Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht der Kommission der Europäischen Gemeinschaften über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit "Bessere Rechtsetzung 2007" (15. Bericht) KOM (2008) 586 endg.; Ratsdok. 13631/08

Übermittelt vom Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie am 01. Oktober 2008 gemäß § 2 des Gesetzes über die Zusammenarbeit von Bund und Ländern in Angelegenheiten der Europäischen Union vom 12. März 1993 (BGBl. I S. 313), zuletzt geändert durch das Föderalismusreform-Begleitgesetz vom 5. September 2006 (BGBl. I S. 2098).

Die Kommission der Europäischen Gemeinschaften hat die Vorlage am 26. September 2008 dem Bundesrat zugeleitet.

Die Vorlage ist von der Kommission am 29. September 2008 dem Generalsekretär/Hohen Vertreter des Rates der Europäischen Union übermittelt worden.


Hinweis: vgl.
Drucksache 390/07 (PDF) = AE-Nr. 070482 und
Drucksache 236/08 (PDF) = AE-Nr. 080301

Bericht der Kommission über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismässigkeit (15. Bericht "Bessere Rechtsetzung" 2007)

1. Einführung

Der vorliegende Jahresbericht über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit ist der 15. Bericht dieser Art, den die Kommission dem Europäischen Rat und dem Europäischen Parlament gemäß dem Protokoll im Anhang zum Vertrag über die Gründung der Europäischen Gemeinschaft vorlegt. Anders als in den letzten drei Jahren befasst sich dieser Bericht nicht mit Fragen der besseren Rechtsetzung im Allgemeinen, da diese in der Mitteilung "Zweite strategische Überlegungen zur Verbesserung der Rechtsetzung in der Europäischen Union"1 behandelt wurden.

Der Bericht befasst sich auch mit zwei Entwicklungen des Jahres 2007, die für die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit von Bedeutung sind: die Einsetzung eines Ausschusses für Folgenabschätzung, die dazu geführt hat, dass bei Folgenabschätzungen durch die Kommission Fragen der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit eingehender geprüft werden, und die Einigung auf einen neuen Vertrag, der nach seiner Ratifizierung den nationalen Parlamenten bei der Prüfung der Anwendung dieser beiden Grundsätze eine neue wichtige Rolle einräumen würde.

2. Rechtlicher und institutioneller Rahmen

2.1. Die Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit

Die Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit sind in Artikel 5 Absätze 2 und 3 des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (EG-Vertrag) allgemein definiert. Die Anwendung dieser beiden Grundsätze ist in Protokoll (Nr. 30) zum EG-Vertrag genauer erläutert.

Der Grundsatz der Subsidiarität ist maßgebend für die Abgrenzung der Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten von denen der EU (wer soll tätig werden?). Verfügt auf einem bestimmten Gebiet die Gemeinschaft über die ausschließliche Zuständigkeit, steht zweifelsfrei fest, wer tätig werden muss, und die Subsidiarität findet keine Anwendung. Teilen sich die Gemeinschaft und die Mitgliedstaaten die Zuständigkeit, so begründet dieser Grundsatz eindeutig eine Vermutung zugunsten der Dezentralisierung. Die Gemeinschaft sollte nur dann tätig werden, wenn die Ziele auf der Ebene der Mitgliedstaaten nicht ausreichend erreicht werden können (Erforderlichkeitsprüfung) und besser auf Gemeinschaftsebene erreicht werden können (Prüfung des Mehrwerts einer Gemeinschaftsmaßnahme bzw. Vergleich der Wirksamkeit).

Die Subsidiarität ist ein dynamisches Konzept mit der Folge, dass sich die Subsidiaritätsprüfung im Laufe der Zeit fortentwickelt. Es erlaubt der Gemeinschaft, ihre Tätigkeit im Rahmen ihrer Befugnisse auszuweiten, wenn die Umstände dies erfordern, es bedeutet andererseits aber auch, dass sie ihre Tätigkeit einschränken oder einstellen muss, wenn diese den Subsidiaritätskriterien nicht mehr genügen.2

Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ist maßgebend für die Festlegung der Art und Weise, in der die Gemeinschaft sowohl ihre ausschließliche als auch ihre geteilte Zuständigkeit ausübt (in welcher Form und mit welchen Mitteln soll die Gemeinschaft tätig werden?). Sowohl nach Artikel 5 EG-Vertrag als auch nach dem Protokoll dürfen die Maßnahmen nicht über das zum Erreichen der Ziele des Vertrags erforderliche Maß hinausgehen. Es muss für die Maßnahme optiert werden, die die geringsten Belastungen mit sich bringt.

