Antrag des Freistaates Bayern
Entschließung des Bundesrates - Zuwanderung in die sozialen Sicherungssysteme

Der Bayerische Ministerpräsident
München, 13. Mai 2014

An den Präsidenten des Bundesrates
Herrn Ministerpräsidenten
Stephan Weil

Sehr geehrter Herr Präsident,
gemäß dem Beschluss der Bayerischen Staatsregierung übermittle ich die als Anlage beigefügte Entschließung des Bundesrates - Zuwanderung in die sozialen Sicherungssysteme mit dem Antrag, dass der Bundesrat diese fassen möge.

Ich bitte, den Entschließungsantrag gemäß § 36 Absatz 2 GOBR auf die Tagesordnung der 922. Sitzung am 23. Mai 2014 zu setzen und anschließend den Ausschüssen zur Beratung zuzuweisen.

Mit freundlichen Grüßen
Horst Seehofer

Entschließung des Bundesrates - Zuwanderung in die sozialen Sicherungssysteme

Der Bundesrat möge beschließen:

I. Der Bundesrat stellt fest, dass die Arbeitnehmerfreizügigkeit ein Gewinn für die Menschen in Europa wie auch für die Wirtschaft und den Arbeitsmarkt ist. Diese Errungenschaft der europäischen Integration gilt es zu erhalten. Wer in Deutschland arbeiten will, ist willkommen. Deutschland braucht qualifizierte Zuwanderer. Dies gilt insbesondere für mittelständische Unternehmen. Viele Unionsbürger kommen mit großem Fachwissen und guten Deutschkenntnissen aus den neuen Mitgliedstaaten nach Deutschland. Deutschland profitiert von gut ausgebildeten Zuwanderern, die sich integrieren und dadurch in die Sozialsysteme einzahlen.

Die Zuwanderung von Menschen ohne jegliche Qualifikation und damit ohne Chancen am deutschen Arbeitsmarkt stellt die Sozialsysteme zunehmend vor Probleme und hilft auch den Betroffenen nicht. Die Arbeitnehmerfreizügigkeit wurde für den Arbeitsmarkt geschaffen, nicht für die Zuwanderung in Sozialsysteme. Freizügigkeit darf nicht als Wahlfreiheit in Bezug auf die besten Sozialleistungen Europas missverstanden werden. Solche Entwicklungen würden die Solidaritätsbereitschaft unterminieren.

Die steigende Inanspruchnahme von Sozialleistungen belastet Sozialleistungssysteme und Kommunen. Daher gilt es, wirksam eine Einwanderung aus der EU in die sozialen Sicherungssysteme zu verhindern. Hierzu sind sowohl Änderungen auf europäischer sowie auf nationaler Ebene nötig.

II. Der Bundesrat bittet die Bundesregierung, zur Absicherung der geltenden und beabsichtigten nationalen Leistungsausschlüsse folgende Änderungen auf europäischer Ebene zu erwirken:

1. Änderung der Freizügigkeitsrichtlinie (RL 2004/38/EG vom 29. April 2004)

Es muss klargestellt werden, dass das Recht auf Gleichbehandlung nicht für Unionsbürger gilt, die kein Aufenthaltsrecht besitzen. Nicht aufenthaltsberechtigte Ausländer ohne Vorbeschäftigung können nicht besser gestellt werden als Arbeitsuchende ohne Vorbeschäftigung.

Deutsche Sozialgerichte haben aber z. T. unter Anwendung des EU-Rechts als unmittelbar geltendem deutschen Recht anders entschieden (LSG Nordrhein-Westfalen, Entsch. vom 10.10.2013, Az. L 19 AS 129/ 13). Es ist eine Klarstellung sowohl im EU-Recht als auch im SGB II erforderlich.

Leistungsausschlüsse müssen in der Richtlinie ausdrücklich für Sozialhilfeleistungen "und vergleichbare beitragsunabhängige Geldleistungen" zugelassen werden. Hierdurch wird klargestellt, dass der Anwendungsbereich sich auf die deutsche Grundsicherung für Arbeitsuchende und auf die Sozialhilfe (insb. Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung) erstreckt.

Es ist erforderlich, dass das Recht des Aufnahmemitgliedstaats für die genannten Tatbestände typisierende generelle Leistungsausschlüsse vorsehen kann, also keine Ermessensausübung und Einzelfallabwägung vorsehen muss.

Demgegenüber hat die EU-Kommission in einem aktuellen Vorlageverfahren in Bezug auf die geltende Regelung der Richtlinie die Auffassung vertreten, dass arbeitsuchende EU-Bürger nicht generell und ohne Einzelfallprüfung von SGB II-Leistungen ausgeschlossen werden könnten. Experten der EU-Kommission halten es für erforderlich, dass die zuständigen Behörden (Jobcenter) jeden Einzelfall prüfen und dabei untersuchen, ob die gewünschte Unterstützung eine "übermäßige Belastung" der deutschen Sozialsysteme bedeute. Einzelheiten müssten die Gerichte klären.

Der EuGH hat in der Rechtssache C-140/12 (Brey) die Notwendigkeit dieser Einzelfallprüfung einer "übermäßigen Belastung" direkt auf die Richtlinie gestützt. Sie wäre also auch bei Prüfung von Ansprüchen der Sozialhilfe vorzunehmen.

Das ist praxisfern. Eine Massenverwaltung wie die der Grundsicherung für Arbeitsuchende und der Sozialhilfe wäre bei weitem überfordert, wenn das einzelne Jobcenter bzw. der jeweilige Sozialhilfeträger mit Bezug auf den einzelnen Leistungsberechtigten jeweils Feststellungen über eine "übermäßige Belastung" der deutschen Sozialsysteme treffen müsste.

2. Änderung der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit

Die Verordnung sieht eine Gleichbehandlungspflicht für Staatsangehörige der EU-Mitgliedstaaten vor. Daher werden die im SGB II und SGB XII geregelten Ausschlusstatbestände von manchen Sozialgerichten teilweise wegen Verstoßes gegen die Verordnung gegenüber EU-Bürgern als unwirksam erachtet.

Durch Änderung von Art. 4 der VO sollte klargestellt werden, dass die VO die in der Freizügigkeitsrichtlinie vorgesehenen Ausnahmen von der Pflicht zur Gleichbehandlung unberührt lässt und der Anwendungsbereich der in der Freizügigkeits-Richtlinie zugelassenen Leistungsausschlüsse sich auf (den Sozialhilfeleistungen vergleichbare) beitragsunabhängige Geldleistungen erstreckt. Damit wird sich der Anwendungsbereich der in der Richtlinie zugelassenen Leistungsausschlüsse auf die deutsche Grundsicherung für Arbeitsuchende und die Sozialhilfe erstrecken. Bisher sind Leistungsausschlüsse in der Richtlinie ausdrücklich für die "Sozialhilfe" zugelassen; das bedingt Auslegungserfordernisse.

3. Vorbehalt zur Anwendung des Europäischen Fürsorgeabkommens ändern

Es besteht die Gefahr, dass Leistungsausschlüsse, die auf der Freizügigkeitsrichtlinie basieren, durch das Europäische Fürsorgeabkommen vom 11.12.1953 (EFA) und hierdurch vermittelte Sozialhilfe-Ansprüche wieder ausgehebelt werden. Daher ist auch eine Änderung des erklärten Vorbehalts zur Anwendung des EFA erforderlich. Der bislang erklärte Vorbehalt nimmt das SGB II (dieses allerdings komplett) aus der Anwendbarkeit des EFA aus. Dieser Vorbehalt ist auf das SGB XII zu erstrecken. Im Gegenzug könnte der dafür bislang auf das Gesetz vollinhaltlich bezugnehmende Vorbehalt inhaltlich auf die Leistungsausschlüsse beschränkt werden.

Direktzuleitung an die Kommission:

Der Bundesrat übermittelt diese Stellungnahme direkt an die Kommission.

III. Der Bundesrat hält folgende Gesetzesänderungen im bundesdeutschen Recht für erforderlich:

1. Klarstellung, dass ein Leistungsausschluss in der Grundsicherung für Arbeitsuchende gilt, wenn kein Aufenthaltsrecht besteht

§ 7 Absatz 1 Satz 2 SGB II wird wie folgt geändert:

Nach Nr. 2 wird folgende Nr. 2a eingefügt:

"Ausländerinnen und Ausländer, die kein Aufenthaltsrecht besitzen".

