Kollektivverhandlungen und des Rechts auf Arbeitskampfmaßnahmen, andererseits. Insbesondere wurden die Urteile von den Gewerkschaften dahingehend aufgefasst, dass sie eine Prüfung der Arbeitskampfmaßnahmen durch die EU oder die nationalen Gerichte auferlegen, wenn diese Maßnahmen die Ausübung der Dienstleistungs- oder der Niederlassungsfreiheit berühren oder ihr abträglich sind. Diese Sichtweise hat in jüngster Zeit negative Auswirkungen gehabt, wie einige transnationale arbeitsrechtliche Streitigkeiten gezeigt haben. Die Tragweite des Problems ist im Bericht des IAO-Sachverständigenausschusses für die Durchführung der Übereinkommen und Empfehlungen(2010) zum Ausdruck gekommen, der erhebliche Bedenken bezüglich der praktischen Einschränkungen der effektiven Ausübung des Streikrechts durch die EuGH-Urteile äußerte. Das Streikrecht ist im IAO-Übereinkommen Nr. 87 verankert, das von allen EU-Mitgliedstaaten unterzeichnet wurde.

Die politischen Optionen für den Umgang mit den ursächlichen Faktoren des Problems sehen ein Basisszenario (Option 5), einen nichtgesetzgeberischen Eingriff (Option 6) und einen gesetzgeberischen Eingriff auf EU-Ebene (Option 7) vor.

Die Optionen 6 und 7 wurden in Bezug auf das Basisszenario dahingehend analysiert, ob sie es erlauben, den ursächlichen Faktoren, die dem Problem 4 zugrunde liegen, zu begegnen und die allgemeinen Zielsetzungen zu erreichen, nämlich nachhaltige Entwicklung des Binnenmarkts auf der Grundlage einer in hohem Maße wettbewerbsfähigen sozialen Marktwirtschaft, Dienstleistungsfreiheit und Förderung gleicher Ausgangsbedingungen, Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen und Wahrung der unterschiedlichen Systeme der Arbeitsbeziehungen in den Mitgliedstaaten sowie Förderung des sozialen Dialogs. Doch auch speziellere (und damit zusammenhängende operationelle) Ziele wurden berücksichtigt, vor allem eine größere Rechtssicherheit im Hinblick auf den Ausgleich zwischen sozialen Rechten und wirtschaftlichen Freiheiten, insbesondere im Rahmen der Entsendung von Arbeitnehmern. Auf der Grundlage der Strategie zur wirksamen Umsetzung der Charta der Grundrechte durch die Europäische Union wurde im Rahmen der Folgenabschätzung ermittelt, auf welche Grundrechte der betreffende Vorschlag Auswirkungen haben könnte, inwieweit in das betreffende Recht eingegriffen wird und inwieweit dieser Eingriff im Hinblick auf die Handlungsmöglichkeiten und die angestrebten Ziele erforderlich und verhältnismäßig ist33.

Die Folgenabschätzung ergab negative wirtschaftliche und soziale Auswirkungen des Basisszenarios. Eine anhaltende Rechtsunsicherheit könnte dazu führen, dass ein wichtiger Teil der Stakeholder dem Binnenmarkt seine Unterstützung versagt und ein ungünstiges wirtschaftliches Umfeld mit dem Risiko von protektionistischem Verhalten entsteht. Das Risiko von Schadenersatzforderungen und Zweifel an der Rolle der nationalen Gerichte könnten die Gewerkschaften davon abhalten, ihr Streikrecht wahrzunehmen. Dies würde sich negativ auf den Schutz der Arbeitnehmerrechte und Artikel 28 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union auswirken. Die Optionen 6 und 7 hätten positive wirtschaftliche und soziale Auswirkungen, da sie den Umfang der Rechtsunsicherheit reduzieren würden. Die positive Auswirkung von Option 7 wäre signifikanter, da eine Legislativmaßnahme (Verordnung) mehr Rechtssicherheit bietet als eine nicht verbindliche Regelung (Option 6). Eine weitere positive Auswirkung würde mit einem Warnmechanismus erzielt. Zudem würde eine Legislativmaßnahme einen entschlosseneren politischen Ansatz der Kommission zum Ausdruck bringen, um einem Problem zu begegnen, das den Gewerkschaften und Teilen des Europäischen Parlaments sehr am Herzen liegt.

