Unterrichtung durch die Europäische Kommission
Bericht der Kommission über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit (18. Bericht über "Bessere Rechtsetzung" 2010) KOM (2011) 344 endg.

Der Bundesrat wird über die Vorlage gemäß § 2 EUZBLG auch durch die Bundesregierung unterrichtet.

Hinweis: vgl. Drucksache 632/10 (PDF) = AE-Nr. 100801

Brüssel, den 10.6.2011 KOM (2011) 344 endgültig

Bericht der Kommission über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit (18. Bericht über "Bessere Rechtsetzung" 2010)

1. Einführung

Der vorliegende Bericht ist der 18. Jahresbericht über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit in der EU-Rechtsetzung. Gemäß dem Protokoll (Nr. 2) über die Anwendung dieser Grundsätze (nachstehend "Protokoll" genannt) im Anhang zum Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) legt die Kommission dem Europäischen Rat, dem Europäischen Parlament, dem Rat und den nationalen Parlamenten jährlich einen solchen Bericht vor.1

Der vorliegende Bericht untersucht die Umsetzung der Grundsätze durch die verschiedenen Institutionen - Kommission, Europäisches Parlament, Rat und Ausschuss der Regionen - und geht auf einige Initiativen näher ein, bei denen es Bedenken zur Subsidiarität gab. Darüber hinaus wird untersucht, wie der mit dem Vertrag von Lissabon2 eingeführte Subsidiaritätskontrollmechanismus der nationalen Parlamente umgesetzt wurde.

2. Die Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit

Die Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit sind in Artikel 5 des Vertrags über die Europäische Union (EUV) verankert.

Der Grundsatz der Subsidiarität ist maßgebend für die Aufteilung der Zuständigkeiten zwischen den Mitgliedstaaten und der EU (Wer soll tätig werden"). Ist die Union in einem speziellen Bereich3 ausschließlich zuständig, so steht zweifelsfrei fest, dass die Union handeln sollte. Teilen sich die Union und die Mitgliedstaaten die Zuständigkeit4, so begründet dieser Grundsatz eine Vermutung zugunsten eines Tätigwerdens der Mitgliedstaaten. Die Union hingegen sollte nur dann tätig werden, wenn die Ziele durch die Mitgliedstaaten nicht ausreichend umgesetzt werden können und aufgrund des Umfangs oder der Auswirkungen auf Unionsebene besser zu verwirklichen sind.

Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ist maßgebend dafür, wie die Union sowohl ihre ausschließliche als auch ihre geteilte Zuständigkeit wahrzunehmen hat (Auf welche Art und Weise soll die EU tätig werden"). Gemäß dem EUV sollen die Maßnahmen der Union inhaltlich wie formal nicht über das zur Erreichung der Ziele der Verträge erforderliche Maß hinausgehen. Bei jedem Beschluss ist die am wenigsten restriktive Option vorzuziehen.

3. Anwendung der Grundsätze seitens der Organe

Die Entscheidung darüber, ob eine Maßnahme auf EU-Ebene vorzuschlagen ist (Subsidiarität), und falls ja, wie sie ausgestaltet werden soll (Verhältnismäßigkeit), sind für eine intelligente Regulierung von entscheidender Bedeutung.1 Auf welcher Ebene gehandelt werden soll, hängt vom Prozess der Politikgestaltung und dem interinstitutionellen Gesetzgebungsverfahren ab.

Wichtig ist, dass die Argumente zu Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit transparent sind, damit die verschiedenen Akteure ihre Positionen konstruktiv erörtern können. Daher sollte der Entwurf eines Gesetzgebungsakts - egal von wem er initiiert wurde - einen "Vermerk mit detaillierten Angaben" enthalten, damit die anderen Beteiligten beurteilen können, ob der jeweilige Grundsatz eingehalten wird. Gemäß dem Protokoll sollte dieser Vermerk Angaben zu den voraussichtlichen finanziellen Auswirkungen enthalten, die finanzielle Belastung und den Verwaltungsaufwand berücksichtigen sowie im Fall einer Richtlinie die Auswirkungen auf die nationalen und regionalen Rechtsvorschriften darlegen. Die Schlussfolgerungen sollten auf qualitativen und - soweit möglich - quantitativen Kriterien beruhen.

