Unterrichtung durch das Europäische Parlament
Entschließung des Europäischen Parlaments vom 24. März 2009 zur Bekämpfung der Genitalverstümmelung bei Frauen in der Europäischen Union (2008/2071(INI))

Zugeleitet mit Schreiben des Generalsekretärs des Europäischen Parlaments - 306669 - vom 21. April 2009.

Das Europäische Parlament hat die Entschließung in der Sitzung am 24. März 2009 angenommen.

Das Europäische Parlament,

A. in der Erwägung, dass nach von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) erfassten Daten 100 bis 140 Millionen Frauen und Mädchen weltweit Genitalverstümmelungen erlitten haben und dass nach Zahlen der WHO und des Bevölkerungsfonds der Vereinten Nationen jährlich etwa zwei bis drei Millionen Frauen potenziell der Gefahr ausgesetzt sind, diese Praktiken mit ihren gravierenden gesundheitlichen Folgen erdulden zu müssen,

B. in der Erwägung, dass jährlich etwa 180 000 Migrantinnen in Europa Genitalverstümmelungen erleiden oder einem entsprechenden Risiko ausgesetzt sind,

C. in der Erwägung, dass Genitalverstümmelung bei Frauen nach Angaben der WHO in mindestens 28 afrikanischen Ländern und in einigen asiatischen Ländern sowie im Nahen Osten praktiziert wird,

D. in der Erwägung, dass Gewalt gegen Frauen, einschließlich der Genitalverstümmelung, aus gesellschaftlichen Strukturen entsteht, die auf der Ungleichheit zwischen den Geschlechtern und auf unausgewogenen Machtbeziehungen, Beherrschung und Kontrolle beruhen, bei denen der gesellschaftliche und familiäre Druck Ursache für die Verletzung eines Grundrechts wie die Achtung der Unversehrtheit der Person ist,

E. in der Erwägung, dass die an Mädchen zwangsweise vorgenommenen sexuellen Verstümmelungen strengstens verurteilt werden müssen und eine offenkundige Verletzung der internationalen und nationalen Rechtsvorschriften, die die Kinder und ihre Rechte schützen, darstellen,

F. in der Erwägung, dass die WHO vier Typen von Genitalverstümmelung unterscheidet, die von der Klitoriektomie (teilweises oder vollständiges Entfernen der Klitoris) über die Exzision (Entfernen der Klitoris und der kleinen Schamlippen), die etwa 85 % der Genitalverstümmelungen betrifft, bis hin zur extremsten Form der Infibulation (vollständige Entfernung der Klitoris und der kleinen Schamlippen sowie der Innenfläche der großen Schamlippen und Vernähen der Vulva, wobei lediglich eine kleine Vaginalöffnung belassen wird) und Introzision (Einstechen, Durchbohren oder Einschneiden der Klitoris oder der Schamlippen) reichen,

G. in der Erwägung, dass jegliche Form der Genitalverstümmelung bei Frauen, unabhängig von ihrem Ausmaß, einen Gewaltakt gegen die Frau darstellt, der einen schweren Angriff auf ihre Grundrechte, konkret des Rechts auf die Unverletzlichkeit der Person und die körperliche und geistige Gesundheit, sowie ihrer sexuellen und reproduktiven Gesundheit darstellt, und dass ein solcher Angriff keinesfalls mit der Achtung kultureller Traditionen unterschiedlicher Art oder mit Initiationszeremonien gerechtfertigt werden kann,

H. in der Erwägung, dass in Europa ca. 500 000 Frauen von Genitalverstümmelung betroffen sind und vor allem in Immigranten- und Flüchtlingsfamilien diese Beschneidung üblich ist und Mädchen dafür sogar in die Heimat zurückgeschickt werden,

I. in der Erwägung, dass die Genitalverstümmelungen kurz- und langfristig sehr gravierende und irreparable Verletzungen der körperlichen und seelischen Gesundheit der betroffenen Frauen und Mädchen verursachen und einen schwerwiegenden Angriff auf ihre Person und ihre Unversehrtheit darstellen und in einigen Fällen sogar zum Tode führen können; in der Erwägung, dass die Verwendung primitiver Instrumente und das Fehlen antiseptischer Vorsorgemaßnahmen schädliche Nebenwirkungen haben, sodass Geschlechtsverkehr und Geburten schmerzhaft sein können, die Organe unwiderruflich geschädigt werden und Komplikationen (beispielsweise Blutverlust, Schockzustand, Infektionen, Übertragung des Aids-Virus, Wundstarrkrampf, gutartige Tumore) sowie ernsthafte Komplikationen während der Schwangerschaft und der Geburt festgestellt werden können,

J. in der Erwägung, dass die Genitalverstümmelungen bei Frauen, die eine Verletzung der in mehreren internationalen Übereinkommen festgeschriebenen Rechte von Frauen und Mädchen darstellen, im Strafrecht der Mitgliedstaaten verboten sind und gegen die Prinzipien der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verstoßen,

K. in der Erwägung, dass auch in seiner Entschließung vom 16. Januar 2008 die Mitgliedstaaten eindringlich aufgefordert werden, bezüglich der Genitalverstümmelungen spezifische Vorschriften zu erlassen, so dass jede Person, die diese Praktiken an Kindern vornimmt, strafrechtlich verfolgt werden kann,

