Unterrichtung durch das Europäische Parlament
Entschließung des Europäischen Parlaments vom 4. September 2007 zu rechtlichen und institutionellen Auswirkungen der Verwendung von nicht zwingenden Rechtsinstrumenten ("soft law") (2007/2028(INI))

Das Europäische Parlament,

A. in der Erwägung, dass der allgemein verwendete Begriff "nicht zwingendes Recht" (soft law) mehrdeutig und keineswegs förderlich ist und daher nicht in den Dokumenten der Institutionen der Gemeinschaft verwendet werden sollte,

B. in der Erwägung, dass die Unterscheidung zwischen dura lex und mollis lex, auf Grund der Begriffsverwirrung, nicht zugelassen oder anerkannt werden sollte,

C. in der Erwägung, dass so genannte nicht zwingende Rechtsinstrumente wie

D. in der Erwägung, dass Rechtsinstrumente des nicht zwingenden Rechts keinen vollen gerichtlichen Rechtsschutz bieten,

E. in der Erwägung, dass eine sehr häufige Verwendung von nicht zwingenden Rechtsinstrumenten eine Verlagerung des einzigartigen Modells der Europäischen Gemeinschaft hin zu dem Modell einer traditionellen internationalen Organisation bedeuten würde,

F. in der Erwägung, dass derzeit Meinungsverschiedenheiten darüber herrschen, wie die Effizienz der Regelungsfunktion der Europäischen Union im Hinblick auf Rechtsinstrumente des nicht zwingenden wie auch des zwingenden Rechts verbessert werden kann,

G. in der Erwägung, dass der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in der Rechtssache Van Gend und Loos erkannt hat, dass der Vertrag "mehr ist als ein Abkommen, das nur wechselseitige Verpflichtungen zwischen den vertragsschließenden Staaten begründet [...] dass die Gemeinschaft eine neue Rechtsordnung des Völkerrechts darstellt, zu deren Gunsten die Staaten, wenn auch in begrenztem Rahmen, ihre Souveränitätsrechte eingeschränkt haben, eine Rechtsordnung, deren Rechtssubjekte nicht nur die Mitgliedstaaten, sondern auch die Einzelstaaten sind. Das [...] Gemeinschaftsrecht soll daher den Einzelnen, ebenso wie es ihnen Pflichten auferlegt, auch Rechte verleihen. Solche Rechte entstehen nicht nur, wenn der Vertrag dies ausdrücklich bestimmt, sondern auch auf Grund von eindeutigen Verpflichtungen, die der Vertrag den Einzelnen wie auch den Mitgliedstaaten und den Organen der Gemeinschaft auferlegt."1,

H. in der Erwägung, dass folglich das Gemeinschaftsrecht vom Völkerrecht unterschieden werden kann, da es nicht nur für die Mitgliedstaaten, sondern auch für die Einzelnen, die auf dem Rechtsweg durchsetzbare Rechte daraus ableiten, verbindlich ist, und eine Reihe von Organen, einschließlich des Europäischen Parlaments, das von den Unionsbürgern direkt gewählt wird, einbezieht; ferner in der Erwägung, dass sich die europäische Rechtsordnung auf Demokratie und Rechtsstaatlichkeit gründet, wie dies Artikel 6 und die Präambel des EU-Vertrags deutlich machen,

I. in der Erwägung, dass dies bedeutet, dass die Organe der Europäischen Union nur nach dem Grundsatz der Gesetzmäßigkeit handeln dürfen, das heißt nur dann, wenn ihnen eine Rechtsgrundlage Zuständigkeit überträgt, und nur innerhalb der Grenzen ihrer Befugnisse, und dass es einen Europäischen Gerichtshof gibt, der sicherstellt, dass sie dementsprechend handeln,

J. in der Erwägung, dass dort, wo die Gemeinschaft Rechtsetzungsbefugnis hat, die angemessene Art zu handeln darin besteht, dass Rechtsakte von den demokratischen Organen der Union - dem Europäischen Parlament und dem Rat - verabschiedet werden, sofern dies auch unter Berücksichtigung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit geboten erscheint; in der Erwägung, dass nur durch die Verabschiedung von Rechtsakten im Rahmen der im Vertrag vorgesehenen institutionellen Verfahren Rechtssicherheit, Rechtsstaatlichkeit, Justiziabilität und Durchsetzbarkeit gewährleistet werden können; ferner in der Erwägung, dass dies auch die Achtung des im Vertrag verankerten institutionellen Gleichgewichts erfordert und Raum für Offenheit bei der Entscheidungsfindung lässt,

