Beschluss des Bundesrates
Grünbuch der Kommission der Europäischen Gemeinschaften über die Kompetenzkonflikte und den Grundsatz ne bis in idem in Strafverfahren KOM (2005) 696 endg.; Ratsdok. 5381/06

Der Bundesrat hat in seiner 824. Sitzung am 7. Juli 2006 gemäß §§ 3 und 5 EUZBLG die folgende Stellungnahme beschlossen:

1. Zum Regelungsbedürfnis

Das Grünbuch befasst sich mit positiven Kompetenzkonflikten, also den Fällen, in denen Behörden mehrerer Mitgliedstaaten den gleichen Sachverhalt untersuchen und für ihr jeweiliges Verfahren einen Vorrang annehmen. Mit dem Vorschlag, Regelungen zur Lösung dieses Konflikts einzuführen, soll der Gefahr begegnet werden, dass es unter Berücksichtigung des nebisinidem-Grundsatzes zu zufälligen oder willkürlichen Ergebnissen kommt, wenn ein Gericht des einen Mitgliedstaats früher als ein Gericht des anderen Mitgliedstaats eine rechtskräftige Entscheidung fällt. Wegen des in Artikel 54 des Schengener Durchführungsübereinkommens (SDÜ) statuierten Verbots der doppelten Strafverfolgung müsse der andere Staat seine Verfolgung beenden.

Dies laufe im Ergebnis auf ein Wettrennen nach dem Motto "Wer zuerst kommt, mahlt zuerst" hinaus.

In der deutschen Praxis stellt sich das Problem grenzüberschreitender positiver Kompetenzkonflikte allerdings als wenig dringlich dar.

Zwar ist es in der Vergangenheit durchaus auch zu positiven Kompetenzkonflikten gekommen doch dürfte ihre Zahl gegenüber negativen Kompetenzkonflikten eher selten sein. Die Mitgliedstaaten sehen sich nicht selten außer Stande, in bestimmten Fällen Ermittlungen selbst einzuleiten oder durchzuführen bzw. von anderen Mitgliedstaaten dort eingeleitete Ermittlungsverfahren zu übernehmen. Dies hat mannigfaltige Ursachen. Neben rechtlichen Gründen, die etwa darin liegen können, dass ein Täter nicht auf dem Territorium des betreffenden Mitgliedstaats gehandelt hat, scheinen vor allem tatsächliche Gründe eine nicht unwesentliche Rolle zu spielen. In Ländern, in denen das Legalitätsprinzip nicht gilt, wird regelmäßig der voraussichtliche Ermittlungsaufwand in einen Zusammenhang mit dem zu erwartenden Ergebnis gestellt.

Auch wird in Erwägung gezogen, ob es das betreffende Delikt oder die betreffende Kriminalitätsform vorrangig zu verfolgen gilt, oder ob - aus welchen Gründen auch immer - andere Prioritäten zu setzen sind. Die Vielzahl der aus zum Teil nicht nachvollziehbaren Gründen nicht oder mit wenig befriedigendem Ergebnis erledigten Anzeigen zum Zwecke der Strafverfolgung (Artikel 21 des Europäischen Rechtshilfeübereinkommens) zeigt, dass hier ein nicht unbeachtliches Problem besteht.

Die relative Seltenheit positiver Kompetenzkonflikte liegt möglicherweise darin begründet dass Artikel 55 SDÜ gerade in solchen Fällen, in denen ein Mitgliedstaat - nicht zuletzt als Ausprägung seiner nationalen Souveränität - ein besonderes Interesse an einer eigenen Strafverfolgung hat, Ausnahmen von dem Verbot der doppelten Strafverfolgung zulässt und daher relevante Konflikte nicht entstehen.

