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Regelwerk Arbeitsschutz; Arbeits- und Sozialrecht

Merkblatt zur Berufskrankheit Nr. 2110
"Bandscheibenbedingte Erkrankungen der Lendenwirbelsäule durch langjährige, vorwiegend vertikale Einwirkung von Ganzkörperschwingungen im Sitzen, die zur Unterlassung aller Tätigkeiten gezwungen haben, die für die Entstehung, die Verschlimmerung oder das Wiederaufleben der Krankheit ursächlich waren oder sein können Merkblatt für die ärztliche Untersuchung"

März 1993
(BArbBl. 3/93 S. 55aufgehoben)



Zur aktuellen Fassung

Zur Übersicht in der Anlage 1 der BKV

I. Gefahrenquellen

Bandscheibenbedingte Erkrankungen der Lendenwirbelsäule (LWS) haben eine multifaktorielle Ätiologie. Sie sind weit verbreitet und kommen in allen Altersgruppen, sozialen Schichten und Berufsgruppen vor. Unter den beruflichen Faktoren, die bandscheibenbedingte Erkrankungen der LWS verursachen und verschlimmern können, stellt die langjährige (vorwiegend vertikale) Einwirkung von Ganzkörper-Schwingungen im Sitzen eine besondere Gefahrenquelle dar. Derartigen beruflichen Belastungen der LWS können vor allem Fahrer von folgenden Fahrzeugen und fahrbaren Arbeitsmaschinen ausgesetzt sein:

Dagegen sind z.B. bei Fahrern von Taxis, Gabelstaplern auf ebenen Fahrbahnen sowie bei Fahrern von LKW mit schwingungsgedämpften Fahrersitzen keine hinreichend gesicherten gesundheitsschädigenden Auswirkungen durch Schwingungen beobachtet worden.

Andere bandscheibengefährdende Faktoren im Arbeitsprozeß sind insbesondere langjähriges Heben und Tragen schwerer Lasten (vgl. BK-Nr. 2108).

Als konkurrierende Faktoren sind Fehlbelastungen der LWS durch außerberufliche Tätigkeiten wie Eigenleistungen beim Hausbau, schwere Gartenarbeit, bestimmte Sportarten (z.B. Motorrad-Geländesport) und einseitig die Wirbelsäule belastende Trainigungsmethoden in der Freizeit zu beachten.

II. Pathophysiologie

Die Zwischenwirbelabschnitte der unteren LWS sind beim Menschen schon während des gewöhnlichen Tagesablaufes erheblich belastet. Da die blutgefäßlosen Bandscheiben hinsichtlich ihrer Ernährung besonders von den Diffusionswegen abhängen, sind sie für mechanische Dauerbelastungen anfällig. Anhaltende Kompressionsbelastung und starke Schwingungsbelastung reduzieren die druckabhängigen Flüssigkeitsverschiebungen und beeinträchtigen damit den Stoffwechsel im Bandscheibengewebe. Durch Laktatakkumulation und pH-Verschiebung zu sauren Werten wird ein Milieu erzeugt, das Enzyme der Zytolyse aktiviert. Damit werden degenerative Veränderungen eingeleitet oder beschleunigt. In diesem Milieu werden die restitutiven Prozesse gehemmt.

Unter Belastung durch mechanische Ganzkörper-Schwingungen erhöht sich der variierende intradiskale Druck um ein Mehrfaches. So führen insbesondere Resonanzschwingungen des Rumpfes und der Wirbelsäule, die vorwiegend bei erregenden Schwingungsfrequenzen zwischen 3 und 5 Hz auftreten, nicht nur zu vertikalen Relativbewegungen zwischen den Wirbelkörpern mit Stauchungen und Streckungen der Zwischenwirbelscheiben, sondern darüber hinaus auch zu Rotationsbewegungen der Segmente und zu horizontalen Segmentverschiebungen. Stoßhaltige Schwingungsbelastungen, also Schwingungsverläufe mit einzelnen oder wiederholten, stark herausragenden Beschleunigungsspitzen, stellen eine besonders hohe Gefährdung dar. Nach biomechanischen Berechnungen können dabei Kompressionskräfte erreicht werden, die im Experiment an menschlichen Wirbelsäulenpräparaten Mikrofrakturen der Deckplatten der Wirbelkörper sowie Einrisse am Anulus fibrosus der Bandscheibe verursachen.

Eingetretene Schäden am Bandscheibengewebe sind irreversibel. Es kommt zu einem Prozeß, in dem Bandscheibendegeneration, degenerative Veränderungen der Wirbelkörperdeckplatten, Massenverschiebungen im Bandscheibeninneren, Instabilität im Bewegungssegment, Bandscheibenprotrusion, Bandscheibenvorfall, knöcherne Ausziehungen an den vorderen und seitlichen Randleisten der Wirbelkörper, degenerative Veränderungen der Wirbelgelenke sowie durch derartige Befunde hervorgerufene Beschwerden und Funktionsstörungen in einem ätiopathogenetischen Zusammenhang zu betrachten sind.