L. in der Erwägung, dass das Übereinkommen über die Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau von den Vertragsstaaten verlangt, die geeigneten Maßnahmen zu ergreifen, um die bestehenden Gesetze, Verordnungen, Gepflogenheiten und Praktiken, die eine Diskriminierung der Frau darstellen, zu ändern oder aufzuheben, und alle geeigneten Maßnahmen zu treffen, um einen Wandel in den sozialen und kulturellen Verhaltensmustern von Mann und Frau zu bewirken, um so zur Beseitigung von Vorurteilen sowie von herkömmlichen und allen sonstigen auf der Vorstellung von der Unterlegenheit oder Überlegenheit des einen oder anderen Geschlechts oder der stereotypen Rollenverteilung von Mann und Frau beruhenden Praktiken zu gelangen,

M. in der Erwägung, dass das 1989 angenommene Übereinkommen über die Rechte des Kindes festlegt, dass die Vertragsstaaten die in dem Übereinkommen festgelegten Rechte achten und sie jedem ihrer Hoheitsgewalt unterstehendem Kind ohne jede Diskriminierung unabhängig von dem Geschlecht gewährleisten und alle wirksamen und geeigneten Maßnahmen treffen, um überlieferte Bräuche, die für die Gesundheit der Kinder schädlich sind, abzuschaffen,

N. in der Erwägung, dass die Afrikanische Charta über die Rechte und den Schutz des Kindes den Unterzeichnerstaaten empfiehlt, soziale und kulturelle Praktiken zu beseitigen, die sich schädlich auf das Wohlergehen, die Würde, das normale Wachstum und die normale Entwicklung des Kindes auswirken,

O. in der Erwägung, dass es in Paragraph 18 der Erklärung und des Aktionsprogramms von Wien (Juni 1993) heißt, dass die Menschenrechte von Frauen und Mädchen unveräußerlicher, integrierender und unteilbarer Bestandteil der universellen Menschenrechte sind,

P. in der Erwägung, dass Artikel 2 der UN-Erklärung von 1993 zur Beseitigung der Gewalt gegen Frauen ausdrücklich auf Genitalverstümmelungen bei Frauen und andere traditionelle Praktiken zum Nachteil der Frau Bezug nimmt,

Q. in der Erwägung, dass die Mitgliedstaaten nach Artikel 4 der genannten Erklärung verpflichtet sind, Gewalt gegen Frauen zu verurteilen, und sich nicht auf Brauchtum, Tradition oder Religion berufen dürfen, um sich der Verpflichtung zur Beseitigung dieser Gewalt zu entziehen,

R. in der Erwägung, dass die Aktionsplattform der 1994 in Kairo stattgefundenen Internationalen Konferenz über Bevölkerung und Entwicklung vorsieht, dass die Regierungen Genitalverstümmelungen bei Frauen, dort wo sie bestehen, abschaffen und die Nichtregierungsorganisationen und religiösen Einrichtungen, die sich für die Beseitigung dieser Praktiken einsetzen, unterstützen,

S. in der Erwägung, dass die Regierungen in der von der Vierten Konferenz der Vereinten Nationen in Peking angenommenen Aktionsplattform aufgefordert werden, die Gesetze zu verschärfen, die Institutionen zu reformieren und Vorschriften und Praktiken auf den Weg zu bringen, die darauf ausgerichtet sind, die Diskriminierung von Frauen, die unter anderem in Genitalverstümmelungen zum Ausdruck kommt, zu beseitigen,

T. in der Erwägung, dass das AKP-EU-Partnerschaftsabkommen (Abkommen von Cotonou) auf ähnlichen universalen Grundsätzen beruht und Bestimmungen für ein Verbot von Genitalverstümmelungen bei Frauen enthält (Artikel 9 über wesentliche Elemente des Abkommens, und Artikel 25 und 31 jeweils zur sozialen Entwicklung und geschlechterspezifischen Fragen),

U. in der Erwägung, dass der am 3. Mai 2001 von der Parlamentarischen Versammlung des Europarats angenommene Bericht das Verbot von Genitalverstümmelungen bei Frauen fordert und diese mit unmenschlicher und entwürdigender Behandlung im Sinne von Artikel 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention gleichsetzt; unter Hinweis darauf, dass der Schutz der Kulturen und Traditionen dort endet, wo die Wahrung der Grundrechte und das Verbot folterähnlicher Praktiken beginnen,

V. in der Erwägung, dass Rat und Kommission im Rahmen einer gemeinsamen europäischen Einwanderungs- und Asylpolitik anerkennen, dass Genitalverstümmelungen bei Frauen eine Verletzung der Menschenrechte darstellen; in der Erwägung, dass immer mehr Asylanträge von den Eltern mit der Bedrohung gerechtfertigt werden, der sie in ihrem Heimatland ausgesetzt sein könnten, weil sie ihre Zustimmung zur Genitalverstümmelung ihrer Tochter verweigert haben,

W. in der Erwägung, dass die Zuerkennung des Status von Asylbewerbern leider nicht gewährleistet, dass das Kind der Gefahr der Genitalverstümmelung entgeht, die in einigen Fällen durchgeführt wird, nachdem sich die Familie in dem EU-Aufnahmeland niedergelassen hat,

X. unter Hinweis auf die Erklärung der Mitglieder der Kommission Ferrero-Waldner und Michel vom 5. Februar 2008, in der klar und deutlich die Unannehmbarkeit dieser Praktiken sowohl in der Europäischen Union als auch in den Entwicklungsländern betont und hervorgehoben wird, dass die Verletzung der Rechte der Frau keinesfalls unter Berufung auf den kulturellen Relativismus und auf Traditionen gerechtfertigt werden darf,

Y. in der Erwägung, dass nationale Zentren und Einrichtungen für Jugendliche und Familien rechtzeitig Hilfe anbieten können, um präventiv gegen die Durchführung von Genitalverstümmelung bei Frauen vorgehen zu können,