K. in der Erwägung, dass dort, wo die Gemeinschaft Rechtsetzungsbefugnis hat, der Gebrauch von "soft law" oder von "Verhaltensregeln, die in Instrumenten enthalten sind, denen keine verbindliche Rechtswirkung als solche verliehen wurde, die aber dennoch bestimmte - indirekte - rechtliche Wirkungen haben und durch die Wirkungen in der Praxis bezweckt und unter Umständen ausgelöst werden"2 und die seit jeher benutzt werden, um einem Mangel an formeller Rechtsetzungsbefugnis zu begegnen und/oder als Mittel der Durchsetzung und somit typisch für das Völkerrecht sind, ausgeschlossen ist,

L. in der Erwägung, dass dort, wo der Vertrag dies ausdrücklich vorsieht, Rechtsinstrumente des nicht zwingenden Rechts zulässig sind, vorausgesetzt, dass sie nicht als Ersatz für Rechtsetzung in Bereichen dienen, in denen die Gemeinschaft Rechtsetzungsbefugnis hat und in denen eine gemeinschaftliche Regelung auch unter Wahrung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit geboten erscheint, da dies auch einen Verstoß gegen den Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung darstellen würde; ferner in der Erwägung, dass dies erst recht für Mitteilungen der Kommission gilt, die eine Auslegung gemeinschaftlicher Rechtsakte zum Inhalt haben; in der Erwägung, dass vorbereitende Maßnahmen wie Grün- und Weißbücher, zusammen mit von der Kommission veröffentlichten Mitteilungen und Leitlinien, in denen diese darlegt, wie sie die Politik im Bereich Wettbewerb und staatliche Beihilfen anwendet, ebenfalls einen zulässigen Gebrauch von Rechtsinstrumenten des nicht zwingenden Rechts darstellen,

M. in der Erwägung, dass derartige Instrumente, die als Instrumente zur Auslegung oder Vorbereitung verbindlicher Rechtsakte verwendet werden können, weder als Rechtsvorschriften behandelt noch normsetzende Wirkung zuerkannt bekommen sollten,

N. in der Erwägung, dass eine solche Situation Verwirrung und Unsicherheit in einen Bereich bringen würde, in dem im Interesse der Mitgliedstaaten und der Bürger Klarheit und Rechtssicherheit herrschen sollten,

O. in der Erwägung, dass das Parlament nicht nur das Initiativrecht der Kommission achtet, sondern auch an seinem Recht festhält, die Kommission aufzufordern, einen Legislativvorschlag vorzulegen (Artikel 192 des EG-Vertrags),

P. in der Erwägung, dass die offene Methode der Koordinierung hilfreich bei der Vollendung des Binnenmarkts sein kann, dass es jedoch bedauerlich ist, dass das Parlament und der Gerichtshof dabei nur sehr selten einbezogen werden; aufgrund dieses demokratischen Defizits bei der so genannten offenen Methode der Koordinierung darf diese nicht dazu missbraucht werden, die mangelnde Rechtsetzungsbefugnis der Gemeinschaft zu ersetzen und damit de facto Verpflichtungen der Mitgliedstaaten zu schaffen, die einer Rechtsetzung gleichkommen, aber außerhalb der im Vertrag vorgesehenen Rechtsetzungsverfahren zustande kommen,

Q. in der Erwägung, dass Artikel 211 des EG-Vertrags vorsieht, dass die Kommission, um "das ordnungsgemäße Funktionieren und die Entwicklung des Gemeinsamen Marktes zu gewährleisten, [...] folgende Aufgaben [erfüllt]: [...] Empfehlungen oder Stellungnahmen auf den in diesem Vertrag bezeichneten Gebieten abzugeben, soweit der Vertrag dies ausdrücklich vorsieht oder soweit sie es für notwendig erachtet", dass jedoch nach Artikel 249 Absatz 5 Empfehlungen nicht verbindlich und nach Ansicht des Gerichtshofs "Handlungen [sind], die auch gegenüber ihren Adressaten keine bindende Wirkung entfalten sollen"3 und für die Einzelnen keine vor den innerstaatlichen Gerichten durchsetzbaren Rechte begründen4; ferner in der Erwägung, dass nach Artikel 230 des EG-Vertrags Empfehlungen nicht für nichtig erklärt werden können, da sie nicht verbindlich sind,

R. in der Erwägung andererseits, dass der Gerichtshof erkannt hat, dass solche Maßnahmen "nicht als rechtlich völlig wirkungslos angesehen werden können. Die innerstaatlichen Gerichte sind nämlich verpflichtet, bei der Entscheidung der bei ihnen anhängigen Rechtsstreitigkeiten die Empfehlungen zu berücksichtigen, insbesondere dann, wenn diese Aufschluss über die Auslegung zu ihrer Durchführung erlassener innerstaatlicher Rechtsvorschriften geben oder wenn sie verbindliche gemeinschaftliche Vorschriften ergänzen sollen."5,