Um bei den ursächlichen Faktoren anzusetzen, die dem Problem 4 zugrunde liegen, ist Option 7 die zu bevorzugende Option. Sie wird als die effektivste und effizienteste Lösung erachtet, um das spezifische Ziel "Verringerung von Spannungen zwischen den nationalen Systemen der Arbeitsbeziehungen und der Dienstleistungsfreiheit" zu erreichen, und lässt sich auch am besten mit den allgemeinen Zielsetzungen vereinbaren. Diese Option bildet somit die Grundlage des vorliegenden Vorschlags.

Der Entwurf der Folgenabschätzung wurde zweimal vom Ausschuss für Folgenabschätzung geprüft, dessen Verbesserungsempfehlungen in den endgültigen Bericht aufgenommen wurden. Die Stellungnahme des Ausschusses für Folgenabschätzung sowie die endgültige Folgenabschätzung sowie deren Zusammenfassung werden zusammen mit diesem Vorschlag veröffentlicht.

3. Rechtliche Aspekte

3.1. Allgemeiner Kontext - Zusammenfassung der vorgeschlagenen Maßnahme

Die bereits erwähnten Rechtssachen offenbarten die Verwerfungslinien, die zwischen dem Binnenmarkt und der sozialen Dimension in zweierlei Hinsicht verlaufen. Erstens verdeutlichten sie, dass die richtige Balance zu finden ist zwischen der Ausübung des Rechts auf Durchführung einer kollektiven Maßnahme durch die Gewerkschaften, einschließlich des Streikrechts, und den im Vertrag verankerten wirtschaftlichen Freiheiten, nämlich der Niederlassungs- und der Dienstleistungsfreiheit. Zweitens warfen sie die Frage auf, ob die Entsenderichtlinie angesichts der unterschiedlichen sozial- und arbeitsrechtlichen Bedingungen in den Mitgliedstaaten noch eine angemessene Grundlage für den Schutz der Arbeitnehmerrechte darstellt. Vor allem ihre Anwendung und Durchsetzung in der Praxis wurden in Frage gestellt.

Wie im erwähnten Bericht von Professor Monti festgehalten, sind die beiden Aspekte eng miteinander verknüpft, erfordern jedoch unterschiedliche Strategien zur Herstellung eines Gleichgewichts zwischen Binnenmarkt und sozialen Erfordernissen. Wie in der Strategie zur wirksamen Umsetzung der Charta der Grundrechte durch die Europäische Union34 hervorgehoben, müssen Personen, die sich in einer Situation mit Bezug zum EU-Recht befinden, die in der Charta festgeschriebenen Rechte in Anspruch nehmen können. Eine Klärung dieser Fragen sollte nicht künftigen Rechtsstreitigkeiten vor dem EuGH oder nationalen Gerichten überlassen bleiben35. Auch sollte das Streikrecht oder die Streikfreiheit kein bloßer Slogan und keine Rechtsmetapher sein.

Daher ist der vorliegende Vorschlag Teil eines Pakets. Zusammen mit dem Vorschlag für eine Durchsetzungsrichtlinie stellt er eine gezielte Maßnahme dar, um das Verhältnis zwischen der Ausübung der sozialen Rechte und der im Vertrag niedergelegten Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit zu klären, und zwar in Einklang mit einem der Kernziele des Vertrags, nämlich einer "in hohem Maße wettbewerbsfähigen sozialen Marktwirtschaft", und ohne die Rechtsprechung des Gerichtshofs umzustoßen.

Mit dem vorliegenden Vorschlag wird eine Klärung der allgemeinen Grundsätze und auf EU-Ebene geltenden Bestimmungen betreffend die Wahrnehmung des Grundrechts auf Durchführung einer kollektiven Maßnahmen im Kontext der Dienstleistungs- und der Niederlassungsfreiheit angestrebt, wobei dem Erfordernis, die Rechte und Freiheiten in der Praxis in grenzüberschreitenden Situationen miteinander zu vereinbaren, Rechnung getragen wird. In seinen Anwendungsbereich fällt nicht nur die vorübergehende Entsendung von Arbeitnehmern zur Erbringung von Dienstleistungen in einem anderen Mitgliedstaat, sondern auch jede geplante Umstrukturierung und/oder Standortverlagerung, die mehr als einen Mitgliedstaat betrifft.

3.2. Rechtsgrundlage

Rechtsgrundlage der vorgeschlagenen Maßnahme ist Artikel 352 AEUV, der immer dann als Rechtsgrundlage in Frage kommt, wenn ein Tätigwerden der Union im Rahmen der in den Verträgen festgelegten Politikbereiche erforderlich erscheint, um eines der Ziele der Verträge zu verwirklichen, und in den Verträgen die hierfür erforderlichen Befugnisse nicht vorgesehen sind.

