Unterrichtung durch das Europäische Parlament
Entschließung des Europäischen Parlaments vom 20. Oktober 2010 zu der Bedeutung des Mindesteinkommens für die Bekämpfung der Armut und die Förderung einer integrativen Gesellschaft in Europa

Zugeleitet mit Schreiben des Generalsekretärs des Europäischen Parlaments - 113050 - vom 11. November 2010. Das Europäische Parlament hat die Entschließung in der Sitzung vom 20. Oktober 2010 angenommen.

Das Europäische Parlament,

A. in der Erwägung, dass die Sozialagenda der Europäischen Kommission für den Zeitraum 2005-2010 das Jahr 2010 zum "Europäischen Jahr zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung" erklärt hat, um das politische Engagement der EU, das am Anfang der Lissabon-Strategie steht, nachdrücklich zu bekräftigen und zu untermauern und Maßnahmen zu ergreifen, die "entscheidend zur Armutsbekämpfung beitragen",

B. in der Erwägung, dass durch Armut und soziale Ausgrenzung die Menschenwürde und grundlegende Menschenrechte verletzt werden und dass das zentrale Ziel von Systemen zur Einkommensstützung darin bestehen muss, die Armut zu überwinden und Menschen ein Leben in Würde zu ermöglichen,

C. in der Erwägung, dass trotz des wirtschaftlichen Wohlstands und aller Erklärungen über die Armutsverringerung die sozialen Unterschiede größer geworden sind und Ende 2008 17 % der Bevölkerung (bzw. etwa 85 Millionen Menschen) nach Bezug von Sozialleistungen 14 unterhalb der Armutsgrenze lebten, während dieser Prozentsatz 2005 noch bei 16 % und 2000 in der EU 15 bei 15 % lag,

D. in der Erwägung, dass die Armutsgefährdungsquote bei Kindern und Jugendlichen bis zu einem Alter von 17 Jahren höher ist als bei der Gesamtbevölkerung, in der Erwägung, dass sie sich 2008 in der EU27 auf 20 % belief, wobei die höchste Quote 33 % betrug,

E. in der Erwägung, dass ältere Menschen ebenfalls stärker von Armut bedroht sind als die Gesamtbevölkerung, in der Erwägung, dass 2008 etwa 19 % der Bevölkerung der EU27 über 65 Jahre von Armut betroffen waren, während diese Werte 2005 19 % und 2000 17 % betrugen,

F. in der Erwägung, dass das konstant hohe Ausmaß prekärer Arbeitsverhältnisse und niedriger Löhne in bestimmten Sektoren bedeutet, dass der Prozentsatz der von Armut bedrohten Arbeitnehmer auf hohem Niveau stagniert, in der Erwägung, dass in der EU27 im Jahr 2008 durchschnittlich 8 % der erwerbstätigen Bevölkerung von Armut bedroht waren, während 2005 Werte von 8 % und 2000 von 7 % in der EU 15 verzeichnet wurden,

G. in der Erwägung, dass der Rat den Mitgliedstaaten in der Empfehlung 92/441/EWG vom 24. Juni 1992 empfiehlt, den grundlegenden Anspruch jedes Menschen auf ausreichende Sozialhilfeleistungen und Zuwendungen für ein menschenwürdiges Leben anzuerkennen, in der Erwägung, dass der Rat den Mitgliedstaaten in seiner Empfehlung 92/442/EWG vom 27. Juli 1992 empfiehlt, Mittel in einem mit der menschlichen Würde zu vereinbarenden Umfang zu garantieren, in der Erwägung, dass der Rat in seinen Schlussfolgerungen vom 17. Dezember 1999 die Förderung der sozialen Einbeziehung als eines der Ziele für die Modernisierung und die Verbesserung der sozialen Sicherheit angenommen hat,

H. in der Erwägung, dass Frauen wegen Arbeitslosigkeit, allein zu bewältigenden Fürsorgepflichten, prekärer und schlecht bezahlter Arbeitsverhältnisse und der Diskriminierung bei Löhnen und der niedrigeren Renten und Pensionen einen erheblichen Teil der von Armut bedrohten Bevölkerung ausmachen,