Der Grundsatz der Subsidiarität lässt sich nicht ohne weiteres anhand operativer Kriterien beurteilen. In der mit dem Lissabon-Vertrag überarbeiteten Fassung des Protokolls werden keine Kriterien mehr genannt, anhand derer die Einhaltung dieses Grundsatzes zu beurteilen ist (z.B. "Erforderlichkeit" und "Mehrwert für die EU"). Im Vordergrund stehen nicht mehr der Anwendungsmodus, sondern Verfahrensaspekte, die gewährleisten sollen, dass alle maßgeblichen Akteure entsprechend eingebunden sind. In ihrem Bewertungsrahmen stützt sich die Kommission weiterhin auf die Kriterien der "Erforderlichkeit" und des "Mehrwerts für die EU" und empfiehlt den anderen Beteiligten dasselbe Vorgehen.

Eine faire politische Beurteilung in der prälegislativen Phase ist von zentraler Bedeutung, denn sie gewährleistet, dass bei den Vorschlägen dem Thema der Subsidiarität von Beginn an Rechnung getragen wird. In der postlegislativen Phase kann der Gerichtshof eingeschaltet werden, um die Rechtmäßigkeit der verabschiedeten Gesetzgebungsakte zu prüfen. Bislang hat der Gerichtshof keine Maßnahme aufgrund einer Verletzung des Subsidiaritätsgrundsatzes aufgehoben.

3.1. Kommission

Da die Kommission aufgrund ihres Initiativrechts die meisten Gesetzesvorschläge einbringt, sollte sie sicherstellen, dass bereits in der frühen Phase der politischen Entscheidungsfindung die richtige Wahl getroffen wird, wenn es darum geht, ob eine bzw. welche Maßnahme auf europäischer Ebene vorgeschlagen werden soll.

Für alle wichtigen Vorhaben veröffentlicht die Kommission so genannte "Roadmaps"5 (Fahrpläne). Sie erläutern die Ziele der Kommission und enthalten u.a. eine erste Stellungnahme zur Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit der jeweiligen Maßnahme. Diese Konzepte werden später im Rahmen der Konsultation der betroffenen Akteure und der Folgenabschätzung überprüft. Ausführungen zur Subsidiarität finden sich ferner in der Begründung sowie in den Erwägungsgründen jedes Legislativvorschlags. Bei Vorschlägen mit beträchtlichen Auswirkungen werden Folgenabschätzungen erstellt, in denen Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit besonders eingehend analysiert werden. Die Qualität dieser Analyse wird vom Ausschuss für Folgenabschätzung geprüft.

2010 hat der Ausschuss in mehr als der Hälfte der von ihm geprüften Fälle zur Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit Stellung genommen6 und drei große Bereiche ermittelt, in denen Verbesserungsbedarf besteht:

3.2. Nationale Parlamente

Der mit dem Vertrag von Lissabon eingeführte Subsidiaritätskontrollmechanismus sieht vor, dass die nationalen Parlamente eine größere Rolle spielen und dazu Stellung nehmen können, ob Entwürfe von Rechtsakten dem Grundsatz der Subsidiarität entsprechen. Je nach Anzahl der mit Gründen versehenen Stellungnahmen, denen zufolge ein Vorschlag gegen den Subisiaritätsgrundsatz verstößt, legt der Vertrag zwei Verfahrenswege fest - die so genannte "gelbe" und die "orange" Karte. 15 Beide Verfahren sehen die Überarbeitung des Gesetzgebungsentwurfs vor und können zur Änderung oder Rücknahme des Entwurfs führen.