2.2. Anwendungsweise, Gelegenheit zur Stellungnahme, nachträgliche Kontrolle

Sämtliche Organe der Gemeinschaft haben bei der Ausübung ihrer Befugnisse beide Grundsätze zu befolgen. Welche besonderen Verpflichtungen dabei zu beachten sind, ergibt sich aus Protokoll sowie aus der Interinstitutionellen Vereinbarung zur Subsidiarität von 19933. Einige der wichtigsten Punkte sind im Folgenden zusammengefasst, während die im Vertrag von Lissabon vorgesehenen Änderungen unter Punkt 4.1 vorgestellt werden.

Bevor die Kommission einen Vorschlag vorlegt, muss sie umfassende Anhörungen durchführen; sie muss außerdem in der Begründung eines jeden Vorschlags darlegen, inwiefern der betreffende Vorschlag den Grundsätzen der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit entspricht, und sie muss die daraus resultierende Belastung für die Gemeinschaft, die Regierungen der Mitgliedstaaten, die Gebietskörperschaften, die Wirtschaft und die Bürger mit berücksichtigen. Unter Punkt 3.1 wird erläutert, wie das Folgenabschätzungssystem der Kommission dazu beiträgt, dass bei allen wichtigen Vorschlägen die Aspekte der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit genauestens geprüft werden.

Das Europäische Parlament und der Rat müssen ihr Vorgehen unter dem Gesichtspunkt der Subsidiarität rechtfertigen, wenn sie an einem Kommissionsvorschlag Abänderungen vornehmen, die sich auf den Umfang der betreffenden Gemeinschaftsmaßnahme auswirken.4 Findet das Konsultationsverfahren oder das Verfahren der Zusammenarbeit Anwendung, muss der Rat gegenüber dem Europäischen Parlament seine Auffassung hinsichtlich der Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit begründen.5

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss und der Ausschuss der Regionen nehmen entweder anlässlich ihrer Anhörung oder auf eigene Initiative Stellung. Auch die Konferenz der Ausschüsse für Gemeinschafts- und Europa-Angelegenheiten (COSAC) kann zur Anwendung des Subsidiaritätsprinzips Stellung nehmen.6

Seit September 2006 leitet die Kommission ihre Vorschläge für Rechtsakte den nationalen Parlamenten zur Stellungnahme zu. Dabei geht es zwar längst nicht nur um die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit, aber viele Stellungnahmen der nationalen Parlamente betreffen eben diese Grundsätze.

Schließlich kann die Rechtmäßigkeit von Maßnahmen der Gemeinschaftsorgane unter dem Aspekt der Subsidiarität auch vom Gerichtshof und dem Gericht erster Instanz überprüft werden.

3. Anwendung der Grundsätze 2007

3.1 Folgenabschätzungen und Ausschuss für Folgenabschätzung

Die Berücksichtung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit gehört, sofern es um die Ausarbeitung neuer politischer Initiativen geht, zum Kommissionsalltag. Seit Folgenabschätzungen vorgenommen werden, hat die gezielte Überprüfung dieser Grundsätze nochmals eine neue Qualität erhalten. Die Folgenabschätzungen der Kommission tragen mit dazu bei, dass die Beschlussfassung im Rechtsetzungsprozess anhand fundierter Informationen erfolgt. Sie fördern die Qualität der Vorlagen, weil sie gewährleisten, dass die Rechtsetzungsinitiativen auf transparenten Fakten, Beiträgen von Stakeholdern und einer sorgfältigen Prüfung der wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Auswirkungen der verschiedenen Lösungswege für ein Problem beruhen. Die Subsidiaritäts- und Verhältnismäßigkeitsprüfung ist dabei ein Schlüsselaspekt.