I. in der Erwägung, dass das Risiko extremer Armut für Frauen größer ist als für Männer, in der Erwägung, dass der anhaltende Trend zur Feminisierung der Armut in der europäischen Gesellschaft zeigt, dass der derzeitige Rahmen der Sozialschutzsysteme und die breite Palette der europäischen Sozial-, Wirtschafts- und Beschäftigungsmaßnahmen nicht darauf ausgelegt sind, weder die Bedürfnisse von Frauen noch die Unterschiede bezüglich der Tätigkeiten von Frauen zu berücksichtigen, in der Erwägung, dass die Armut von Frauen und ihre soziale Ausgrenzung in Europa spezifische, vielfältige und geschlechterbezogene politische Maßnahmen erfordert,

J. in der Erwägung, dass das Risiko extremer Armut für Frauen, insbesondere im Alter, größer ist als für Männer, weil die sozialen Sicherungssysteme oft auf dem Grundsatz einer kontinuierlichen bezahlten Beschäftigung beruhen, in der Erwägung, dass ein individuelles Recht auf ein Mindesteinkommen als Schutz gegen Armut nicht von beschäftigungsbezogenen Beiträgen abhängen sollte,

K. in der Erwägung, dass die Jugendarbeitslosigkeit auf ein nie da gewesenes Niveau gestiegen ist und in der Europäischen Union 21,4 % beträgt, darunter 7,6 % in den Niederlanden, 44,5 % in Spanien und 43,8 % in Lettland, und dass Jugendlichen angebotene Ausbildungsgänge und Praktika oft unbezahlt oder schlecht vergütet sind,

L. in der Erwägung, dass in der Europäischen Union einer von fünf Jugendlichen unter 25 Jahren keine Arbeit hat und dass die über 55 jährigen Arbeitnehmer zu den am stärksten von der Arbeitslosigkeit betroffenen Unionsbürgern gehören und darüber hinaus mit dem spezifischen und schwerwiegenden Problem konfrontiert sind, dass die Chancen auf einen Arbeitsplatz mit zunehmenden Alter sinken,

M. in der Erwägung, dass die Finanz- und Wirtschaftskrise zu einem Arbeitsplatzabbau, der sich nach Schätzungen auf Arbeitsplatzverluste von mehr als 5 Millionen seit September 2008 beläuft, sowie zu einer Zunahme prekärer Arbeitsverhältnisse geführt hat,

N. in der Erwägung, dass keine offiziellen europäischen Daten über Fälle von extremer Armut wie Obdachlosigkeit vorliegen, weshalb es schwierig ist, die aktuellen Trends zu verfolgen,

O. in der Erwägung, dass das Europäische Jahr zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung Gelegenheit bieten soll, die Aufmerksamkeit auf die Armut und die damit verbundene soziale Ausgrenzung zu lenken und die Maßnahmen dagegen zu verbessern, die aktive soziale Einbeziehung zu fördern und dazu ein angemessenes Einkommen, den Zugang zu qualitativ hochwertigen Dienstleistungen und Konzepte zur Unterstützung menschenwürdiger Arbeit sicherzustellen, was eine gerechte Verteilung der Einkommen und des Reichtums sowie Maßnahmen erfordert, die unionsweit und zwischen den europäischen Regionen einen wirksamen wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt sichern, und ist der Ansicht, dass Mindesteinkommen ein geeignetes Sicherheitsnetz für gefährdete Menschen am Rande der Gesellschaft bieten können,

P. in der Erwägung, dass für das Europäische Jahr zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung folgende Ziele und Leitlinien gelten: Anerkennung der Rechte, gemeinsame Verantwortung und Teilhabe, Zusammenhalt, Engagement und konkrete Maßnahmen,

Q. in der Erwägung, dass die wirtschaftlichen und finanziellen Gegebenheiten in der EU27 korrekt bewertet werden müssen, um die Mitgliedstaaten zu veranlassen, eine Mindesteinkommensschwelle festzusetzen, die zur Verbesserung der Lebensstandards beitragen und dennoch weiterhin wettbewerbsfördernd wirken würde,

R. in der Erwägung, dass sich die Europäische Union verpflichtet hat, die UN-Millenniumsziele und die Resolution zu erfüllen, mit der die Zweite Dekade der Vereinten Nationen für die Beseitigung der Armut (2008-2017) verkündet wurde,

S. in Erwägung der vielfältigen Aspekte, die Armut und soziale Ausgrenzung ausmachen, der besonders gefährdeten Bevölkerungsgruppen (Kinder, Frauen ältere Menschen, Menschen mit Behinderung und andere), einschließlich Zuwanderer, ethnische Minderheiten, Familien mit vielen Kindern oder Alleinerziehende, chronisch Kranke oder Obdachlose, sowie der Notwendigkeit, Maßnahmen und Instrumente zur Verhütung und Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung in andere europäische Politikfelder einzubeziehen, in der Erwägung, dass man Leitlinien für die Mitgliedstaaten festlegen muss, um diese in die nationalen politischen Maßnahmen zu integrieren, um qualitativ hochwertige Sozialsicherungs- und Sozialschutzsysteme sowie den allgemeinen Zugang zu zugänglichen öffentlichen Infrastrukturen und qualitativ hochwertigen öffentlichen Leistungen der Daseinsvorsorge, zu qualitativ hochwertigen und mit Arbeitnehmerrechten verbundenen Arbeitsplätzen und zu einem der Armutsprävention dienenden garantierten Mindesteinkommen zu gewährleisten, das jedem Menschen soziale, kulturelle und politische Teilhabe sowie ein menschenwürdiges Leben ermöglicht,

T. in der Erwägung, dass sich der überaus hohe Verbreitungsgrad der Armut nicht nur auf den sozialen Zusammenhalt in Europa auswirkt, sondern auch auf die europäische Wirtschaft, da die ständige Ausgrenzung großer Teile der Gesellschaft die Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft schwächt und den Druck auf die öffentlichen Haushalte erhöht,

U. in der Erwägung, dass - insbesondere im Zusammenhang mit der Strategie Europa 2020 - ein globales Ziel festgelegt werden muss, indem der wirtschaftliche soziale und territoriale Zusammenhalt und der Schutz der grundlegenden Menschenrechte Vorrang haben, was unter Berücksichtigung der sich dramatisch ändernden Abhängigkeitsrate ein Gleichgewicht zwischen Wirtschafts-, Beschäftigungs-, Sozial-, Regional- und Umweltpolitik und eine gerechte Verteilung des Reichtums und der Einkommen erfordert, und somit in der Erwägung, dass für alle Entscheidungen Abschätzungen der sozialen Folgen vorgenommen werden müssen und die im Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union vorgesehene soziale Querschnittsklausel (Artikel 9) anzuwenden ist,

V. in der Erwägung, dass die Achtung der Menschenwürde ein Grundprinzip der Europäischen Union ist, deren Handeln darauf abzielt, die Vollbeschäftigung und den sozialen Fortschritt zu fördern, soziale Ausgrenzung und Diskriminierung zu bekämpfen sowie die soziale Gerechtigkeit und den sozialen Schutz zu fördern;

W. in der Erwägung, dass der Einsatz, die Erhöhung und die bessere Verwendung der Strukturfonds für die Armutsprävention, die soziale Einbeziehung und die Schaffung von qualitativ hochwertigen und mit Arbeitnehmerrechten verbundenen zugänglichen Arbeitsplätzen gewährleistet werden muss,

X. in der Erwägung, welche Rolle die Sozialschutzsysteme dabei spielen, das für die Entwicklung notwendige Niveau des sozialen Zusammenhalts mit dem Ziel der sozialen Einbeziehung zu sichern und die sozialen Folgen der Wirtschaftskrise abzufangen, was bedeutet, ein der Armutsprävention dienendes individuell garantiertes Mindesteinkommen auf nationaler Ebene vorzusehen, das Qualifikations- und Bildungsniveau derjenigen Menschen, die Gefahr laufen, aufgrund des Wettbewerbsdrucks des Marktes vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen zu werden, zu heben und auf dem Arbeitsmarkt und bei der Ausübung der Grundrechte Chancengleichheit zu gewährleisten,