Seit 2006 hat die Kommission den nationalen Parlamenten im Rahmen des politischen Dialogs16 alle neuen Vorschläge übermittelt und auf die Stellungnahmen der Parlamente geantwortet.17 Seit dem 1. Dezember 2009 wurde dieser Rahmen parallel dazu auch für den Subsidiaritätskontrollmechanismus genutzt. Bis Ende 2010 hatte die Kommission den Parlamenten 82 Entwürfe von Rechtsakten übermittelt, auf die das Protokoll Anwendung findet, und 211 Stellungnahmen dazu erhalten. Die meisten Stellungnahmen bezogen sich auf den Inhalt des jeweiligen Vorschlags, jedoch gab es auch 34 Stellungnahmen, in denen Subsidiaritätsbedenken geäußert wurden. Bei fünf Legislativvorschlägen erhielt die Kommission mehr als eine mit Gründen versehene Stellungnahme18, jedoch in keinem Fall reichte dies für die Erteilung der "gelben Karte" aus.

Einige nationale Parlamente wiesen in ihren Antworten ferner darauf hin, dass in einer Reihe von Kommissionsvorschlägen die Begründung der Subsidiarität unzureichend war oder fehlte. Dies galt insbesondere für Vorschläge für geringfügige Änderungen bestehender Rechtsakte. Die Kommission wird dafür sorgen, dass in allen Begründungen zu Legislativvorschlägen auf das Thema der Subsidiarität eingegangen wird, indem beispielsweise auf eine bereits durchgeführte Subsidiaritätsanalyse verwiesen bzw. diese bekräftigt wird.

3.3. Europäisches Parlament und Rat

Die Gesetzgebungsorgane - Europäisches Parlament und Rat - werden am Ende der prälegislativen Phase tätig. Sie müssen bestätigen, dass der Vorschlag mit den Grundsätzen der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit vereinbar ist und Abänderungen, die sich auf den Umfang der betreffenden Unionsmaßnahme auswirken, entsprechend begründen. 19

Im Rat gewährleistet der Ausschuss der Ständigen Vertreter der Mitgliedstaaten, dass die Grundsätze eingehalten werden. 20 Innerhalb des Europäischen Parlaments nehmen die für das Legislativvorhaben zuständigen Ausschüsse gemeinsam mit dem Rechtsausschuss diese Aufgabe wahr.

Der Rat und das Europäische Parlament haben zur Anwendung des Subsidiaritätskontrollmechanismus ihre eigenen Verfahren entwickelt. So hat das Europäische Parlament seine Geschäftsordnung dahingehend geändert, dass die begründeten Stellungnahmen bei den Debatten der nationalen Parlamente berücksichtigt werden.21 Der Rat wiederum hat darauf hingewirkt, dass die nationalen Parlamente zu Initiativen konsultiert werden, die von einer Gruppe von Mitgliedstaaten ausgehen. 22

3.4. Ausschuss der Regionen

Der Ausschuss der Regionen nimmt entweder anlässlich seiner Anhörung oder auf eigene Initiative Stellung. Gemäß dem Vertrag von Lissabon kann der Ausschuss im Nachhinein die Gültigkeit von Rechtsakten, die möglicherweise gegen den Subsidiaritätsgrundsatz verstoßen, anfechten. Dies gilt jedoch nur für Bereiche, in denen der Ausschuss angehört werden muss. Seit 2010 gilt die geänderte Geschäftsordnung des Ausschusses23, wonach all seine Stellungnahmen ausdrücklich auch auf die Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit Bezug nehmen sollen.

Das Netzwerk für Subsidiaritätskontrolle des Ausschusses der Regionen zählte Ende 2010 insgesamt 113 regionale Partner. 2010 führte das Netzwerk fünf Konsultationen durch und startete einen ersten Aktionsplan, um bewährte Verfahren zur Anwendung des Subsidiaritätsprinzips in den Regionen und Städten Europas zu ermitteln. Darüber hinaus plant der Ausschuss, das Netzwerk künftig auch mit der Unterstützung der regionalen Parlamente bei der Mitwirkung am Subsidiaritätskontrollmechanismus zu betrauen.