Auch wenn die Folgenabschätzung zum festen Bestandteil der Arbeitsmethoden und der Beschlussfassung der Kommission geworden ist, ist letztere darauf bedacht, das System noch weiter zu verfeinern. Ein weiterer wichtiger Schritt nach vorn war die Einrichtung des Ausschusses für Folgenabschätzung (IAB) im November 2006, der die Qualität der von den Kommissionsdienststellen vorgenommenen Folgenabschätzungen durch eine unabhängige Beratung und Kontrolle sicherstellen soll7. Die Stellungnahmen des IAB sind - angefangen von der dienststellenübergreifenden Konsultation bis hin zur Annahme im Kollegium - förmlicher Bestandteil der kommissionsinternen Beschlussfassung. Nach Annahme der betreffenden Vorlage sind sie für die übrigen Organe und Institutionen sowie für die Allgemeinheit zugänglich. Der IAB mahnt in seinen Stellungnahmen häufig Nachbesserungen an zentralen Aspekten der Folgenabschätzungen - Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit inbegriffen - an. Einige Beispiele hierfür sind weiter unten unter Punkt 3.2 angeführt8.

Ausgehend von der Arbeit des IAB und einer externen Evaluierung des Konzepts der Folgenabschätzung hat die Kommission beschlossen, die Orientierungshilfe für die Subsidiaritäts- und Verhältnismäßigkeitsprüfung in dem überarbeiteten Leitfaden zur Folgenabschätzung, der im zweiten Halbjahr 2008 angenommen werden soll, praxisnaher zu gestalten. In dem Leitfaden werden in enger Anlehnung an das Protokoll Nr. 30 zum EG-Vertrag konkrete Fragen formuliert, auf die bei jeder Folgenabschätzung eingegangen werden muss. Die überarbeiteten Leitlinien sollen zudem verstärkt die Botschaft vermitteln, dass bei Folgenabschätzungen, auch wenn sie normalerweise Probleme betreffen, die auf EU-Ebene geregelt werden können, der Umstand berücksichtigt werden muss, dass die Probleme und Abhilfemaßnahmen je nach Mitgliedstaat oder Region unterschiedliche Wirkungen haben können9.

Die Neufassung soll mit dazu beitragen, dass die Kommission noch strengere und transparentere Maßstäbe an die Prüfung und Rechtfertigung ihrer Vorschläge anlegt. Dies ist deshalb wichtig, weil die nationalen gesetzgebenden Versammlungen mit dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon eine noch gewichtigere Rolle spielen werden.

3.2 Beispiele für die Anwendung der Grundsätze durch die Kommission

Es folgen einige Beispiele, die veranschaulichen, wie die Kommission die Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit ihrer Vorschläge in ihren Folgenabschätzungen geprüft und die Vorschläge daraufhin neu ausgerichtet oder ganz aufgegeben hat. 2007 wurden aufgrund der Ergebnisse der Folgenabschätzung zwei Vorlagen zum Gesellschaftsrecht gestoppt. Die erste Vorlage betraf eine mögliche Empfehlung zum angemessenen Verhältnis zwischen Kapital und Kontrolle in börsennotierten Unternehmen. Die Folgenabschätzung ergab, dass vom Standpunkt der Verhältnismäßigkeit aus betrachtet eine Richtlinie oder Empfehlung nicht zweifelsfrei das am wenigsten aufwändige Mittel war, um in den EU-Mitgliedstaaten das Risiko von Insidergewinnen zu mindern. Vielmehr würde das Zusammenspiel von Marktkräften, Regulierungsmaßnahmen der Mitgliedstaaten und bestehenden Rechtsvorschriften der Gemeinschaften ausreichen, und außerdem bestünde, solange keine Erfahrenswerte zur Existenz und zum Umfang von Aktionärsenteignungen vorlägen, die Gefahr, dass die Kosten zusätzlicher Maßnahmen den Nutzen für Emittenten und Mehrheitsaktionäre übersteigen könnten10.