Lässt danach bereits die geringe praktische Relevanz des Problems positiver Kompetenzkonflikte das Erfordernis eines Rechtsakts der EU als sehr fraglich erscheinen so gilt dies erst recht in Ansehung der dem Grünbuch zu Grunde liegenden Prämisse, wonach die Mehrfachverfolgung im Widerspruch zu den Rechten und Interessen der Betroffenen stehe. Fälle, in denen Beschuldigte, Opfer und Zeugen tatsächlich wegen derselben Tat in mehreren Ländern vernommen oder gar vor Gericht geladen werden, sind in der Praxis absolute Ausnahmen. Solche Einzelfälle erscheinen nicht geeignet, ein Bedürfnis für ein "Verweisungsverfahren" - gegebenenfalls mit gerichtlicher Überprüfbarkeit der Zuweisung an ein "geeignetes" Gericht - zu begründen, das mit zusätzlichem Verfahrensaufwand, insbesondere aber mit der mit dem Beschleunigungsgrundsatz (Artikel 6 Abs. 1 EMRK) unvereinbaren nahe liegenden Gefahr einer wesentlichen Verzögerung der Strafverfolgung verbunden wäre.

Dies gilt umso mehr angesichts des Umstands, dass in den praktisch besonders relevanten Fällen "konkurrierender" Strafverfolgung, nämlich den Fällen grenzüberschreitender Kriminalität, insbesondere grenzüberschreitender Organisierter Kriminalität, jedenfalls für das Stadium des Ermittlungsverfahrens "parallele Ermittlungen" in mehreren Staaten sachgerecht und vielfach im Interesse einer umfassenden Sachverhaltsaufklärung und einer effektiven Strafverfolgung sachdienlich oder sogar notwendig sind. Die Strafverfolgung geschieht hier regelmäßig - wenn auch gegebenenfalls zeitweise formal "konkurrierend" - in enger Abstimmung unter den beteiligten Strafverfolgungsbehörden der einzelnen Staaten. Die jeweiligen Ermittlungsergebnisse werden im Wege der Rechtshilfe ausgetauscht.

Über die Frage, in welchem Staat letztlich die öffentliche Klage erhoben wird, lässt sich regelmäßig problemlos Einvernehmen erzielen.

Die EU verfügt über keine einheitliche Strafrechtsordnung und wird diese auf absehbare Zeit auch nicht erhalten. Jeder Staat bestimmt außerdem die Reichweite seiner Strafgewalt selbstständig. Dies hat in weiten Bereichen zu einem engmaschigen Netz sich überlagernder Strafgewalten geführt. Die bestehenden Vertragswerke und Rechtsakte nehmen darauf nicht nur Rücksicht. Sie zielen vielfach sogar ausdrücklich darauf ab, es einem Straftäter unmöglich zu machen sich in einen Staat ohne einschlägige Strafgewalt abzusetzen. Dieser Netzgedanke führt zu konkurrierenden Verfolgungskompetenzen ohne Rücksicht auf die im Einzelfall tatsächlich bestehenden Verfolgungsmöglichkeiten.

Wird ein Beschuldigter nunmehr in einem Staat verfolgt, dessen materielles Strafrecht in diesem Sinne auf die ihm zur Last gelegte Tat anwendbar ist, kann darin schwerlich ein Akt der Willkür gesehen werden.

Aus diesen Gründen ist ein Bedürfnis für ein zwingendes "Verweisungsverfahren" nicht erkennbar. Denkbar wäre allenfalls eine Obliegenheit der Mitgliedstaaten, positive Kompetenzkonflikte nach bestimmten Grundsätzen einvernehmlich zu regeln. Ob dies indes einen Rechtsakt der Gemeinschaft rechtfertigt erscheint sowohl aus europarechtlicher als auch aus inhaltlicher Sicht fraglich.

2. Zur Regelungskompetenz für die vorgeschlagenen Maßnahmen

Eine EU-Regelung verstieße aus den vorgenannten Gründen zum einen gegen das Subsidiaritätsprinzip. Die in dem Grünbuch vorgeschlagenen Maßnahmen würden zum anderen zumindest zum Teil Rechtsinstrumente erforderlich machen weil dadurch u. a. für die Gerichte und die Behörden der Mitgliedstaaten verbindliche Verfahrens- und Zuständigkeitsregelungen aufgestellt würden bzw. das Strafverfolgungshindernis ne bis in idem modifiziert würde.

Nach dem Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung müssten sie sich daher auf eine Kompetenzgrundlage stützen lassen.

Die in Erwägung gezogene Streitbeilegung bzw. Mediation bei Kompetenzkonflikten durch eine europäische Stelle wäre wohl noch durch die in Artikel 31 Abs. 2 Buchstabe a EUV Eurojust zugewiesene Koordinierungsfunktion gedeckt, allerdings nur, soweit Eurojust damit beauftragt wird. Gegen die Einrichtung einer neuen Streitschlichtungsstelle bestehen indessen wegen der ausdrücklichen Zuweisung der Koordinierungsaufgaben an Eurojust erhebliche Bedenken. Die "langfristig" in Erwägung gezogene Befugnis einer EU-Behörde zur verbindlichen Streitentscheidung würde in jedem Fall, wie die Kommission einräumt die o. a. Kompetenz überschreiten, weil diese sich auf einen Beitrag zur Koordinierung der Strafverfolgungsbehörden beschränkt. Gleiches gilt für die langfristig in Betracht gezogene Nachprüfung der Zuständigkeit durch ein EU-Gericht.

3. Kriterien zur Bestimmung der Strafgewalt

Mangels einheitlicher materiellstrafrechtlicher Bestimmungen erscheint es kaum denkbar, die bestehenden Strafgewalten von vornherein auf eine einzige zu reduzieren. Die Problematik konkurrierender Strafansprüche lässt sich jedoch auch auf andere Art und Weise lösen. Ein Weg ist ein Doppelverfolgungsverbot, wie es sich derzeit in den Artikeln 54 ff. SDÜ und den Artikeln 1 ff. des Übereinkommens zwischen den Mitgliedstaaten der EG über das Verbot der doppelten Strafverfolgung findet. Ein anderer Ansatz ist das Anrechnungsprinzip, wie es etwa § 51 Abs. 3 und 4 StGB und Artikel 56 SDÜ enthalten. Das Zusammentreffen mehrerer nationaler Strafgewalten könnte jedoch auch durch einen sie bewertenden Entscheidungsprozess ausgeglichen werden.

Ein Ansetzen bei den Strafgewalten hat den Vorzug einer Lösung bereits in einem frühen Verfahrensstadium. Die hierbei zu treffende Entscheidung kann sowohl abstraktgenerell als auch individuellkonkret erfolgen.

Der abstraktgenerelle Weg wird regelmäßig bei der Bestimmung des Anwendungsbereichs nationalen Strafrechts gewählt. Dort kommen abstrakte Prinzipien wie Schutz-, Personalitäts- und Weltrechtsprinzip oder der Grundsatz der stellvertretenden Strafrechtspflege zur Anwendung. Diese gegeneinander abzuwägen führt zu keiner den Besonderheiten des Einzelfalls Rechnung tragenden Betrachtungsweise. Eine individuellkonkrete Betrachtung, wie sie Artikel 17 des Europäischen Auslieferungsübereinkommens und Artikel 16 des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl vorsehen, ermöglicht dagegen eine umfassende Bewertung. Dieser Weg erscheint vorzugswürdig, sofern überhaupt der Ansatz einer positiven Kompetenzabgrenzung gewählt werden soll.

Sinnvoller Weise kann es dabei nur darum gehen, materielle Kriterien zur Bestimmung der besten Strafgewalt zu entwickeln. Dabei ist ein Ausgleich zwischen transnationalen Verfolgungsinteressen einerseits und individualrechtlichen Belangen der verfolgten Person andererseits zu suchen.