S. in der Erwägung, dass die Empfehlungen - wenn sie nicht umsichtig genug eingesetzt werden - möglicherweise dazu führen könnten, dass festgestellt wird, dass die Kommission mit bestimmten Handlungen ihre Befugnisse überschreitet,

T. in der Erwägung, dass in Artikel I-33 des Vertrags über eine Verfassung für Europa Ähnliches vorgesehen ist wie in Artikel 211 des EG-Vertrags, jedoch Folgendes hinzugefügt wird: "Werden das Europäische Parlament und der Rat mit dem Entwurf eines Gesetzgebungsakts befasst, so nehmen sie keine Akte an, die nach dem für den betreffenden Bereich geltenden Gesetzgebungsverfahren nicht vorgesehen sind.",

U. in der Erwägung, dass die Kommission im Jahr 2005 auf der Grundlage von Artikel 211 des EG-Vertrags eine Empfehlung für die länderübergreifende Wahrnehmung von Urheberrechten, die für legale Online-Musikdienste benötigt werden, annahm, die als "Rechtsinstrument des nicht zwingenden Rechts, das dem Markt die Möglichkeit geben soll, sich in die richtige Richtung zu entwickeln" bezeichnet wurde, und mit der wohl bezweckt wurde, die bestehenden Richtlinien über das Urheberrecht in der Informationsgesellschaft6 und zum Vermietrecht und Verleihrecht sowie zu bestimmten dem Urheberrecht verwandten Schutzrechten7 mit Leben zu erfüllen; ferner in der Erwägung, dass angesichts der Tatsache, dass das Hauptziel dieser Empfehlung in der Förderung einer multiterritorialen Lizenzierung sowie in Empfehlungen zu deren Regulierung liegt, die Kommission mit Instrumenten des nicht zwingenden Rechts bestimmte politische Optionen umsetzt,

V. in der Erwägung, dass die Kommission in Betracht gezogen hat bzw. in Betracht zu ziehen scheint, in anderen Bereichen, in denen die Gemeinschaft Rechtsetzungsbefugnis hat - unter anderem bei Urheberrechtsabgaben und bei Obergrenzen für die Haftung von Rechnungsprüfern - Empfehlungen anzunehmen,

W. in der Erwägung, dass darüber hinaus auch das Projekt "Europäisches Vertragsrecht" in den Bereich der Rechtsinstrumente des nicht zwingenden Rechts fällt,

X. in der Erwägung, dass in den Fällen, in denen die Gemeinschaft Rechtsetzungsbefugnis hat, der politische Wille zur Einführung von Rechtsvorschriften aber offensichtlich fehlt, beim Einsatz von Rechtsinstrumenten des nicht zwingenden Rechts die Gefahr besteht, dass die eigentlich zuständigen Rechtsetzungsorgane umgangen werden, die Grundsätze der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit nach Artikel 6 des EU-Vertrags sowie der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit nach Artikel 5 des EG-Vertrags ausgehöhlt werden und die Kommission ihre Befugnisse überschreitet,

Y. in der Erwägung, dass Rechtsinstrumente des nicht zwingenden Rechts auch dazu führen können, dass in der Öffentlichkeit der Eindruck einer nicht nur bürgerfernen, sondern bürgerfeindlichen "Superbürokratie" ohne demokratische Legitimation entsteht, die bereit ist, Arrangements mit mächtigen Interessenvertretern zu treffen, wobei die Verhandlungen weder transparent noch für den Bürger nachvollziehbar sind, und dass legitime Erwartungen seitens betroffener Dritter (z.B. Verbraucher) entstehen, diese dann jedoch keine Möglichkeit haben, gegenüber Handlungen, die für sie nachteilige Rechtswirkungen haben, gerichtlichen Rechtsschutz zu erlangen,

Z. in der Erwägung, dass die Agenda für bessere Rechtsetzung nicht dafür missbraucht werden sollte, dass dem Exekutivorgan der Gemeinschaft die Möglichkeit eingeräumt wird, mit Rechtsinstrumenten des nicht zwingenden Rechts in der Praxis Recht zu setzen, wodurch unter Umständen die Rechtsordnung der Gemeinschaft untergraben wird, die Beteiligung des demokratisch gewählten Parlaments und die rechtliche Kontrolle durch den Gerichtshof umgangen wird und dem Bürger Rechtsmittel entzogen werden,

AA. in der Erwägung, dass kein Verfahren zur Konsultation des Europäischen Parlaments vorgesehen ist, soweit es um Vorschläge zum Gebrauch von Rechtsinstrumenten des nicht zwingenden Rechts wie Empfehlungen und Mitteilungen zu Auslegungsfragen geht;