Die zweite Vorlage im Bereich des Gesellschaftsrechts war die Richtlinie zur grenzüberschreitenden Verlegung des Unternehmenssitzes. Die Folgenabschätzung kam zu dem Ergebnis, dass Erkenntnisse über die Auswirkungen der bestehenden Rechtsvorschriften zur grenzüberschreitenden Mobilität (Richtlinie über grenzübergreifende Fusionen) noch ausstünden und dass sich demnächst auch der Gerichtshof zum Problem der Verlegung des Unternehmenssitzes äußern könnte. Die Richtlinie sei daher kein verhältnismäßiges Mittel zur Problemlösung; es sei besser abzuwarten, bis sich die Folgen dieser Entwicklungen besser abschätzen ließen und die Frage, ob und inwieweit die Union tätig werden soll, eindeutiger beantwortet werden könne11.

Eine Reihe von Vorschlägen wurde aufgrund der Prüfung durch den Ausschuss für Folgenabschätzung stark abgeändert. So wurde eine Initiative zur Verbesserung der Qualität der Lehrerbildung12 in Bezug auf die möglichen unterstützenden Maßnahmen seitens der EU angesichts der Kompetenzen der Mitgliedstaaten auf diesem Gebiet sehr viel klarer formuliert. Auch beim Aktionsplan zur Gewährleistung eines wirksamen konsularischen Schutzes in Drittländern13 wurde die Notwendigkeit eines Tätigwerdens auf EU-Ebene überprüft und am Ende für ein nicht ganz so ehrgeiziges Konzept optiert.

Der Vorschlag für eine Richtlinie zur Erleichterung der grenzübergreifenden Durchsetzung von Verkehrssicherheitsvorschriften bestand ursprünglich aus zwei separaten Teilen: während der erste Teil der Einrichtung eines effizienten grenzübergreifenden Systems zur Verfolgung von Geschwindigkeitsüberschreitungen in einem anderen Mitgliedstaat als dem Wohnsitzland des Fahrers dienen sollte, war der zweite Teil dazu gedacht, die einzelstaatlichen Durchsetzungsmaßnahmen im Bereich der Straßenverkehrssicherheit hinsichtlich der Zahl durchzuführender Kontrollen und der Überprüfung im Hinblick auf bereits registrierte Verkehrsdelikte anzupassen. In seiner Stellungnahme zum Entwurf der Folgenabschätzung forderte der IAB eine klare Trennung zwischen beiden Teilen sowie deren gesonderte Überprüfung im Hinblick auf deren Mehrwert sowie die Grundsätze der Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit. Im März 2008 nahm die Kommission einen Vorschlag an, in dem nur der erste Teil des ursprünglichen Entwurfs, nicht aber der Teil über die Anforderungen an die nationalen Durchsetzungsmaßnahmen berücksichtigt ist14.

4. Anwendung der Grundsätze durch sonstige Akteure

4.1 Nationale Parlamente

Der Vertrag von Lissabon würde nach seiner Ratifizierung die Rolle der nationalen Parlamente im EU-Gesetzgebungsverfahren in einigen Punkten verändern15. Eine der wichtigsten Neuerungen besteht darin, das Subsidiaritätsprinzip einer Exante-Kontrolle auf der politischen Ebene sowie einer rechtlichen Expost-Kontrolle zu unterwerfen. Die politische Exante-Kontrolle wäre durch ein Frühwarnsystem gewährleistet. Die nationalen Parlamente hätten dann die Möglichkeit, in Fällen, in denen ein Gesetzgebungsakt ihrer Ansicht nach nicht mit dem Subsidiaritätsprinzip in Einklang steht, eine begründete Stellungnahme abzugeben16. Sie würden systematisch über alle Entwürfe von Gesetzgebungsakten unterrichtet und hätten außer in begründeten dringenden Fällen acht Wochen Zeit, um ihren Standpunkt kund zu tun17. Je nach der Anzahl eingegangener begründeter Stellungnahmen sieht der Vertrag zwei Verfahrenswege vor - die "gelbe" und die "orange" Karte -, die die Überprüfung bzw. gegebenenfalls die Rücknahme des Vorschlags zur Folge hätten. In Bezug auf die rechtliche Expost-Kontrolle hätten die nationalen Parlamente und der Ausschuss der Regionen den neuen Vertragsbestimmungen zufolge die Möglichkeit, bei mutmaßlichen Verstößen gegen das Subsidiaritätsprinzip vor dem Europäischen Gerichtshof Klage zu erheben18.