Eine Verordnung ist als Rechtsinstrument am besten geeignet, um Klarheit in Bezug auf die allgemeinen Grundsätze und der auf EU-Ebene geltenden Bestimmungen herzustellen, damit die Ausübung der Grundrechte mit den wirtschaftlichen Freiheiten in grenzüberschreitenden Situationen miteinander in Einklang gebracht werden können. Aufgrund ihrer unmittelbaren Anwendbarkeit verringert eine Verordnung die Komplexität der Regulierung und erhöht die Rechtssicherheit für alle, die unionsweit den betreffenden Rechtsvorschriften unterliegen, indem die anwendbaren Bestimmungen auf einheitlichere Weise verdeutlicht werden. Klare und einfache rechtliche Rahmenbedingungen sind für KMU besonders wichtig. Dies lässt sich nicht im Wege einer Richtlinie erreichen, die ihrem Wesen nach nur hinsichtlich des zu erreichenden Ziels verbindlich ist, den nationalen Behörden jedoch die Wahl der Form und der Mittel überlässt.

3.3. Subsidiaritätsprinzip und Grundsatz der Verhältnismäßigkeit

Da der Vertrag nicht ausdrücklich die erforderlichen Befugnisse vorsieht, basiert die vorliegende Verordnung auf Artikel 352 AEUV.

Artikel 153 Absatz 5 AEUV nimmt das Streikrecht von den Bereichen aus, die in der EU durch Richtlinien, die Mindestvorschriften vorsehen, geregelt werden können. Allerdings haben die Gerichtsurteile deutlich gemacht, dass kollektive Maßnahmen dadurch, dass Artikel 153 nicht für das Streikrecht gilt, nicht dem Geltungsbereich des EU-Rechts entzogen werden.

Das Ziel der Verordnung, die allgemeinen Grundsätze und EU-Bestimmungen betreffend die Ausübung des Grundrechts auf Durchführung kollektiver Maßnahmen im Kontext der Dienstleistungs- und der Niederlassungsfreiheit, einschließlich des Erfordernisses, die Rechte und Freiheiten in der Praxis in grenzüberschreitenden Situationen miteinander in Einklang zu bringen, zu klären, erfordert Maßnahmen auf Ebene der Europäischen Union und kann von den Mitgliedstaaten allein nicht erreicht werden.

In Übereinstimmung mit dem Vertrag muss zudem jede Initiative in diesem Bereich nicht nur die Autonomie der Sozialpartner, sondern auch die verschiedenen Sozialmodelle und die unterschiedlichen Systeme der Arbeitsbeziehungen in den Mitgliedstaaten berücksichtigen.

Was den Inhalt des Vorschlags betrifft, so wird das Subsidiaritätsprinzip zudem gewahrt, indem die Rolle der nationalen Gerichte bei der Feststellung des Sachverhalts und bei der Beurteilung anerkannt wird, ob die betreffenden Maßnahmen Ziele verfolgen, die ein berechtigtes Interesse darstellen, sich für die Erreichung dieser Ziele eignen und nicht über das für die Erreichung der Ziele erforderliche Maß hinausgehen. In dem Vorschlag wird auch die Bedeutung geltender nationaler Gesetze und Verfahren für die Wahrnehmung des Streikrechts anerkannt, einschließlich vorhandener Gremien für die außergerichtliche Streitbeilegung, die nicht verändert bzw. beeinträchtigt werden. Der Vorschlag sieht in der Tat keinen Mechanismus für die informelle Beilegung arbeitsrechtlicher Streitigkeiten auf nationaler Ebene zwecks Einführung einer Form der vorgerichtlichen Kontrolle gewerkschaftlicher Maßnahmen vor (wie im Monti-Bericht 2010 vorgeschlagen), sondern beschränkt sich darauf, auf die Rolle alternativer Mechanismen für die informelle Streitbeilegung zu verweisen, die es in einer Reihe von Mitgliedstaaten gibt.

Der Vorschlag geht nicht über das für die Erreichung der angestrebten Ziele erforderliche Maß hinaus.

3.4. Detaillierte Erläuterung des Vorschlags

3.4.1. Gegenstand und sogenannte Monti-Klausel

Neben der Beschreibung der Ziele der Verordnung enthält Artikel 1 das, was häufig als "Monti-Klausel" bezeichnet wird. Er kombiniert den Wortlaut des Artikels 2 der Verordnung (EG) Nr. 2679/98 des Rates36 und des Artikels 1 Absatz 7 der Dienstleistungsrichtlinie37. Er steht auch in Einklang mit dem Wortlaut ähnlicher Bestimmungen, etwa des jüngsten Vorschlags für eine Verordnung über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (Neufassung der Verordnung Brüssel I)38 und der kürzlich erlassenen Verordnung über makroökonomische Ungleichgewichte39.

