Unterrichtung durch die Europäische Kommission
Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Auf dem Weg zu einer europäischen Strafrechtspolitik: Gewährleistung der wirksamen Durchführung der EU-Politik durch das Strafrecht KOM (2011) 573 endg.

Der Bundesrat wird über die Vorlage gemäß § 2 EUZBLG auch durch die Bundesregierung unterrichtet.

Hinweis: vgl.
Drucksache 741/94 = AE-Nr. 942642,
Drucksache 384/01 = AE-Nr. 011621,
Drucksache 554/01 = AE-Nr. 012130,
Drucksache 963/01 = AE-Nr. 013418,
Drucksache 179/03 (PDF) = AE-Nr. 030952,
Drucksache 128/07 (PDF) = AE-Nr. 070191,
Drucksache 364/07 (PDF) = AE-Nr. 070435,
Drucksache 187/08 (PDF) = AE-Nr. 080244,
Drucksache 181/10 (PDF) = AE-Nr. 100216,
Drucksache 663/10 (PDF) =AE-Nr. 100827,
Drucksache 811/10 (PDF) = AE-Nr. 101051 und
Drucksache 334/11 (PDF) = AE-Nr. 110392

Brüssel, den 20.9.2011
KOM (2011) 573 endgültig

Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Auf dem Weg zu einer europäischen Strafrechtspolitik: Gewährleistung der wirksamen Durchführung der EU-Politik durch das Strafrecht

Mit dieser Mitteilung soll der Rahmen für die weitere Gestaltung einer EU-Strafrechtspolitik auf der Grundlage des Vertrags von Lissabon vorgelegt werden. Die EU verfügt jetzt über eine explizite Rechtsgrundlage für die Annahme strafrechtlicher Richtlinien und kann damit sicherstellen, dass EU-Politiken, die Gegenstand von Harmonisierungsmaßnahmen waren, wirksam durchgeführt werden. Eine europäische Strafrechtspolitik sollte das allgemeine Ziel verfolgen, das Vertrauen der Bürger im Hinblick darauf zu stärken, dass sie in einem Europa der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts leben, dass das EU-Recht zum Schutz ihrer Interessen voll und ganz um- und durchgesetzt wird und die EU dabei den Subsidiaritäts- und den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz sowie andere grundlegende Prinzipien des Vertrags uneingeschränkt achtet.

Ein Anliegen der EU-Bürger

Nach Ansicht der Unionsbürger ist Kriminalität ein wichtiges Problem der Union. Wenn sie gefragt werden, auf welche Themen die europäischen Organe ihre Tätigkeit in den kommenden Jahren zur Stärkung der Europäischen Union konzentrieren sollten, geben sie die Verbrechensbekämpfung unter den vier wichtigsten Tätigkeitsbereichen an1. Seit über einem Jahrzehnt hat die EU im Bereich des Strafrechts Maßnahmen zur besseren Bekämpfung der in zunehmendem Maße internationalen und immer komplexeren Kriminalität ergriffen. Mit diesen Maßnahmen wurde eine gewisse Angleichung im Hinblick auf Definitionen und das Strafmaß für bestimmte, besonders schwere Straftaten wie Terrorismus, Menschenhandel, Drogenhandel und Betrugsdelikte zum Nachteil der finanziellen Interessen der EU erzielt2. In Ermangelung einer expliziten, einschlägigen Rechtsgrundlage wurden vor dem Lissabonner Vertrag3 nur sehr wenige Maßnahmen getroffen, um die Durchsetzung der EU-Politiken zu verbessern 4. Auf diesem Aspekt des EU-Strafrechts liegt der Schwerpunkt der vorliegenden Mitteilung.

Der Mehrwert des EU-Strafrechts

Das Strafrecht ist ein sensibler politischer Bereich, in dem zwischen den einzelstaatlichen Systemen weiterhin bedeutende Unterschiede - beispielsweise in Bezug auf Strafarten und Strafmaß sowie die Klassifizierung bestimmter Verhaltensweisen als Ordnungswidrigkeit oder als Straftat - herrschen. Die EU kann aber überall dort, wo EU-Maßnahmen einen Mehrwert herbeiführen können, Lücken und Mängel in Angriff nehmen. Wegen der grenzübergreifenden Dimension vieler Straftaten können strafrechtliche Maßnahmen auf EU-Ebene dazu beitragen, dass Straftäter weder in andere Mitgliedstaaten flüchten noch Unterschiede zwischen nationalen Rechtssystemen für kriminelle Zwecke missbrauchen können.