Seit 2006 übermittelt die Kommission den nationalen Parlamenten bereits sämtliche neue Initiativen nach einem anderen, aber in mancherlei Hinsicht ähnlichen Verfahren, das ebenfalls eine Beantwortung der Stellungnahmen vorsieht19. Bis Dezember 2007 gingen bei der Kommission 166 Stellungnahmen von 25 nationalen Parlamenten aus 19 Mitgliedstaaten zu insgesamt 86 Kommissionsvorlagen ein.20.

Die Grundsätze der Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit spielten im Rahmen der von den nationalen Parlamenten aufgeworfenen Fragen eine wichtige Rolle. Nachfolgend seien einige Beispiele genannt:

Im Rahmen der beiden koordinierten Aktionen der COSAC zum Thema Subsidiarität, die Ende 2006 eingeleitet worden waren, wurden insgesamt 35 Stellungnahmen abgeben. 2007 fand anhand des Rahmenbeschlusses des Rates zur Terrorismusbekämpfung25 eine weitere Aktion dieser Art statt, an der sich bis Ende Januar 2008 29 von 40 gesetzgebenden Versammlungen beteiligt hatten. Der Zweck der Aktion bestand darin, die im Vertrag von Lissabon verankerten Verfahren zu simulieren, unabhängig davon, ob die Mehrheiten, die notwendig sind, um weitere Maßnahmen in Gang zu setzen, erreicht werden oder nicht. Das britische Unterhaus lehnte den Vorschlag mit Berufung auf das Subsidiaritätsprinzip ab, während der Bundestag seine Ablehnung mit dem Verhältnismäßigkeitsprinzip begründete. Eine Reihe von Parlamenten hielt die Begründung, warum das Subsidiaritätsprinzip gewahrt sei, für unzureichend. Alle gesetzgebenden Versammlungen stellten den Mehrwert eines Tätigwerdens der Union gegenüber den Maßnahmen des Europarats in Frage.

4.2 Europäisches Parlament und Rat

Das Europäische Parlament und der Rat beschäftigten sich mehrfach mit Fragen der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit.

Bei der Debatte um die Meeresstrategie-Rahmenrichtlinie führte das Parlament eine strengere, rechtlich verbindlichere Verpflichtung zur Ergebnisorientiertheit ein und änderte den Kommissionsvorschlag in erster Lesung entsprechend ab. Einige Mitgliedstaaten argumentierten anschließend, dass das Hauptziel der Richtlinie in der vom Parlament geänderten Fassung ("einen guten Zustand der Meeresumwelt zu erreichen und zu erhalten") möglicherweise dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz widerspreche. Sie hegten die Befürchtung, dass die Einführung der Rahmenrichtlinie unverhältnismäßig hohe Kosten nach sich ziehen könnte, und forderten daher die Aufnahme einer Klausel, die dies verhindert. In zweiter Lesung verständigte sich das Parlament auf eine neue Formulierung des Ziels der Richtlinie ("die notwendigen Maßnahmen ergreifen, um (...) zu erreichen") sowie eine Klausel, wonach den Mitgliedstaaten keine spezifischen Maßnahmen abverlangt werden sollten, wenn dies unter Berücksichtigung der Gefahren für die Meeresumwelt unverhältnismäßig hohe Kosten verursachen würde. Einige Mitgliedstaaten waren der Auffassung, dass diese kostenbezogene Rückzugsklausel selber unverhältnismäßig, weil übertrieben vorsichtig sei, und enthielten sich im Rat der Stimme, um zum Ausdruck zu bringen, dass die Richtlinie unnötigerweise entschärft worden sei.

Bei den Diskussionen im Rat im Dezember 2007 über die Bodenschutzrichtlinie war man bemüht, den Mitgliedstaaten einen möglichst großen Handlungsspielraum einzuräumen und die Kosten der Umsetzung möglichst gering zu halten. Dennoch argumentierten einige Mitgliedstaaten dass der Bodenschutz in die alleinige Zuständigkeit der Mitgliedstaaten falle und die Grundsätze der Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit nicht gewahrt seien. Der Rechtsausschuss des Europäischen Parlaments nahm zwar eine Stellungnahme an, in der der Vorschlag aus Gründen der Subsidiarität abgelehnt wurde, doch folgte das Europäische Parlament der Auffassung des Rechtsausschusses nicht.