3.4.2. Beziehung zwischen Grundrechten und wirtschaftlichen Freiheiten - allgemeine Grundsätze

In Artikel 2 wird bekräftigt, dass es keinen inhärenten Konflikt zwischen der Ausübung des Grundrechts auf Durchführung kollektiver Maßnahmen und der im Vertrag verankerten und durch diesen geschützten Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit und keinen Vorrang der einen Rechtsposition über die andere gibt. Es wird festgehalten, dass es zu Situationen kommen kann, in denen die Wahrnehmung dieses Rechts mit der Ausübung der genannten Freiheiten bei Vorliegen einer Kollision in Einklang zu bringen ist und dabei dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gemäß der üblichen Praxis der Gerichte und der EU-Rechtsprechung entsprochen werden muss40.

Die prinzipielle Gleichrangigkeit der Grundrechte und der Niederlassungs- und der Dienstleistungsfreiheit bedeutet, dass diese Freiheiten im Interesse des Schutzes der Grundrechte beschränkt werden können. Sie impliziert aber auch, dass die Ausübung dieser Freiheiten eine Beschränkung der effektiven Ausübung der Grundrechte rechtfertigen kann.

Um zu vermeiden, dass wegen drohender Schadenersatzansprüche aufgrund des Viking-LineUrteils seitens von Arbeitgebern, die sich auf grenzüberschreitende Tatbestandsmerkmale berufen, die Gewerkschaften daran gehindert werden, ihre kollektiven Rechte wirksam auszuüben oder ihnen dies de facto sogar untersagt wird,41 sollte daran erinnert werden, dass in Situationen, in denen grenzüberschreitende Tatbestandsmerkmale fehlen oder hypothetisch sind, davon auszugehen ist, dass eine kollektive Maßnahme keinen Verstoß gegen die Niederlassungs- oder die Dienstleistungsfreiheit darstellt. Letzteres gilt unbeschadet der Übereinstimmung der kollektiven Maßnahme mit den nationalen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten.

In der Tat würde ein derart weitgefasstes Haftungsrisiko aufgrund einer eher hypothetischen Situation oder einer Situation, in der keine grenzüberschreitende Tatbestandsmerkmale vorliegen, die Ausübung des Streikrechts durch die Gewerkschaften in Situationen, in denen die Niederlassungs- oder die Dienstleistungsfreiheit gar nicht zum Tragen kommen, recht schwierig, wenn nicht sogar unmöglich machen.

3.4.3. Streitbeilegungsverfahren

In Artikel 3 werden Rolle und Bedeutung der bestehenden nationalen Gepflogenheiten in Bezug auf die Ausübung des Streikrechts in der Praxis unterstrichen, u.a. von vorhandenen Gremien für die außergerichtliche Streitbeilegung, etwa im Rahmen von Vermittlungs-, Schlichtungs- und/oder Schiedsverfahren. Der vorliegende Vorschlag führt keine Änderungen bei diesen auf nationaler Ebene bestehenden Verfahren für die außergerichtliche Streitbeilegung ein; außerdem sieht er weder ausdrücklich noch implizit vor, dass Mitgliedstaaten, in denen es keine solchen Verfahren gibt, diese einführen müssen. Allerdings legt er für Mitgliedstaaten, in denen es solche Verfahren gibt, den Grundsatz des gleichberechtigten Zugangs in grenzüberschreitenden Fällen fest und sieht Anpassungen durch die Mitgliedstaaten vor, damit dessen Anwendung in der Praxis gewährleistet ist.

Der Vorschlag sieht keinen Mechanismus für die informelle Beilegung arbeitsrechtlicher Streitigkeiten betreffend die Anwendung der Entsenderichtlinie auf nationaler Ebene vor42. Ein solcher Mechanismus würde eine Art vorgerichtlicher Kontrolle über Gewerkschaftsmaßnahmen einführen, was nicht nur ein zusätzliches Hindernis für die effektive Ausübung des Streikrechts schaffen bzw. ein solches darstellen würde, sondern sich auch als unvereinbar mit Artikel 153 Absatz 5 AEUV erweisen würde, demzufolge Gesetzgebungsbefugnisse in diesem Bereich auf EU-Ebene ausdrücklich ausgeschlossen sind.

fundamental social rights and economic freedoms" unter: http://ec.europa.eu/social/main.jsp?langId=en&catId=471&eventsId=347&furtherEvents=yes

Darüber hinaus anerkennt der Vorschlag in Einklang mit Artikel 155 AEUV die spezifische Rolle der Sozialpartner auf EU-Ebene und fordert sie auf, falls sie es wünschen, Leitlinien für die Modalitäten und Verfahren solcher alternativer Streitbeilegungsverfahren aufzustellen.