Der Ausschuss hat seinen ersten Jahresbericht zur Subsidiarität24 vorgelegt. 3.5. Gerichtshof

Im Einklang mit Artikel 263 AEUV kann der Gerichtshof der Europäischen Union die Rechtmäßigkeit von Gesetzgebungsakten hinsichtlich ihrer Vereinbarkeit mit dem Subsidiaritätsgrundsatz prüfen. Gemäß dem Protokoll können der Ausschuss der Regionen sowie die Mitgliedstaaten im eigenen Namen oder im Namen ihrer nationalen Parlamente Klage vor dem Gerichtshof erheben.

Abgesehen von dem im Bericht 2009 erwähnten Urteil zur Roamingverordnung25 gab es keine weitere Rechtsprechung.

4. wichtige Fälle, in denen Bedenken Hinsichtlich der Subsidiarität der Verhältnismassigkeit erhoben wurden

Dieser Abschnitt befasst sich mit den Vorschlägen der Kommission, die von den Gesetzgebungsorganen und anderen Beteiligten im Hinblick auf die Vereinbarkeit mit den Grundsätzen der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit am kontroversesten diskutiert wurden.

4.1. Followup der in den vorherigen Berichten erwähnten Fälle

Bei einigen der in den vorherigen Berichten erwähnten Fällen gab es im laufenden Gesetzgebungsverfahren keine nennenswerten Entwicklungen, u.a. bei der Richtlinie über Luftsicherheitsentgelte26, der Bodenschutzrichtlinie27, der Richtlinie über die Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes außerhalb der Beschäftigung2 8 und der Richtlinie über Verbraucherrechte 29.

In Bezug auf das im Bericht 2009 erwähnte Thema der Patientenrechte in der grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung30 wurde nach langen Verhandlungen Anfang 2011 in zweiter Lesung schließlich eine Einigung erzielt. Während des gesamten Verfahrens ging es im Wesentlichen darum, ein Gleichgewicht zu finden, mit dem einerseits den nationalen Zuständigkeiten in Bezug auf die Organisation und Finanzierung der Gesundheitsversorgung Rechnung getragen wird und andererseits die vom Gerichtshof anerkannten Patientenrechte rechtlich verankert werden.

Was die im Bericht 2008 erwähnte Mutterschutzrichtlinie31 anbelangt, so konnten sich die Gesetzgebungsorgane noch nicht auf eine gemeinsame Linie einigen. Nach Konsultation der europäischen Sozialpartner schlug die Kommission vor, die Mindestdauer des Mutterschaftsurlaubs - bei grundsätzlich voller Bezahlung - von 14 auf 18 Wochen auszudehnen. Die Entschließung des Europäischen Parlaments von Oktober 2010 sieht einen noch ehrgeizigeren Ansatz vor: Danach soll die Mindestdauer des vollständig bezahlten Mutterschaftsurlaubs auf 20 Wochen verlängert und ein zusätzlicher Anspruch auf zwei Wochen bezahlten Vaterschaftsurlaub verankert werden. In Anbetracht des Subsidiaritätsgrundsatzes stimmte die Mehrheit der Parlamentsmitglieder für eine Überleitungsklausel, die es dem Ermessen der nationalen Regierungen überlässt, diesen Ansatz an ihre Sozialsysteme anzupassen. Delegationen im Rat jedoch befanden die Maßnahmen in Zeiten wirtschaftlicher Sparmaßnahmen für kostspielig und befürworteten ein flexibleres Konzept. Die belgische Präsidentschaft bat die Sozialpartner daraufhin um Darlegung ihrer Standpunkte.

4.2. Weitere Fälle, in denen die Subsidiarität Anlass zu Diskussionen gab

Saisonarbeitnehmer

Die Kommission hat im Rahmen eines Gesetzespakets über legale Zuwanderung einen Vorschlag für eine Richtlinie über Saisonarbeitnehmer32 vorgelegt.

