Antrag des Landes Berlin
Entwurf eines Gesetzes zur Reform des Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetzes

Punkt 22 der 892. Sitzung des Bundesrates am 10. Februar 2012

Der Bundesrat möge beschließen:

Zum Gesetzentwurf allgemein

Der Bundesrat bittet, im weiteren Verlauf des Gesetzgebungsverfahrens eine zeitliche Befristung des Gesetzes zu prüfen und die neuen Gesetzesbestimmungen zu gegebener Zeit zu evaluieren.

Begründung:

Der Gesetzentwurf geht davon aus, dass das Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz (KapMuG) sich grundsätzlich bewährt habe und nur an einigen Stellen der Korrektur bedürfe, um dem Anspruch gerecht zu werden, ein praktikables Verfahren zur effektiven gerichtlichen Handhabung von Massenklagen mit kapitalmarktrechtlichem Bezug zur Verfügung zu stellen. Diese Einschätzung geht auf eine Studie der Frankfurt School of Finance und Management zurück, die im Auftrag des Bundesministeriums der Justiz erstellt wurde und unter dem Titel "Kollektiver Rechtsschutz im Kapitalmarktrecht" im Frankfurt School Verlag erschienen (ISBN 978-3-940913-15-9) ist. Diese positive Beurteilung wird von der gerichtlichen Praxis überwiegend nicht geteilt.

Es gibt zahlreiche Hinweise aus der obergerichtlichen Praxis, dass das Gesetz in der Vergangenheit vielfach zu dem unzulässigen Zweck missbraucht wurde, den Einzelprozess in den Ausgangsverfahren zu verzögern und eine möglichst hohe Vergleichssumme zu erreichen. Insbesondere liegen bisher keine ausreichend belastbaren gerichtlichen Entscheidungen vor, aus denen sich entsprechend positive Schlussfolgerungen ableiten ließen. Es ist verfrüht, einem Gesetz, dass im Zeitraum seiner ursprünglich geplanten Gültigkeit zu keiner nennenswerten rechtskräftigen Entscheidung geführt hat, so dass insbesondere die Auswirkungen eines rechtskräftigen Musterentscheides auf die ausgesetzten Ausgangsverfahren überhaupt noch nicht beurteilt werden können, in dieser Weise Erfolg zu bescheinigen.

Es ist einzuräumen, dass der nunmehr vorgelegte Gesetzentwurf einige Probleme angeht, die in der Vergangenheit in der praktischen Anwendung des Gesetzes offenbar geworden sind. Dies gilt insbesondere für die Einführung des "optout-Modells" zur Förderung von Vergleichsschlüssen und andere auf eine Beschleunigung und Rationalisierung des Verfahrens ausgerichtete Neuregelungen. Ob diese Neuregelungen allerdings ausreichen, dieses Gesetz zu einem sinnvollen und praktikablen Instrument zu machen, kann zum derzeitigen Zeitpunkt nicht beurteilt werden.

Die Sinnhaftigkeit der Idee, ein Modell für einen kollektiven Rechtsschutz zu entwickeln, wird hier nicht in Frage gestellt. Die sich dabei stellenden Fragen sind aber naturgemäß sehr komplex und in der gerichtlichen Praxis wenig erprobt. Sie verlangen den an dem Musterverfahren beteiligten Richtern ein hohes Abstraktions- und Organisationsvermögen, ein hohes Maß an Verantwortung sowie einen Höchsteinsatz ihrer Arbeitskraft ab. Dies ist nur gerechtfertigt, wenn das Gesetz auch den Erfolg bei der Bewältigung von Masseklageverfahren und die Rückwirkungen auf die verbesserte Durchsetzung der zivil- und kapitalmarktrechtlichen Informations- und Verhaltensregeln für Emittenten am Kapitalmarkt zeitigt, denen es in seiner Zielsetzung verpflichtet ist.

Dies ist bisher nicht der Fall. Der Evaluationsbericht der Frankfurt School of Finance and Management, der das Gesetz insgesamt positiv würdigt, legt eindrucksvoll dar, dass ein wesentliches Ziel des KapMuG, die Effektivierung des Rechtsschutzes am Kapitalmarktrecht, bisher nicht erreicht wurde. Insbesondere die Frage der sinnvollen Beteiligung von Kleinanlegern an dem Prozessergebnis eines Musterverfahrens bzw. der Finanzierung ihrer Teilnahme an dem Verfahren ist bisher nicht gelöst. Bei einer großzügig angenommenen fiktiven Erfolgswahrscheinlichkeit von 50 Prozent ist eine Klageerhebung nur dann rational, wenn der durchzusetzende Anspruch höher ist als die damit verbundenen Gerichts- und Anwaltskosten durch die voraussichtlich erforderlichen Instanzen. Dies ist nach dem genannten Gutachten derzeit erst bei einer Anspruchshöhe von 15 500 Euro der Fall. Das heißt für Anleger mit kleineren Investitionen rechnet sich die Klageerhebung in der Regel nicht.

Um diesem Problem beizukommen und damit das KapMuG zu dem effektiven Rechtsschutzinstrument zu machen, das es nach der ursprünglich Zielsetzung des Gesetzes mitsamt seiner beabsichtigten ordnungspolitischen Steuerungswirkung in Bezug auf die Einhaltung der zivil- und kapitalmarktrechtlichen Informations- und Verhaltensregeln für Emittenten am Kapitalmarkt werden sollte, sind nachhaltige Verbesserungen des Gesetzes erforderlich. Dies könnte durch eine einfachere Teilnahme der Kapitalanleger an den Ergebnissen eines Musterverfahrens als durch förmliche Klageerhebung, durch alternative Finanzierungsmodelle oder die Liberalisierung der Vorschriften zu anwaltlichen Erfolgshonoraren geschehen. Die Überlegungen dazu stehen noch ganz am Anfang. Sie können jedenfalls nicht in diesem Gesetzgebungsverfahren bewältigt werden.

Der Bundesrat hält es deshalb für notwendig, eine erneute Befristung des beabsichtigten Gesetzes zu prüfen und es zu gegebener Zeit einer weiteren Evaluierung zuzuführen. Erst nach dem rechtskräftigen Abschluss wenigstens einiger Musterverfahren nebst Ausgangsverfahren ist eine zuverlässige Bewertung möglich. Nur so kann sichergestellt werden, dass das jetzt politisch gewünschte Ergebnis - Erfolg des KapMuG - nicht ohne ausreichende empirische Grundlage festgeschrieben wird und eine grundsätzliche Überprüfung der Sinnhaftigkeit und zielführenderer Alternativen weiterhin stattfindet.