Wie unter Punkt 2.2 ausgeführt, sollen Rat und Europäisches Parlament etwaige Änderungsvorschläge, die das Ausmaß gemeinschaftlichen Handelns berühren, unter dem Aspekt der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit prüfen. Die wenigen Abänderungen, bei denen dies derzeit geschieht, zeigen, dass es dem Europäischen Parlament und dem Rat größere Probleme bereitet, bei wichtigen Änderungsvorschlägen Folgenabschätzungen vorzunehmen, zumal wenn sie, bevor über sie abgestimmt wird, während der politischen Debatte nochmals abgeändert, getrennt oder zusammengefasst werden. Die für 2008 geplante Überprüfung des "Gemeinsamen Konzepts für die Folgenabschätzung"26 bietet dem Rat, dem Europäischen Parlament und der Kommission Gelegenheit, nach Möglichkeiten zu suchen, um die Folgenabschätzung von Abänderungen zu erleichtern.

4.3 Ausschuss der Regionen

Der Ausschuss der Regionen startete nach Abschluss der Testphasen 2005 und 2006 im März 2007 ein interaktives Netz für Subsidiaritätskontrolle. Das Netz richtet sich vordringlich an Gemeinden und regionale Körperschaften, doch sind auch EU- und nationale Institutionen eingeladen, sich zu beteiligen. Betrieben wird das Netz über eine interaktive Website27. Registrierte Teilnehmer werden per E-Mail benachrichtigt, wenn die Überprüfung einer neuen Kommissionsvorlage ansteht. Danach haben sie ca. sechs Wochen, um dem Ausschuss der Regionen (mittels eines elektronischen Formulars) ihre Kommentare zu übermitteln. Die elektronische Plattform dient auch dem Zweck, der Europäischen Kommission und dem Ausschuss der Regionen die Umsetzung ihrer Kooperationsvereinbarung vom November 2005 zu erleichtern, in der vorgesehen ist, dass beide Seiten die Themen ermitteln, die einer genaueren Betrachtung unter dem Aspekt der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit unterzogen werden müssen.

4.4 Gerichtshof

Im Jahr 2007 wurde die bisherige Rechtsprechung zu den Grundsätzen der Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit bestätigt. Das Gericht erster Instanz machte im Rahmen zweier Rechtssachen interessante Ausführungen (in Form eines "obiter dictum") zur Subsidiarität sowie zur Anwendbarkeit des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit im Wettbewerbsbereich.

In der Rechtssache T- 374/04 Bundesrepublik Deutschland gegen Kommission28 verknüpfte das Gericht die der Kommission obliegende Beweislast bei der Ausübung ihrer Kontrollbefugnisse mit dem Grundsatz der Subsidiarität. Das Gericht prüfte einen Einspruch Deutschlands gegen eine Kommissionsentscheidung zum nationalen Plan für die Zuteilung von Zertifikaten für Treibhausgas-Emissionen, in der die Kommission die deutschen Vorschriften über nachträgliche Anpassungen nach unten mit dem Hinweis verwarf, sie würden gegen die Richtlinie 2003/87/EG29 verstoßen. Dabei prüfte es die Rechtmäßigkeit des von der Kommission gezogenen Schlusses, Deutschland hätte gegen die Anforderungen der Richtlinie verstoßen. In seinem Urteil beschäftigte sich das Gericht mit der Verteilung der Zuständigkeiten zwischen Kommission und Mitgliedstaaten in diesem Sektor. Es befand, dass es bei Fehlen einer klaren und genauen gemeinschaftsrechtlichen Vorgabe der Form und der Mittel, die die Mitgliedstaaten zu verwenden haben, um die Wirksamkeit von Richtlinien zu gewährleisten, der Kommission obliege nachzuweisen, dass die vom Mitgliedstaat hierzu eingesetzten Instrumente gegen Gemeinschaftsrecht verstoßen. Wenn es in einem Bereich eine geteilte Zuständigkeit zwischen Gemeinschaft und Mitgliedstaaten gebe, so obliege die Beweislast, in welchem Umfang die Zuständigkeiten des Mitgliedstaats beschränkt sind, der Kommission. Das Gericht kam letztendlich zu dem Schluss, dass die Kommission rechtlich nicht hinreichend habe nachweisen können, dass die nachträglichen Anpassungen den Zielen des EG-Vertrages zuwiderliefen, und erklärte daher den entsprechenden Teil der Entscheidung für nichtig.