Zu diesem Vorschlag gingen die bislang meisten mit Gründen versehenen Stellungnahmen seitens der nationalen Parlamente ein.33 In neun Fällen wurden Bedenken hinsichtlich der Subsidiarität erhoben.34 So wurde angeführt, dass das Thema auf nationaler Ebene bereits ausreichend geregelt sei und die EU den nationalen Besonderheiten nicht angemessen Rechnung tragen könne. Da die Mitgliedstaaten weiterhin das Recht hätten, die Zahl der zugelassenen Saisonarbeitnehmer aus Drittstaaten festzulegen, ließe sich darüber hinaus nicht das Ziel der Steuerung der Migrationsströme erreichen. Gleichzeitig gaben neun Abgeordnetenkammern35 positive Stellungnahmen ab, da der Vorschlag ihrer Ansicht nach EU-weit einen einheitlichen Schutz, gemeinsame Zulassungskriterien und Aufenthaltsbedingungen sicherstellt. Begrüßt wurde auch die Tatsache, dass die Mitgliedstaaten die Zulassungsquoten festsetzen können.

Einige Parlamente, die zum Teil auch Bedenken zur Subsidiarität angemeldet hatten, sahen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz verletzt, da sich der Vorschlag auf die nationalen Sozialsysteme auswirken könnte. Zwei Parlamente 36 lehnten den Vorschlag mit dieser Begründung förmlich ab.

Die Kommission betonte in ihren Antworten 37, dass ein gemeinsamer EU-Rahmen geschaffen werden müsse, um eine Verzerrung der Migrationsströme sowie illegale Einwanderung zu verhindern, Saisonarbeitnehmer aus Drittstaaten zu schützen und Sozialdumping zu vermeiden. Ferner enthielte der Vorschlag Bestimmungen, die es den Mitgliedstaaten ermöglichen sollten, den Besonderheiten ihres Arbeitsmarktes Rechnung zu tragen.

Der Ausschuss der Regionen hat in seiner Stellungnahme die Standpunkte und Argumente der nationalen Parlamente zur Kenntnis genommen. Er gelangte jedoch zu dem Schluss, dass der Vorschlag mit dem Subsidiaritätsgrundsatz vereinbar ist, da er die nationalen Systeme im Hinblick auf den Schutz von Saisonarbeitnehmern vor einen "Wettlauf um die niedrigsten Standards" bewahrt. Die Prüfung dieses Vorschlags durch die Gesetzgebungsorgane hat erst begonnen.

Einlagensicherungssyteme

Im Juli 2010 legte die Kommission einen Vorschlag zur Stärkung des EU-weiten Rahmens für Einlagensicherungssysteme38 vor, um die durch die Finanzkrise zutage getretenen Schwachstellen zu beheben.

Zu diesem Vorschlag gab es elf Reaktionen seitens der nationalen Parlamente: In fünf Fällen 39 wurden ausdrücklich Bedenken zur Subsidiarität angemeldet. Im Wesentlichen wurde angeführt, dass die Richtlinie den Besonderheiten der nationalen Systeme nicht Rechnung tragen oder das derzeitige Schutzniveau gegebenenfalls verringern würde. Weiterhin umstritten war die vorgeschlagene gegenseitige Kreditfazilität, die das moralische Risiko vergrößern und den Aufbau einer angemessenen nationalen Sicherung unattraktiv machen könnte. Sechs Parlamente40 hingegen befanden, dass der Vorschlag mit dem Subsidiaritätsgrundsatz im Einklang steht und dazu beitragen würde, die Fragmentierung der nationalen Vorschriften zu überwinden.

Die Kommission verwies in ihrer Antwort darauf, dass die Harmonisierung zu einer besseren Integration der Finanzmärkte beitragen würde. Die Systeme, die keine Einlagensicherung gewährleisten sondern dem gegenseitigen Schutz der Banken vor der Insolvenz dienen (Garantiegemeinschaften), könnten weiterhin ihre Aufgabe erfüllen. Bezüglich der gegenseitigen Kreditfazilität stellte die Kommission klar, dass diese nur als letztes Mittel in Frage käme, es hierfür strenge Auflagen gäbe, um ein moralisches Risiko zu vermeiden, und letztendlich die Notwendigkeit eines Rückgriffs auf Steuergelder verringert werden solle.