Stärkung des gegenseitigen Vertrauens

Gemeinsame Mindestvorschriften sind in bestimmten Kriminalitätsbereichen auch von wesentlicher Bedeutung, um das Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten und der nationalen Justiz zu stärken. Für die reibungslose Zusammenarbeit der Justiz verschiedener Mitgliedstaaten ist dieses hohe Vertrauensniveau unerlässlich. Nur auf dieser Grundlage kann der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung justizieller Maßnahmen, auf dem die justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen beruht,5 effizient funktionieren.

Gewährleistung einer wirksamen Durchführung der EU-Politik

Das Strafrecht kann bei der Sicherstellung der Umsetzung der Politik der Europäischen Union eine wichtige Rolle spielen, deren Erfolg von der wirksamen Durchführung durch die Mitgliedstaaten abhängt. Die Union allein kann nicht sicherstellen, dass ihre Vorschriften, die sich vom Umweltschutz und der Erhaltung der Fischbestände über die Sicherheit im Straßenverkehr, die Regulierung der Finanzdienstleistungen und Datenschutz bis zum Schutz der finanziellen Interessen der EU erstrecken, zu der gewünschten Wirkung für die Bürger führen.

Die Mitgliedstaaten sind verpflichtet sicherzustellen, dass die Unionspolitiken umgesetzt werden, und können in der Regel selbst beschließen, mit welchen Mitteln sie dies bewerkstelligen. Kontrollen und Inspektionen spielen dabei eine wichtige Rolle. In Fällen, in denen die Mitgliedstaaten mit der Wahl ihrer Mittel nicht das gewünschte Ergebnis erzielen und die Durchführung uneinheitlich bleibt, kann die Union selbst gemeinsame Vorschriften dafür festlegen, wie die Umsetzung sicherzustellen ist, und gegebenenfalls auch strafrechtliche Sanktionen für Verstöße gegen das EU-Recht vorsehen.

Einheitlichkeit und Kohärenz

Strafrechtliche Maßnahmen der EU können zwar ergänzend zu den nationalen Strafrechtssystemen eine wichtige Rolle spielen, doch spiegelt ohne Zweifel gerade das Strafrecht die Grundwerte, Sitten und Gebräuche und politischen Entscheidungen der jeweiligen Gesellschaft wider. Der Vertrag von Lissabon akzeptiert diese Diversität6. Aus diesem Grund ist es besonders wichtig, Einheitlichkeit und Kohärenz der Strafrechtsvorschriften der EU zu gewährleisten, damit sie einen echten Mehrwert bieten7.

Ein neuer Rechtsrahmen

Der Rechtsrahmen auf der Grundlage des Vertrags von Lissabon eröffnet neue Möglichkeiten für die Gestaltung des EU-Strafrechts. Er ermöglicht den EU-Organen und den Mitgliedstaaten insbesondere, als Gesetzgeber auf einer eindeutigen Grundlage gemeinsam auf ein kohärentes, einheitliches EU-Strafrecht hinzuarbeiten, das die Rechte verdächtigter und beschuldigter Personen sowie die Rechte der Opfer wirksam schützt und die Qualität der Justiz fördert. Vor dem Lissabonner Vertrag gab es einige Lücken in dem Rechtsrahmen, der auf die meisten strafrechtlichen Vorschriften8 Anwendung fand. So musste vor allem die Zustimmung aller Mitgliedstaaten vorliegen, das Europäische Parlament wurde lediglich konsultiert, und Vertragsverletzungsverfahren vor dem Europäischen Gerichtshof zur Sicherstellung der ordnungsgemäßen Umsetzung durch die Mitgliedstaaten waren nicht möglich.