In der Rechtssache Minin gegen Kommission30 bestätigte das Gericht erster Instanz seine Urteilsbegründung in den Rechtssachen Yusuf und Ayadi31. Darin wird klargestellt, dass der Grundsatz der Subsidiarität nicht im Hinblick auf wirtschaftliche Sanktionen gegenüber Drittländern gilt. Das Gericht führt jedoch weiter aus, dass, selbst wenn dieser Grundsatz Anwendung fände, "offenkundig [sei], dass die einheitliche Umsetzung der Resolutionen des Sicherheitsrats in den Mitgliedstaaten auf Gemeinschaftsniveau besser verwirklicht werden kann als auf nationalen Niveau".

In der Rechtssache Alrosa32 wandte das Gericht erster Instanz den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit erstmals auf Entscheidungen gemäß Artikel 9 der Verordnung (EG) Nr. 1/0333 zur Durchführung der EG-Wettbewerbsregeln an. Der Artikel betrifft Verpflichtungszusagen der Unternehmen, die von der Kommission für bindend erklärt wurden. Im vorliegenden Fall geht es um einen der Kommission gemeldeten Vertrag zwischen zwei auf dem Weltmarkt für die Gewinnung und Lieferung von Rohdiamanten tätigen Unternehmen. Eines dieser Unternehmen verpflichtete sich gegenüber der Kommission, von seinem Vertragspartner keine Ware mehr zu beziehen. Diese Zusage wurde von der Kommission in einer Entscheidung gemäß Artikel 9 für rechtlich bindend erklärt. Die andere Vertragspartei ging gegen die Entscheidung unter anderem mit dem Argument vor, dass ein völliger Bezugsstopp unverhältnismäßig sei. Das Gericht bestätigte, dass die Kommission, auch wenn in Artikel 9 der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht ausdrücklich erwähnt sei, diesen Grundsatz zu beachten habe, da es sich um einen allgemeinen Grundsatz des Gemeinschaftsrechts handele. Es befand, dass die völlige Untersagung von Geschäftsbeziehungen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verletze, und erklärte daher die Entscheidung für nichtig34.

5. Fazit

Die obigen Ausführungen lassen sich wie folgt zusammenfassen: Erstens haben die Akteure 2007 auf nationaler und auf europäischer Ebene jeweils das Ihrige dazu getan, um sicherzustellen, dass die Vorschläge der Gemeinschaft auf ihre Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit hin überprüft werden. Es hat sich gezeigt, dass in diesem Punkt keine Probleme bestehen. Zweitens wird an verschiedenen Stellen an einer Verbesserung des Prüfverfahrens gearbeitet: in der Kommission durch eine vertiefte Folgenabschätzung, aber auch in den nationalen Parlamenten und im Ausschuss der Regionen. Drittens zeigt der Umstand, dass von den nationalen Parlamenten und den EU-Organen ähnliche Fragen aufgeworfen werden, einen zunehmenden Konsens über das Verständnis von Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit in der Praxis. Die Kommission wird diese Entwicklungen weiterhin aufmerksam verfolgen.

Anhang 1
Zahl der Stellungnahmen von nationalen Parlamenten

Nationale gesetzgebende Versammlungen Eingegangene Stellungnahmen
1 FR Sénat 40
2 DE Bundesrat 21
3 UK House of Lords 18
4 SE Riksdag 17
5 PT 13
6 DK Folketing 12
7 CZ Senat 11
8 IE (Joint EU Committee) 5
9 NL (Beide Kammern) 3
10 DE Bundestag 3
11 LT Seimas 3
12 FR Assemblée nationale2
13 BE Sénat 2
14 UK House of Commons 2
15 HU 2
16 LUX 2
17 EE Riigikogu 2
18 CZ Abgeordnetenhaus 1
19 IT Camera dei Deputati 1
20 BE Chambre des Représentants 1
21 PL Sejm 1
22 PL Senat 1
23 FI 1
24 SI 1
25 SK 1
Insgesamt: 166