Y. in der Erwägung, dass die Einführung und Stärkung von Mindesteinkommenssystemen wichtig und wirksam ist, wenn es darum geht, Armut durch die Förderung der sozialen Einbeziehung und des Zugangs zum Arbeitsmarkt sowie dadurch zu überwinden, dass ein menschenwürdiges Leben ermöglicht wird,

Z. in der Erwägung, dass Mindesteinkommenssysteme ein wichtiges Instrument sind, um Menschen, die die Folgen von sozialer Ausgrenzung und Arbeitslosigkeit überwinden müssen, Sicherheit zu bieten und den Zugang zum Arbeitsmarkt zu fördern, in der Erwägung, dass solche Mindesteinkommenssysteme eine wichtige Rolle spielen bei der Umverteilung des Reichtums und der Gewährleistung von Solidarität und sozialer Gerechtigkeit und, insbesondere in Krisenzeiten, antizyklisch wirken, indem sie zusätzliche Ressourcen zur Stärkung der Nachfrage und des Verbrauchs im Binnenmarkt zur Verfügung stellen,

AA. in der Erwägung, dass laut einer kürzlich durchgeführten Umfrage von Eurobarometer zur Haltung der EU-Bürger zur Armut die meisten Befragten (73 %) der Meinung sind, dass sich die Armut in ihrem jeweiligen Land ausbreitet, dass 89 % von ihren Regierungen dringende Maßnahmen zur Armutsbekämpfung fordern und 74 % von der EU erwarten, dass sie in diesem Zusammenhang ebenfalls eine wichtige Rolle übernimmt,

AB. in Erwägung der in gesellschaftlicher Hinsicht schmerzlichen Auswirkungen der Wirtschaftskrise, infolge derer in den letzten beiden Jahren über 6 Mio. Unionsbürger arbeitslos wurden,

AC. in Erwägung der Schwere der wirtschaftlichen und sozialen Krise und ihrer Auswirkungen auf die Verschärfung der Armut und der sozialen Ausgrenzung mit einem Anstieg der Arbeitslosigkeit (von 6,7 % Anfang des Jahres 2008 auf 9,5 % Ende des Jahres 2009) und einer Langzeitarbeitslosigkeit, von der inzwischen einer von drei Arbeitslosen betroffen ist, wobei diese Situation in Ländern mit einer anfälligeren Volkswirtschaft noch kritischer ist,

AD. in der Erwägung, dass einige Mitgliedstaaten vom Rat und von der Kommission sowie von internationalen Organisationen wie dem IWF gezwungen werden, ihre Haushaltsdefizite, die infolge der Krise angestiegen sind, in kurzer Zeit zu verringern, und dass diese Mitgliedstaaten ihre Ausgaben einschließlich der Sozialausgaben kürzen, wodurch der Sozialstaat geschwächt und die Armut verschärft wird,< /p>

AE. in Erwägung der Verschärfung der sozialen Ungleichheiten in einigen Mitgliedstaaten, die insbesondere auf die wirtschaftliche Ungleichheit bei der Verteilung der Einkommen und des Reichtums zurückzuführen sind, sowie der Ungleichheiten auf dem Arbeitsmarkt mit sozialer Prekarität, der Ungleichheiten beim Zugang zu den Sozialaufgaben des Staates, u.a. soziale Sicherheit, Gesundheit, Bildung, Justiz,

AF. in Erwägung der Durchführung der europäischen Politik für die soziale Eingliederung, insbesondere der Ziele und des Anfang des 21. Jahrhunderts im Rahmen der Lissabon-Strategie gebilligten einschlägigen Europäischen Programms, das die Anwendung der offenen Methode der Koordinierung und gemeinsame Ziele, die im Rahmen nationaler Aktionspläne zu verwirklichen sind, vorsieht,

AG. in der Erwägung, dass es in allen Mitgliedstaaten der Europäischen Union aus diversen Gründen viele Obdachlose gibt, was spezielle Maßnahmen zu ihrer Eingliederung in die Gesellschaft erfordert,