Das neue rechtliche Gefüge verleiht dem Europäischen Parlament mit dem Mitentscheidungsprozess eine starke Position und überträgt dem Europäischen Gerichtshof die uneingeschränkte gerichtliche Kontrolle. Der Rat kann einen Vorschlag annehmen, wenn die Mitgliedstaaten diesen mit qualifizierter Mehrheit unterstützen. Außerdem stärkt der Lissabonner Vertrag die Rolle der nationalen Parlamente in erheblichem Maße. Sie können zu Entwürfen von Rechtsakten Stellung nehmen und tragen wesentlich zur Einhaltung des Subsidiaritätsgrundsatzes bei. Im strafrechtlichen Bereich spielen die nationalen Parlamente eine stärkere Rolle als in anderen Bereichen der EU-Politik.9

Die strafrechtlichen Maßnahmen umfassen eingriffsintensive Vorschriften, die zum Freiheitsentzug führen können. Deshalb setzt die - durch den Vertrag von Lissabon rechtlich verbindlich gewordene10 - Charta der Grundrechte der Tätigkeit der EU in diesem Bereich wichtige Grenzen. Die Charta, an der sich die gesamte EU-Politik ausrichtet, bietet verbindliche Regeln zum Schutz der Bürger.

Bei der Angleichung des materiellen Strafrechts oder des Strafprozessrechts können die Mitgliedstaaten die "Notbremse" ziehen, wenn die vorgeschlagene Regelung ihres Erachtens grundlegende Aspekte ihres nationalen Strafjustizsystems berührt: der Vorschlag wird dann an den Europäischen Rat verwiesen.

Dänemark beteiligt sich nicht an den neuen Maßnahmen zum materiellen Strafrecht, während sich das Vereinigte Königreich und Irland nur auf eigenen Wunsch an der Annahme und Anwendung spezifischer Rechtsakte beteiligen. 11

Warum die EU tätig werden sollte - der Mehrwert eines EU-Strafrechts

Der Vertrag von Lissabon verleiht der EU eine Gesetzgebungskompetenz sowohl für strafrechtliche Verfahren als auch für das materielle Strafrecht. Es ist zwar nicht Aufgabe der EU, nationale Strafgesetzbücher zu ersetzen, aber in den Grenzen der EU-Kompetenz können strafrechtliche Vorschriften der EU einen bedeutenden zusätzlichen Beitrag zu den bestehenden Strafrechtsordnungen leisten.

1. Anwendungsbereich des EU-Strafrechts

Gemäß Artikel 83 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) kann die EU Richtlinien mit Mindestvorschriften zum EU-Strafrecht für verschiedene Kriminalitätsbereiche erlassen.

Zunächst können aufgrund von Artikel 83 Absatz 1 AEUV Maßnahmen zu einer Liste von zehn explizit aufgeführten Straftatbeständen (den sogenannten "EU-Straftatbeständen") erlassen werden, d.h. zu Terrorismus, Menschenhandel, sexueller Ausbeutung von Frauen und Kindern, illegalem Drogen- und illegalem Waffenhandel, Geldwäsche, Korruption, Fälschung von Zahlungsmitteln, Computerkriminalität und organisierter Kriminalität12. Hierunter fallen Straftaten, die definitionsgemäß besonders schwerwiegend sind und bei denen aufgrund ihrer grenzübergreifenden Dimension nach dem Vertrag selbst ein Vorgehen auf Ebene der EU angebracht ist. Die meisten dieser Straftaten fallen bereits unter vor dem Vertrag von Lissabon erlassene Rechtsvorschriften, die aktualisiert wurden oder werden. Zusätzliche "EU-Straftatbestände" können nur einstimmig vom Rat mit Zustimmung des Europäischen Parlaments definiert werden.

Zweitens können das Europäische Parlament und der Rat gemäß Artikel 83 Absatz 2 AEUV auf Vorschlag der Kommission "Mindestvorschriften für die Festlegung von Straftaten und Strafen festlegen", wenn sich "die Angleichung der strafrechtlichen Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten als unerlässlich für die wirksame Durchführung der Politik der Union auf einem Gebiet, auf dem Harmonisierungsmaßnahmen erfolgt sind" erweist. In dieser Bestimmung sind keine spezifischen Straftaten aufgelistet, sondern hier wird die Erfüllung bestimmter rechtlicher Kriterien als Voraussetzung für die Annahme strafrechtlicher Maßnahmen auf EU-Ebene festgelegt. Eine EU-Strafrechtspolitik ist deshalb vor allem im Hinblick auf Artikel 83 Absatz 2 AEUV gerechtfertigt, und dazu soll diese Mitteilung spezifische Leitlinien bereitstellen. Am wichtigsten ist, dass die EU-Organe auf diesem Gebiet die politische Entscheidung fällen müssen, ob sie das Strafrecht (anstelle anderer Maßnahmen wie Verwaltungssanktionen) als Mittel zur Durchsetzung nutzen wollen oder nicht, und wo sie festzulegen haben, welche EU-Politiken die Nutzung des Strafrechts als zusätzliches Durchsetzungsmittel erfordern.