Die durch berufliche Einwirkungen bedingten degenerativen Prozesse können zu objektivierbaren Veränderungen wie Chondrose, Osteochondrose, Spondylose, Spondylarthrose, Bandscheibenprotrusion und Bandscheibenprolaps führen.

Die pathophysiologischen Erkenntnisse werden durch zahlreiche epidemiologische Studien gestützt, die belegen, daß Berufsgruppen mit langjähriger Einwirkung intensiver Ganzkörper-Schwingungen im Sitzen eine signifikant höhere Prävalenz bandscheibenbedingter Erkrankungen gegenüber den nichtbelasteten Kontrollgruppen zeigen.

Langjährige Belastungen durch intensive GanzkörperSchwingungen führen nämlich zu einer Linksverschiebung der Beziehung zwischen Erkrankungshäufigkeit und Alter gegenüber den nichtbelasteten Vergleichspopulationen; d. h. zu einer erheblichen Vorverlagerung in die jüngeren Altersgruppen auf einem deutlich höheren Niveau.

III. Krankheitsbild und Diagnose

Folgende bandscheibenbedingte Erkrankungen können unter bestimmten Bedingungen durch Heben und Tragen schwerer Lasten oder Arbeiten in extremer Rumpfbeugehaltung verursacht werden:

  1. Lokales Lumbalsyndrom:
    Akute Beschwerden (Lumbago) oder chronisch-rezidivierende Beschwerden in der Kreuz-Lenden-Gegend. Bei letzteren werden ein Belastungs-, ein Entlastungs sowie ein Hyperlordose-Kreuzschmerz (facettensyndrom) unterschieden. Möglich ist auch eine pseudoradikuläre Schmerzausstrahlung in die Oberschenkelmuskulatur.

    Pathomechanismus: Mechanische Irritation des hinteren Längsbandes (z.B. durch intradiskale Massenverschiebung), der Wirbelgelenkkapsel und des Wirbelperiosts.

    Drei Gesichtspunkte der Diagnosesicherung sind zu beachten:

    Bei der Diagnostik eines lokalisierbaren Schmerzpunktes in einem Wirbelsäulensegment müssen auch die Bewegungsstörung, die Schmerzausstrahlung und die neurologische Irritation diesem Segment zugeordnet werden können, erst dann kann eine vertebragene Ursache angenommen werden. Die Differentialdiagnostik ist dringend erforderlich, um wirbelsäulenabhängige Beschwerden abzugrenzen von extravertebralen Ursachen.

  2. Mono- und polyradikuläre lumbale Wurzelsyndrome ("Ischias"):

    Tabelle 1: Leitsymptome bei lumbalen Wurzelsyndromen (nach Krärner 1986)

    Segment  Peripheres Schmerz- und Hypästhesiefeld Motorische Störung (Kennmuskel) Reflexabschwächung  Nervendehnungszeichen
    LI/L2 Leistengegend     Femoralisdehnungsschmerz
    L3 Vorderaußenseite Oberschenkel Quadrizeps Patellarsehnerireflex Femoralisdehnungsschmerz
    L4 Vorderaußenseite Oberschenkel, Innenseite Unterschenkel und Fuß Quadrizeps Patellarsehnerireflex positives Lasègue Zeichen
    L5 Außenseite Unterschenkel, medialer Fußrücken, Großzehe - Extensor hallucis longus   positives Lasègue Zeichen
    SI Hinterseite Unter- schenkel, Ferse, Fußaußenrand, 3.-5. Zehe Tricepes surae, Glutäen Achillessehnenreflex positives Lasègue Zeichen

    Pathomechanismus: Mechanische Irritation der Nervenwurzel L3 - Sl durch degenerative Veränderungen der lumbalen Bandscheiben (Bandscheibenvorwölbung und -vorfall, Lockerung und Volumenänderung der Bandscheiben, Instabilität im Bewegungssegment, Randzacken an den Hinterkanten der Wirbelkörper).

    Es kommen auch hohe lumbale Wurzelsyndrome (Ll und L2) infolge einer Kompression der ventralen Spinalnervenäste vor, sie sind insgesamt jedoch selten.

  3. Kaudasyndrom:
    Sonderform der polyradikulären lumbalen Wurzelsyndrome mit Reithosenanästhesie, Fehlen des Achillessehnenreflexes bei Schwäche der Wadenmuskeln, Schließmuskelinsuffizienzen von Blase und Mastdarm; auch Potenzstörungen kommen vor. Bei höherliegender Läsion: Fuß- und Zehenheberparesen, Quadrizepsschwächen und Patellarsehenreflexausfälle. In aller Regel handelt es sich beim bandscheibenbedingten Kaudakompressionssyndrom um ein akutes Ereignis. Pathomechanismus: Medianer Massenprolaps bei L3/L4 oder L4/L5 mit Kompression aller Nervenwurzeln der Cauda equina.