Der Vorschlag wird gegenwärtig vom Europäischen Parlament und dem Rat erörtert. Abgabe von Nahrungsmitteln an Bedürftige 2008 schlug die Kommission eine Überarbeitung des seit 1987 bestehenden Nahrungsmittelhilfeprogramms für Bedürftige41 vor. Das Europäische Parlament unterstützte den Vorschlag und nahm einige vorwiegend technische Änderungen vor. Im Rat wurden die Verhandlungen durch eine Sperrminorität von Mitgliedstaaten blockiert, denen zufolge es sich nicht um ein Thema der Gemeinsamen Agrarpolitik handelte. Vielmehr sei die Abgabe von Nahrungsmitteln eine sozialpolitische und somit nationale Angelegenheit.

2010 nahm die Kommission einen geänderten Vorschlag42 an, um die Umsetzungsmechanismen des Vorschlags von 2008 an den Vertrag von Lissabon anzupassen. Mehrere nationale Parlamente befanden, der Vorschlag stehe nicht mit dem Subsidiaritätsgrundsatz in Einklang. Wie auch bei den Diskussionen im Rat wurde angeführt, dass sich die Zielsetzung geändert habe und es nicht mehr um agrar- sondern sozialpolitische Belange ginge. Einige nationale Parlamente wiesen ferner darauf hin, dass beim Vorschlag von 2010 Angaben zur Subsidiarität fehlten.

In ihrer Antwort erläuterte die Kommission, dass der Vorschlag zwei Ziele verfolge:

Einerseits gehe es natürlich um die Erfüllung des im Vertrag verankerten Ziels der Nahrungsmittelsicherheit, andererseits aber werde damit ein maßgeblicher Beitrag zum Abbau der Interventionsbestände landwirtschaftlicher Erzeugnisse geleistet. Ferner verwies die Kommission darauf, dass im Zuge der Folgenabschätzung zum Vorschlag von 2008 eine gründliche Subsidiaritätsanalyse erfolgt sei.

Weder der Ausschuss der Regionen noch der Wirtschafts- und Sozialausschuss beanstandeten den Vorschlag. Er wird derzeit von den Gesetzgebungsorganen debattiert.

Förderung der Entwicklung des ländlichen Raums durch den EAGFL und Festlegung gemeinsamer Regeln für Direktzahlungen an Landwirte

Mit diesen Vorschlägen sollten die der Kommission gemäß der Verordnung (EG) Nr. 1698/2005 sowie der Verordnung (EG) Nr. 073/2009 übertragenen Befugnisse an die Bestimmungen des Vertrags von Lissabon angepasst werden. 43 Darüber hinaus hatte die Kommission einige Vereinfachungen vorgenommen.

Mehrere nationale Parlamente waren der Ansicht, dass die Subsidiarität in den Begründungen nicht ausreichend behandelt wird. Ferner erhalte die Kommission durch die neuen Bestimmungen für delegierte Befugnisse und Durchführungsbefugnisse de facto zusätzliche Befugnisse. In ihren Antworten erläuterte die Kommission die Bestimmungen des Vertrags von Lissabon für delegierte Befugnisse und Durchführungsbefugnisse und verwies darauf, dass die Vorschläge vorwiegend technische Anpassungen und Vereinfachungen beinhalteten. Daher sei keine neue umfassende Subsidiaritätsanalyse durchgeführt worden.

2011 plant die Kommission für mehrere Rechtsakte ähnliche Anpassungen. Um den Bedenken der nationalen Parlamente Rechnung zu tragen, wird die Kommission besonders darauf achten, dass bei diesen Vorschlägen ausführlicher auf den Subsidiaritätsgrundsatz eingegangen wird.