Beispiel: Die EU-Bestimmungen zum Finanzmarktverhalten sind ein konkreter Fall, in dem das Strafrecht ein nützliches zusätzliches Mittel darstellen könnte, um eine wirksame Durchführung der Bestimmungen sicherzustellen. Wie die Finanzkrise gezeigt hat, werden die Finanzmarktvorschriften nicht immer eingehalten und ordnungsgemäß angewandt. Das kann das Vertrauen in den Finanzsektor erheblich untergraben. Stärkere Konvergenz der Rechtssysteme in den Mitgliedstaaten, auch beim Strafrecht, kann dazu beitragen, der Gefahr unzureichend funktionierender Finanzmärkte vorzubeugen, und die Schaffung einheitlicher Rahmenbedingungen im Binnenmarkt unterstützen13.

Davon abgesehen, ist in Artikel 325 Absatz 4 AEUV die spezifische Möglichkeit vorgesehen, Maßnahmen zur Verhütung und Bekämpfung von Betrügereien zu treffen, die sich gegen die finanziellen Interessen der Union richten, d.h. in einem Bereich, in dem bereits Rechtsvorschriften aus der Zeit vor dem Lissabonner Vertrag existieren 14. Es handelt sich um einen sehr wichtigen Bereich für die Steuerzahler in der EU, die den EU-Haushalt finanzieren und legitimerweise erwarten, dass illegale Aktivitäten, die es auf die öffentlichen Gelder der EU beispielsweise im Zusammenhang mit dem Agrar- und dem Regionalfonds oder der Entwicklungshilfe abgesehen haben, mit wirksamen Maßnahmen bekämpft werden. 15

2. Welche Grundsätze sollten das EU-STRAFRECHT leiten?

Wie im nationalen Recht müssen strafrechtliche Rechtsvorschriften der EU sorgfältig abgewogen werden. Nationales wie auch europäisches Strafrecht besteht aus Vorschriften mit erheblichen Auswirkungen auf jeden Bürger. Deshalb - und weil strafrechtliche Maßnahmen immer als letztes Mittel einzusetzen sind - müssen bei den neuen Strafvorschriften grundlegende Rechtsprinzipien beachtet werden.

2.1. Zu beachtende allgemeine Grundsätze

Dem für die Rechtsvorschriften der EU geltenden allgemeinen Subsidiaritätsgrundsatz ist beim Strafrecht besondere Aufmerksamkeit zu widmen. Die EU kann demnach nur dann regelnd eingreifen kann, wenn das Ziel mit Maßnahmen auf nationaler, regionaler oder lokaler Ebene nicht wirksamer erreicht, sondern wegen des Umfangs oder der Wirkungen der vorgeschlagenen Maßnahme auf Unionsebene besser realisiert werden kann.

Zudem müssen die Grundrechte, die in der EU-Charta der Grundrechte und in der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten garantiert sind, in jedem politischen Bereich der Union geachtet werden. Strafrechtliche Maßnahmen sind, was die Grundrechte anbetrifft, grundsätzlich heikel. Eine Beeinträchtigung individueller Rechte, sei es der Rechte der verdächtigten Person, des Opfers oder der Zeugen, ist dabei unvermeidbar. Letztendlich können die Maßnahmen auf Freiheitsentzug hinauslaufen und erfordern deshalb besondere Aufmerksamkeit vonseiten des Gesetzgebers.

2.2. Ein zweistufiges Konzept für Rechtsvorschriften im Bereich des Strafrechts

Bei Beschlüssen über strafrechtliche Maßnahmen, die darauf abzielen, die wirksame Durchführung von EU-Politiken sicherzustellen, zu denen es Harmonisierungsmaßnahmen gibt, sollte der EU-Gesetzgeber in zwei Schritten vorgehen.