    Die Diagnose wird auf der Grundlage der Vorgeschichte, der klinischen (vorwiegend orthopädisch-neurologischen) und der radiologischen Untersuchung gestellt. Veränderungen im Röntgenbild wie eine Verschmälerung des Zwischenwirbelraumes und eine Verdichtung der Deck- und Grundplatten der Wirbelkörper (Osteochondrose) oder Veränderungen der kleinen Wirbelgelenke (Spondylarthrose) und Randwülste an den Wirbelkörpern (Spondylose) können auf bandscheibenbedingte Erkrankungen hinweisen. Ohne entsprechende chronisch-rezidivierende Beschwerden und Funktionseinschränkungen begründen sie für sich allein keinen Verdacht auf das Vorliegen einer Berufskrankheit, da solche Veränderungen auch bei Beschwerdefreien nachweisbar sein können.

    Bei der klinischen Untersuchung stehen Inspektion, Palpation, Funktionsprüfung und ein orientierender neurologischer Status im Vordergrund. Gegebenenfalls sind weiterführende diagnostische Verfahren wie Elektromyographie, Myelographie, Computertomographie, Kernspintomographie oder Diskographie indiziert.

    Auf eine sorgfältige Befunddokumentation ist zu achten (z.B. Meßblatt für die Wirbelsäule nach der eutral-Null-Methode).
    Differentialdiagnostisch sind u. a. abzugrenzen:

Extravertrebral 
  • gynäkologische Krankheiten
  • urologische Krankheiten
  • Krankheiten des Verdauungssystems
  • hüftbedingte Schmerzen Koxalgie)
  • Erkrankungen des Ileosakralgelenkes
  • Tumoren (z.B. retroperitoneal)
  • Spritzenschädigung
  • diabetische Neuropathie
  • arterielle Durchblutungs  störungen in den Beinen
  • Aortenaneurysma
  • statische Beinbeschwerden durch Fußdeformierungen, Achsenabweichungen
    oder Beinlängendifferenzen
  • Neuropathien
  • psychosomatische Erkrankungen
Vertebral 
  • Angeborene oder  erworbene Fehlbildungen der LWS
  • Spondylolisthesis
  • Spondylitis
  • Tumor (Metastase)
  • Osteoporose
  • Fraktur
  • Kokzygodynie
  • Wirbelfehlbildungen
  • Idiopathische Wirbelkanalstenose
  • Fluorose(BK-Nr. 1308)
  • Morbus Paget
  • Morbus Bechterew

IV. Weitere Hinweise

Die Beurteilung von bandscheibenbedingten Erkrankungen der Lendenwirbelsäule im Hinblick auf berufliche Entstehungsursachen stellt sich sowohl für den Arzt als auch aus der Sicht des Versicherten nicht selten als schwieriges Problem dar. Der wichtigste Grund dafür ist die Tatsache, daß degenerative Veränderungen der Wirbelsäule auch unabhängig von Schwingungsbelastung und körperlich schwerer Arbeit vorkommen und mit zunehmendem Lebensalter häufiger werden.

Voraussetzung für die Annahme eines beruflichen Kausalzusammenhanges ist eine langjährige, in der Regel mindestens zehnjährige, wiederholte Einwirkung von (vorwiegend vertikalen) Ganzkörper-Schwingungen in Sitzhaltung. Dabei muß nach dem derzeitigen wissenschaftlichen Kenntnisstand davon ausgegangen werden, daß die gesundheitliche Gefährdung von der gesamten beruflichen Schwingungsbelastung abhängt. Diese setzt sich aus der Gesamtzahl der Expositionstage mit Beurteilungsschwingstärken K r - 16,2! nach VDI 2057 (Tagesdosis) zusammen. Zur Orientierung kann die Abbildung 1 dienen. Sofern Belastungen durch stoßhaltige Schwingungen oder solche mit ungünstiger Körperhaltung (verdrehte, stark gebeugte oder seitgeneigte Rumpfhaltung) vorliegen, die zu erhöhter Gefährdung führen, sind Expositionstage mit K r - 12,5 ! zu berücksichtigen. Unter stoßhaltigen Schwingungen versteht man Schwingungsabläufe, die regelmäßig oder unregelmäßig wiederholt vorkommende, hohe Beschleunigungsspitzen beinhalten, die aus der Grundschwingung in erheblichem Maße herausragen (Analogie: impulshaltiger Lärm).

Als medizinische Voraussetzungen sind chronisch oder chronisch-rezidivierende Beschwerden und Funktionseinschränkungen zu fordern, die therapeutisch nicht mehr voll kompensiert werden können und die den geforderten Unterlassungstatbestand begründen.

V. Literatur

Zur Übersicht in der Anlage 1 der BKV

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