Anbau von genetisch veränderten Organismen (GVO)

Das Gesetzespaket, das eine Mitteilung, eine Empfehlung und einen Vorschlag für eine Verordnung44 umfasst, wurde im Juli 2010 von der Kommission angenommen. Es geht auf wiederholte Forderungen der Mitgliedstaaten zurück, wonach Entscheidungen über den Anbau zugelassener GVO auf nationaler Ebene getroffen werden sollten, das EU-weite Zulassungssystem, das auf einer Beurteilung der Gefahren für die Gesundheit und die Umwelt basiert, jedoch beibehalten werden sollte. Einige Delegationen im Rat begrüßten die Vorlage, jedoch gab es auch kritische Stimmen, die angesichts dieses heiklen Themas einen rein zentralen europäischen Ansatz bevorzugen.

Einheitlicher europäischer Eisenbahnraum

Zur Wiederbelebung des Eisenbahnsektors legte die Kommission im September 2010 den Vorschlag für eine Richtlinie zur Schaffung eines "einheitlichen europäischen Eisenbahnraums"45 vor. Die luxemburgische Abgeordnetenkammer gab hierzu eine mit Gründen versehene Stellungnahme ab: Zwar seien grundsätzlich Maßnahmen auf EU-Ebene möglich, doch würden mehrere konkrete Bestimmungen gegen den Subsidiaritäts- und den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz verstoßen.

Im Dezember 2010 führte der Rat eine erste Orientierungssaussprache über den Vorschlag, bei der auch Bedenken zur Subsidiarität geäußert wurden. Ein Mitgliedstaat verwies darauf, dass bei der Entwicklung und Veröffentlichung mehrjähriger nationaler Strategien für die Eisenbahninfrastruktur Vorsicht geboten sei, da die Zuständigkeit für die langfristige Infrastrukturplanung bei den Mitgliedstaaten liege. Hinsichtlich der vorübergehenden Herabsetzung der Wegeentgelte für Züge, die über das Europäische Zugsteuerungssystem verfügen, betonten mehrere Delegationen, dass sie das Recht beibehalten wollten, neue Entgelte zu erheben oder bestehende Entgelte zu erhöhen, um den durch die Entgeltsenkung entstehenden Einnahmeverlust auszugleichen.

Die erste Lesung des Vorschlags im Europäischen Parlament steht noch aus. Der Ausschuss der Regionen hat zur Subsidiarität noch nicht Stellung genommen, jedoch darauf hingewiesen, dass das Thema für die lokalen und regionalen Behörden von zentraler Bedeutung ist.46

Fahrgastrechte im Kraftomnibusverkehr 2008 schlug die Kommission vor, dass die Verordnung zur Regelung der Dienstqualität und Fahrgastrechte auf alle Busunternehmen - so auch auf Busse im Regional-, Stadt- und Vorortverkehr - Anwendung finden sollte.47 Diese Sichtweise teilte auch das Europäische Parlament. Die überwiegende Mehrheit der Mitgliedstaaten im Rat bestand jedoch aus Gründen der Subsidiarität darauf, den Regional-, Stadt- und Vorortverkehr vom Anwendungsbereich der Verordnung auszunehmen. Im November 2010 wurde im Vermittlungsausschuss eine abschließende Übereinkunft erzielt. Darin stimmte das Europäische Parlament schließlich zu, dass die Verordnung generell nur auf Unternehmen Anwendung finden sollte, die Wegstrecken von mehr als 250 km bedienen. Im Gegenzug stimmte der Rat zu, dass bestimmte Vorschriften auf alle Unternehmen Anwendung finden sollten.