2.2.1. Stufe 1: Der Beschluss, ob überhaupt strafrechtliche Maßnahmen erlassen werden sollen
- Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit - Strafrecht als "ultima ratio"

Strafrechtliche Ermittlungen und Sanktionen können sich in bedeutendem Maße auf die Rechte der Bürger auswirken und u.a. stigmatisierend wirken. Deshalb darf das Strafrecht nur als letztes Mittel eingesetzt werden. Das spiegelt sich im allgemeinen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (wie im Vertrag über die Europäische Union 16 und, insbesondere für strafrechtliche Sanktionen, in der EU-Charta der Grundrechte17 verankert) wider. Für strafrechtliche Maßnahmen, die zur Unterstützung der Durchführung der Politik der Union erlassen werden18, fordert der Vertrag ausdrücklich zu prüfen, ob strafrechtliche Maßnahmen für die wirksame Durchführung der Politik "unerlässlich" sind.

Der Gesetzgeber muss somit prüfen, ob nicht andere als strafrechtliche Maßnahmen, z.B. Sanktionsregelungen verwaltungs- oder zivilrechtlicher Art, die Durchführung der Politik in ausreichendem Maße gewährleisten könnten oder ob die Probleme mit strafrechtlichen Mitteln wirksamer angegangen werden können. Das erfordert eine umfassende Analyse in den Folgeabschätzungen, die jedem Legislativvorschlag vorausgehen, einschließlich je nach den Besonderheiten des betreffenden Regelungsbereichs einer Bewertung der Sanktionsregelungen der Mitgliedstaaten im Hinblick darauf, ob sie zu dem gewünschten Ergebnis führen, sowie einer Bewertung der Schwierigkeiten, denen sich nationale Behörden konfrontiert sehen, die das EU-Recht vor Ort umsetzen.

2.2.2. Stufe 2: Grundsätze für den Beschluss über die Art der zu erlassenden strafrechtlichen Maßnahmen

Sollte Stufe 1 ergeben haben, dass ein strafrechtlicher Regelungsbedarf besteht, stellt sich als Nächstes die Frage, welche konkreten Maßnahmen zu ergreifen sind.

- Mindestvorschriften

Die EU-Rechtsvorschriften bezüglich der Definition von Straftatbeständen und Strafen beschränken sich auf "Mindestvorschriften" gemäß Artikel 83 des Vertrags. Diese Beschränkung schließt eine vollständige Angleichung aus. Gleichzeitig erfordert der Grundsatz der Rechtssicherheit, dass das als Straftat anzusehende Verhalten eindeutig definiert wird.

Allerdings wirkt sich eine EU-Richtlinie zum Strafrecht nicht unmittelbar auf den Bürger aus; sie muss erst einmal in nationales Recht umgesetzt werden. Deshalb werden an die Rechtsicherheit nicht dieselben Anforderungen gestellt wie bei nationalen Strafgesetzen. Entscheidend ist, dass dem nationalen Gesetzgeber klar ist, welche Ergebnisse mit der Umsetzung der EU-Regelung erzielt werden sollen.

Was die Strafen anbetrifft, kann "Mindestvorschriften" bedeuten, dass bestimmte Strafarten (z.B. Geldstrafe, Freiheitsstrafe, Rechtsverlust), Strafhöhen oder eine EU-weite Definition erschwerender oder mildernder Umstände festgelegt werden. Die EU-Regelung kann auch lediglich bestimmen, welche Strafen den Richtern in den Mitgliedstaaten "mindestens" zur Verfügung stehen müssen.

- Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit

Die oben ausgeführte Voraussetzung der "Notwendigkeit" gilt auch für die Beschlussebene, auf der festgelegt wird, welche strafrechtlichen Maßnahmen in ein spezifisches Rechtsinstrument aufgenommen werden sollen. Die "Prüfung der Notwendigkeit" wird umso wichtiger je detaillierter die geplanten Bestimmungen hinsichtlich Art und Niveau der Strafen sind, die die Mitgliedstaaten zu beachten hätten. Es gilt die ausdrückliche Forderung der Charta der Grundrechte19, der zufolge "das Strafmaß zur Straftat nicht unverhältnismäßig sein darf".