Nicht aufenthaltsberechtigte Ausländer dürfen nicht besser stehen als Arbeitsuchende ohne Vorbeschäftigung, die ein Aufenthaltsrecht allein aufgrund der Arbeitsuche haben. Die Rechtsprechung sieht das aber bisher nicht einheitlich. Die in Art. 24 Abs. 1 der Freizügigkeitsrichtlinie geregelte Gleichbehandlungspflicht schützt nur denjenigen EU-Bürger, der sich "aufgrund dieser Richtlinie im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaates aufhält". Wer sich ohne Aufenthaltsrecht i.S.d. Richtlinie aufhält, hält sich nicht "aufgrund" der Richtlinie auf. Im deutschen Recht fehlt bisher eine eindeutige Regelung.

2. Erweiterung und Verbesserung des Leistungsausschlusses für die Sozialhilfe

§ 23 Absätze 2 und 3 SGB XII erhalten folgende Fassung:

IV. Der Bundesrat fordert die Bundesregierung auf zu prüfen, ob das Kindergeld in seiner Höhe nach dem Lebensstandard im Aufenthaltsland des Kindes gestaffelt oder auch für die ersten drei Monate ausgeschlossen werden kann.

V. Der Bundesrat hält folgende Änderungen im Verwaltungsvollzug für notwendig:

1. Verstärkte Zusammenarbeit zwischen Ausländerbehörden und Jobcentern

Der Bundesrat fordert die Bundesregierung auf sicherzustellen, dass die Bundesagentur für Arbeit in ihre Vollzugshinweise für die Anwendung des SGB II folgenden Hinweis aufnimmt:

Die Zusammenarbeit zwischen den Jobcentern und Ausländerbehörden muss intensiviert werden. Damit soll verhindert werden, dass Unionsbürger allein aufgrund der Vermutung des Bestehens des Freizügigkeitsrechts Sozialleistungen erhalten, obwohl dieses tatsächlich nicht (mehr) besteht. Zudem müssen die Ausländerbehörden vom Sozialleistungsträger über den Bezug von Leistungen nach dem SGB II informiert werden, um die Feststellung des Nichtbestehens oder Verlustes des Freizügigkeitsrechts überprüfen zu können.

2. Sozialleistungsbetrug durch Scheinselbständige

Um Fälle des Sozialleistungsbetrugs durch Scheinselbständige, die zwar einen Gewerbeschein haben, aber kein Gewerbe ausüben, zu verhindern, sollte die bloße Vorlage eines Gewerbescheines nicht ausreichen.

Der Bundesrat fordert die Bundesregierung auf,

sicherzustellen, dass die Bundesagentur für Arbeit in ihre Vollzugshinweise zu § 7 SGB II den Hinweis aufnimmt, dass als Voraussetzung für den Bezug von Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende als selbständiger Gewerbetreibender der Nachweis eines Mindestumsatzes verlangt wird, sodass die SGB II-Leistung lediglich als Aufstockung dient.

3. Prinzip des Forderns und Förderns

Die Jobcenter brauchen eine entsprechende personelle Ausstattung, um sich mit jedem zu integrierenden Arbeitslosen individuell befassen zu können. Auch eine intensivere Zusammenarbeit zwischen den Jobcentern und Ausländerbehörden setzt entsprechendes Personal voraus.

Der Bundesrat fordert die Bundesregierung auf,

die Jobcenter personell in die Lage zu versetzen, sich jedem zu integrierenden Arbeitslosen zu widmen, dessen Stärken und Schwächen zu ermitteln und passgenaue Lösungen zu entwickeln. Je nach individueller Situation soll entweder ein Job, eine Fortbildung oder eine sonstige Maßnahme angeboten werden. Den Arbeitslosen sollte deutlich werden, dass sie Hilfe nicht umsonst erhalten, dass sie gefordert werden. Das ist das Prinzip des Förderns und Forderns. Aber auch im Leistungsbereich (Berechnung und Verbescheidung der Geldleistungen) ist eine auskömmliche personelle Ausstattung der Jobcenter vonnöten, um den hohen gesetzlichen Anforderungen gerecht werden zu können und durch nachvollziehbare Bescheide das für eine erfolgreiche Vermittlung erforderliche Vertrauensverhältnis zum Leistungsberechtigten zu stärken.