Maßnahmen zur Gewährleistung der sicheren Gasversorgung

Als Reaktion auf die russischukrainische Gaskrise im Januar 2009 schlug die Kommission vor 48, die bestehenden Rechtsvorschriften für die Sicherheit der Gasversorgung zu überarbeiten, um so einerseits die vorbeugenden Maßnahmen zu verbessern und andererseits spezielle Versorgungsstörungen zu beheben. Der Rat begrüßte den Vorschlag grundsätzlich, jedoch forderten mehrere Delegationen, dass die Rollen und Verantwortlichkeiten der Marktteilnehmer, der Mitgliedstaaten und der Kommission klarer festgelegt werden. Ferner bestand der Rat darauf, dass die Mitgliedstaaten darüber entscheiden sollten, welche wichtigen Kunden im Falle einer Gasknappheit zuerst zu beliefern sind. Diesen Anliegen wurden schließlich in der in der ersten Lesung mit dem Europäischen Parlament erzielten Einigung im Oktober 2010 Rechnung getragen.

5. Schlussfolgerung

Die Konzepte der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit sind für die Politikgestaltung der EU-Organe von zentraler Bedeutung. Der mit dem Vertrag von Lissabon eingeführte Subsidiaritätskontrollmechanismus der nationalen Parlamente hat für mehr Transparenz gesorgt und fruchtbare Diskussionen angeregt.

Die Tatsache, dass die nationalen Parlamente zu den meisten Kommissionsvorschlägen keine Subsidiaritätsbedenken angemeldet haben und die Vorschläge von den Gesetzgebungsorganen diesbezüglich ohne größere Debatten angenommen wurden, zeigt, dass die Subsidiaritätskontrolle in der frühen Phase der politischen Entscheidungsfindung im Allgemeinen durchaus wirksam ist. In einigen Fällen jedoch gab es im Europäischen Parlament und im Rat ausführliche Diskussionen über die Auslegung des Subsidiaritätsgrundsatzes. Diese eingehende Auseinandersetzung mit dem Thema hat zu einem ausgewogenen Verhältnis zwischen den Verantwortlichkeiten der EU und der Mitgliedstaaten beigetragen.

Anhang
Liste der Kommissionsvorschläge, zu denen die nationalen Parlamente hinsichtlich der Wahrung des Subsidiaritätsgrundsatzes mit Gründen versehene Stellungnahmen abgegeben haben

BezeichnungAutor der mit Gründen versehenen49 Stellungnahme
1Richtlinie über Saisonarbeitnehmer, KOM (2010) 379Österreichischer Nationalrat und Bundesrat Tschechischer Senät und Poslanecká sn#283;movna Dänische Eerste Kamer und Tweede Kamer Polnischer Senat
Britisches Unterhaus und Oberhaus
2Richtlinie über Einlagensicherungssysteme, KOM (2010) 368Deutscher Bundesrat und Bundestag Schwedischer Riksdag
Dänisches Folketinget
Britisches Unterhaus
3Abgabe von Nahrungsmitteln an Bedürftige in der Union, KOM (2010) 486Britisches Oberhaus Französischer Sénat Dänisches Folketinget Schwedischer Riksdag
Dänische Eerste Kamer und Tweede Kamer
4Verordnung zur Förderung der Entwicklung des ländlichen Raums durch den EAGFL, KOM (2010) 537Polnischer Sejm und Senat
Litauische Seimas
Luxemburgische Chambre des Députés
5Festlegung gemeinsamer Regeln für Direktzahlungen an Landwirte, KOM (2010) 539Polnischer Sejm und Senat
Litauische Seimas
Luxemburgische Chambre des Députés
6Systeme für die Entschädigung der Anleger, KOM (2010) 371.Schwedischer Riksdag Britisches Unterhaus
7Europäisches Kulturerbe-Siegel, KOM (2010) 76Französischer Sénat
8Frontex-Verordnung, KOM (2010) 61Polnischer Senat
9Dolmetschleistungen und Übersetzungen in Strafverfahren, KOM (2010) 82Österreichischer Bundesrat
10Einfuhr von Fischereierzeugnissen aus Grönland in die EU, KOM (2010) 176Italienischer Senato della Repubblica
11Programm für die Funkfrequenzpolitik, KOM (2010) 471Französischer Sénat
12Einheitlicher europäischer Eisenbahnraum, KOM (2010) 475.Luxemburgische Chambre des Députés