- Klare Fakten

Um feststellen zu können, ob strafrechtliche Mindestvorschriften erforderlich sind, müssen sich die EU-Organe auf klare Fakten zu Art und Wirkungen der betreffenden Straftat sowie zu der in allen Mitgliedstaaten unterschiedlichen Rechtslage stützen können, die die wirksame Umsetzung einer EU-Politik, die Gegenstand von Harmonisierungsmaßnahmen ist, gefährden könnte. Die EU benötigt deshalb vonseiten der nationalen Behörden statistische Daten, um ihr die Beurteilung der Situation zu ermöglichen. Im Rahmen ihrer weiteren Arbeiten wird die Kommission im Hinblick auf die Behandlung der unter Artikel 325 Absatz 4 und Artikel 83 Absatz 2 fallenden Bereiche Pläne für die Erhebung zusätzlicher statistischer Daten und Belege ausarbeiten.

- Die Sanktion der Straftat anpassen

Bei der Gestaltung strafrechtlicher Vorschriften, mit denen in erster Linie die Wirksamkeit der EU-Politik sichergestellt werden soll, müssen auch die nachstehenden Fragen sorgfältig geprüft werden:

Was können strafrechtliche Mindestvorschriften der EU regeln?

Die Definition der Straftatbestände, das heißt die Beschreibung des als strafrechtlich relevant angesehenen Verhaltens umfasst immer das Verhalten des Täters, schließt aber in den meisten Fällen auch mit der Tat verbundenes Verhalten wie Anstiftung und Beihilfe ein. In einigen Fällen fällt auch der Versuch, eine Straftat zu begehen, darunter.

Alle strafrechtlichen Instrumente der EU schließen vorsätzliche Handlungen, in einigen Fällen aber auch grob fahrlässiges Verhalten in die Definition ein. In einigen Instrumenten wird weiter bestimmt, was bei der Festlegung des Strafmaßes im Einzelfall als "erschwerender" oder "mildernder" Umstand anzusehen ist.

In der Regel finden die Rechtsvorschriften der EU auf Straftaten Anwendung, die von natürlichen oder von juristischen Personen wie Unternehmen oder Vereinigungen begangen wurden. Letzteres kann in vielen Bereichen, z.B. bei der Verantwortung für Ölunfälle, von Bedeutung sein. Die geltenden Rechtsvorschriften allerdings haben die Wahl der Art der Haftung juristischer Personen für begangene strafrechtliche Handlungen immer den Mitgliedstaaten überlassen, da das Konzept der strafrechtlichen Haftung juristischer Personen nicht in allen nationalen Rechtsordnungen existiert.

Die Rechtsvorschriften der EU können darüber hinaus Regeln für die gerichtliche Zuständigkeit sowie andere Aspekte umfassen, die als Teil der Definition einer Straftat und als notwendige Bestandteile für die wirksame Anwendung der Rechtsvorschrift angesehen werden.

In Bezug auf Strafen kann das EU-Strafrecht für die Mitgliedstaaten das Erfordernis festlegen, für ein bestimmtes Verhalten wirksame, angemessene und abschreckende strafrechtliche Sanktionen vorzusehen. Wirksamkeit impliziert, dass die Sanktion geeignet ist, zu dem gewünschten Ziel zu führen, das heißt, die Einhaltung der Regeln zu gewährleisten; Angemessenheit impliziert, dass die Sanktion der Schwere der Tat und deren Auswirkungen entsprechen muss und nicht über das für das Erreichen des Ziels erforderliche Maß hinausgehen darf; Abschreckung impliziert, dass die Sanktionen für potenzielle künftige Täter ein angemessenes Hemmnis darstellen.

Bisweilen ist im EU-Strafrecht genauer festgelegt, welche Strafart und/oder welches Strafmaß vorzusehen sind. Unter anderem kann es auch Bestimmungen über die Einziehung von Vermögenswerten geben. Das Hauptziel einer EU-weiten Annäherung besteht nicht darin, das in den Mitgliedstaaten anwendbare jeweilige Strafmaß zu erhöhen, sondern vielmehr die Variationsbreite zwischen den nationalen Systemen zu reduzieren und sicherzustellen, dass das Erfordernis "wirksamer, angemessener und abschreckender" Sanktionen in allen Mitgliedstaaten tatsächlich erfüllt wird.