3.4.4. Rolle der nationalen Gerichte

Artikel 3 Absatz 4 präzisiert die Rolle der nationalen Gerichte. Wenn in einem konkreten Fall infolge der Ausübung eines Grundrechts eine wirtschaftliche Freiheit beschränkt wird, müssen sie nach einem angemessenen Ausgleich zwischen den betreffenden Rechten und Freiheiten suchen 43 und diese miteinander in Einklang bringen. Gemäß Artikel 52 Absatz 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union muss jede Einschränkung der Ausübung der in dieser Charta anerkannten Rechte und Freiheiten den Wesensgehalt dieser Rechte und Freiheiten achten. Ferner dürfen unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit Einschränkungen nur vorgenommen werden, wenn sie notwendig sind und den von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen oder den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer tatsächlich entsprechen 44 . Der Gerichtshof anerkannte auch, dass die zuständigen nationalen Behörden diesbezüglich über einen erheblichen Ermessensspielraum verfügen. In Einklang mit der Rechtsprechung des Gerichtshofs ist ein dreistufiges Prüfungsschema erforderlich, bei welchem 1. die Geeignetheit, 2. die Erforderlichkeit und 3. die Angemessenheit der betreffenden Maßnahme zu kontrollieren sind. Der angemessene Ausgleich zwischen Grundrecht und Grundfreiheit ist im Falle einer Kollision nur dann sichergestellt, "wenn die Beschränkung einer Grundfreiheit durch ein Grundrecht nicht über das hinausgehen darf, was zur Durchsetzung des Grundrechts geeignet, erforderlich und angemessen ist. Umgekehrt darf jedoch auch die Beschränkung eines Grundrechts durch eine Grundfreiheit nicht weiter gehen, als zur Durchsetzung der Grundfreiheit geeignet, erforderlich und angemessen ist."45

Dies gilt unbeschadet der Möglichkeit, dass der Gerichtshof selbst erforderlichenfalls dem nationalen Gericht klärende Hinweise in Bezug auf die zu berücksichtigenden Elemente46 geben kann

3.4.5. Warnmechanismus

Mit Artikel 4 wird ein Frühwarnsystem eingeführt, das vorsieht, dass die Mitgliedstaaten die betroffenen Mitgliedstaaten und die Kommission unverzüglich über gravierende Handlungen oder Umstände in Kenntnis setzen, die entweder das reibungslose Funktionieren des Binnenmarkts schwerwiegend beeinträchtigen oder ernsthafte soziale Unruhen hervorrufen. Ziel ist es, potenzielle Schäden soweit wie möglich zu vermeiden bzw. zu begrenzen.

4. Auswirkungen auf den Haushalt

Der Vorschlag hat keine Auswirkungen auf den EU-Haushalt.

Vorschlag für Verordnung des Rates über die Ausübung des Rechts auf Durchführung kollektiver Maßnahmen im Kontext der Niederlassungs- und der Dienstleistungsfreiheit (Text von Bedeutung für den EWR)

DER Rat der Europäischen Union - gestützt auf den Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union, insbesondere auf Artikel 352, auf Vorschlag der Europäischen Kommission, nach Zuleitung des Entwurfs des Gesetzgebungsakts an die nationalen Parlamente, nach Zustimmung des Europäischen Parlaments47, gemäß einem besonderen Gesetzgebungsverfahren, in Erwägung nachstehender Gründe:

Artikel 1
Gegenstand

Artikel 2
Allgemeine Grundsätze

Bei der Ausübung der im Vertrag verankerten Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit wird das Grundrecht auf Durchführung kollektiver Maßnahmen, einschließlich des Streikrechts oder der Streikfreiheit gewahrt; umgekehrt werden bei der Ausübung des Grundrechts auf Durchführung kollektiver Maßnahmen, einschließlich des Streikrechts oder der Streikfreiheit, diese wirtschaftlichen Freiheiten gewahrt.

Artikel 3
Streitbeilegungsverfahren

Artikel 4
Warnmechanismus

Artikel 5
Inkrafttreten

Diese Verordnung tritt am zwanzigsten Tag nach ihrer Veröffentlichung im Amtsblatt der Europäischen Union in Kraft.

Diese Verordnung ist in allen ihren Teilen verbindlich und gilt unmittelbar in jedem Mitgliedstaat.

Geschehen zu Brüssel am 21.3.2012
Im Namen des Rates
Der Präsident