3. in Welchen politischen Bereichen der EU Wären Strafvorschriften erforderlich?

Strafrechtliche Maßnahmen sind - wie es im Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union heißt - als ein Mittel zur Gewährleistung der wirksamen Durchführung der Politik der EU zu sehen. EU-Politik schließt ein breites Themenspektrum ein, in dem in den vergangenen Jahrzehnten für das Wohl der Bürger gemeinsame Regeln entwickelt wurden. Die entsprechenden politischen Bereiche reichen von der Zollunion und dem Binnenmarkt bis zum Umweltschutz.

In all diesen Bereichen sind die Mitgliedstaaten verpflichtet sicherzustellen, dass Verstöße gegen EU-Recht mit wirksamen, angemessenen und abschreckenden Sanktionen geahndet werden. In der Regel können die Mitgliedstaaten die Art der Sanktion wählen, wobei es sich nicht um eine strafrechtliche Sanktion handeln muss, sondern auch um eine Verwaltungssanktion handeln kann.

Wo der Ermessensspielraum der Mitgliedstaaten bei der Umsetzung des EU-Rechts nicht zu dem gewünschten Erfolg führt, kann es erforderlich sein, mittels Mindestvorschriften auf EU-Ebene zu regeln, welche Sanktionen die Mitgliedstaaten in ihren nationalen Rechtsvorschriften vorsehen müssen. Eine Annäherung der Sanktionsniveaus ist insbesondere in Betracht zu ziehen, wenn eine Analyse der geltenden Rechtsvorschriften für Verwaltungssanktionen oder strafrechtliche Sanktionen bedeutende Unterschiede zwischen den Mitgliedstaaten aufzeigt und diese Unterschiede zu einer uneinheitlichen Anwendung von EU-Bestimmungen führen.

Ist eine EU-Maßnahme erforderlich, dann hat der EU-Gesetzgeber zu beschließen, ob strafrechtliche Sanktionen benötigt werden oder ob gemeinsame Verwaltungssanktionen ausreichen. Entscheidend ist dafür die Beurteilung der spezifischen Durchführungsprobleme in einem politischen Bereich gemäß den oben ausgeführten Grundsätzen.

In einer Reihe harmonisierter politischer Bereiche ist festzustellen, dass strafrechtliche Maßnahmen auf EU-Ebene erforderlich sind. Dabei geht es vor allem um Maßnahmen zur Bekämpfung von Praktiken mit schwerwiegenden negativen Auswirkungen und von illegalen Profiten in bestimmten Wirtschaftsbereichen zum Schutz der legitimen Geschäftstätigkeit und der Interessen der Steuerzahler:

Die Kommission wird weitere Überlegungen darüber anstellen, wie das Strafrecht durch die Unterstützung der Bekämpfung der Wirtschafts- und Finanzkriminalität zur Konjunkturbelebung beitragen kann.

Auch in anderen harmonisierten politischen Bereichen könnte die potenzielle Rolle des Strafrechts als notwendigem Mittel für die Gewährleistung einer wirksamen Rechtsdurchsetzung weiter geprüft werden, z.B. in nachstehenden Bereichen:

In diesen Bereichen ist gründlicher zu prüfen, ob und wo Mindestvorschriften für die Definition von Straftatbeständen und Strafen von wesentlicher Bedeutung sind, um die wirksame Umsetzung der Rechtsvorschriften der EU zu gewährleisten.

Bei dieser Analyse sind die nachstehenden Erwägungen zu berücksichtigen:

Der Schwere und dem Charakter des Rechtsbruchs ist Rechnung zu tragen. Für bestimmte, als besonders schwerwiegend angesehene rechtswidrige Handlungen sind Verwaltungssanktionen als Reaktion möglicherweise nicht ausreichend. Dementsprechend können strafrechtliche Sanktionen gewählt werden, wenn es für wichtig erachtet wird, zur Abschreckung entschiedene Missbilligung deutlich zu machen. Der Eintrag von Verurteilungen in Strafregister kann besonders abschreckend sein. Gleichzeitig bieten strafrechtliche Verfahren je nach Schwere des Tatvorwurfs oft einen stärkeren Schutz der Rechte des Angeklagten. Die Effizienz des Sanktionssystems ist ebenso zu prüfen wie die Frage, in welchem Ausmaß und aus welchem Grund es mit bestehenden Sanktionen nicht gelingt, die gewünschte Umsetzung zu erreichen. Es ist die Sanktionsart zu wählen, die am geeignetsten erscheint, das globale Ziel - wirksam, angemessen und abschreckend zu sein -, zu erreichen. Eine Verwaltungssanktion kann oft unverzüglich beschlossen und verhängt werden; so lassen sich langwierige, ressourcenintensive Verfahren vermeiden. Deshalb wären Verwaltungssanktionen möglicherweise dort in Betracht zu ziehen, wo beispielsweise weniger schwere Verstöße oder Verstöße in großer Zahl vorkommen, sowie in Bereichen, in denen administrative Sanktionen und Verfahren aus anderen Gründen (beispielsweise komplexe wirtschaftliche Bewertungen) geeignet und wirksam sind. In vielen Fällen sieht das Verwaltungsrecht auch ein breiteres Spektrum möglicher Sanktionen vor, die sich von Geldbußen und der Aussetzung von Lizenzen bis zum Ausschluss vom Recht auf staatliche Zuwendungen erstrecken und sich auf die spezifische Situation zuschneiden lassen. Häufig können deshalb Verwaltungssanktionen ausreichen oder sogar effizienter sein als strafrechtliche Sanktionen.

4. Fazit

Auch wenn der durch den Lissabonner Vertrag eingeführte neue Rechtsrahmen keine grundlegende Änderung des möglichen Anwendungsbereichs des EU-Strafrechts nach sich zieht, verstärkt er in erheblichem Maße die Möglichkeit, die Entwicklung einer kohärenten EU-Strafrechtspolitik voranzubringen, die sowohl auf die wirksame Umsetzung als auch auf einen soliden Grundrechteschutz ausgerichtet ist. Diese Mitteilung, in der die Kommission darlegt, wie die EU das Strafrecht zur Gewährleistung einer wirksamen Durchführung der EU-Politik nutzen sollte, ist ein erster Schritt im Rahmen der Bemühungen der Kommission, eine kohärente, einheitliche Strafrechtspolitik der EU einzuführen. Diese Politik muss die Bedürfnisse der EU-Bürger sowie die Erfordernisse des EU-Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts in den Mittelpunkt stellen und dabei der Subsidiarität uneingeschränkte Geltung verschaffen und stets berücksichtigen, dass das Strafrecht das letzte Mittel darstellt.

Dazu wird die Kommission in enger Zusammenarbeit mit dem Rat und dem Parlament sprachliche Vorgaben erarbeiten. Diese Vorgaben sollen dem EU-Gesetzgeber als Orientierung bei der Abfassung strafrechtlicher Vorschriften, mit denen Mindestregeln für Straftatbestände und Sanktionen eingeführt werden sollen, dienen. Dies würde dazu beitragen, die Einheitlichkeit zu gewährleisten, die Rechtssicherheit zu erhöhen und die Umsetzung des EU-Rechts zu erleichtern. Die Kommission wird darüber hinaus eine Expertengruppe einsetzen, die sie bei der Faktensammlung und der Lancierung weiterer Diskussionen über bedeutende Rechtsfragen im Hinblick darauf unterstützen wird, die wirksame Umsetzung der EU-Rechtsvorschriften in die nationalen Strafrechtsordnungen der Mitgliedstaaten zu gewährleisten. Dabei geht es u.a. um - das Verhältnis zwischen strafrechtlichen und nichtstrafrechtlichen Sanktionssystemen und - die Auslegung von in EU-Rechtsvorschriften regelmäßig verwendeten Strafrechtsbegriffen wie "wirksame, verhältnismäßige und abschreckende Sanktion", "minder schwerer Fall" oder "Beihilfe und Anstiftung".

Auf der Grundlage einer umfassenden Bewertung der bestehenden strafrechtlichen Maßnahmen der EU wird die Kommission die EU-Strafrechtspolitik in den kommenden Jahren in enger Konsultation mit den Mitgliedstaaten und unabhängigen Sachverständigen weiter entwickeln.

Unsere Vision einer kohärenten, einheitlichen Strafrechtspolitik der EU im Jahr 2020: