Stellungnahme des Bundesrates
Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des § 522 der Zivilprozessordnung

Der Bundesrat hat in seiner 881. Sitzung am 18. März 2011 beschlossen, zu dem Gesetzentwurf gemäß Artikel 76 Absatz 2 des Grundgesetzes wie folgt Stellung zu nehmen:

1. Zu Artikel 1 Nummer 1 Buchstabe a (§ 522 Absatz 2 Satz 1 ZPO)

Artikel 1 Nummer 1 Buchstabe a ist wie folgt zu fassen:

'a) Satz 1 wird wie folgt gefasst:

"Das Berufungsgericht hat die Berufung durch einstimmigen Beschluss unverzüglich zurückzuweisen, wenn es davon überzeugt ist, dass

Begründung:

Es ist zu begrüßen, dass dem Berufungsgericht die Möglichkeit eröffnet werden soll, trotz unbegründeter Berufung und fehlender rechtlicher Bedeutung der Sache mündlich zu verhandeln. Jedoch sollte dies als Ausnahmevorschrift ausgestaltet und die Einschätzung, ob eine mündliche Verhandlung erforderlich ist, dem nicht revisiblen Ermessen des Berufungsgerichts überlassen werden.

Nach dem Gesetzentwurf bliebe offen, ob der Bundesgerichtshof einen Zurückweisungsbeschluss möglicherweise aufheben kann oder gar muss, weil seiner Ansicht nach die Durchführung einer mündlichen Verhandlung einem "anerkennenswerten Bedürfnis" des Berufungsgerichts entsprochen hätte.

Die Voraussetzung, dass eine mündliche Verhandlung "nicht angemessen" ist, wäre weitgehend konturlos. Nach der Entwurfsbegründung soll dies "insbesondere" in Fällen von "existentieller Bedeutung", aber auch dann der Fall sein, wenn das Urteil erster Instanz im Ergebnis richtig, aber unzutreffend begründet ist. Dies lässt erwarten, dass die Berufungsführer sich in ihren Ausführungen statt auf die Frage der Begründetheit der Berufung im Wesentlichen darauf konzentrieren werden darzulegen, warum die Berufung von existentieller Bedeutung oder aus anderen Gründen eine Entscheidung ohne mündliche Verhandlung unangemessen ist. Das Berufungsgericht wird dann wegen der Konturlosigkeit des Merkmals auch bei unbegründeter Berufung aus Sicherheitsgründen in der Regel in die mündliche Verhandlung gehen müssen.

Dies wäre sowohl aus Sicht der Parteien als auch der Rechtspflege nicht hinnehmbar:

Wenn die Berufung unbegründet ist, das Gericht aber gleichwohl terminiert, wird der Rechtsschutz für den Berufungsbeklagten verzögert, obwohl dieser in erster Instanz ein obsiegen des Urteil erlangt hat und das Berufungsgericht das Urteil einstimmig für zutreffend hält. Beim Berufungskläger werden unberechtigte Hoffnungen erweckt. Vor allem aber werden für ihn höhere Gebühren anfallen, wenn die unbegründete Berufung erst in der mündlichen Verhandlung zurückgenommen oder durch Urteil nach mündlicher Verhandlung zurückgewiesen wird. Zudem verliert er in der Regel die bisher aufgrund des Hinweisbeschlusses nach § 522 Absatz 2 Satz 2 ZPO bestehende Möglichkeit zu erfahren, warum das Gericht seine Berufung für unbegründet hält und darauf nach Beratung mit seinem Rechtsanwalt zu reagieren. Vielmehr wird er die Gründe häufig erst in der mündlichen Verhandlung erfahren und dann kurzfristig und in der Regel ohne umfassende Prüfung entscheiden müssen, ob er die Berufung zurücknimmt oder ein die Berufung zurückweisendes Urteil in Kauf nimmt. Zugleich würde beim Gericht wieder zunehmend ein Terminstau verursacht, zumal zu erwarten ist, dass sich die Zahl der Berufungen aufgrund der Neuregelung wieder erhöhen wird. Im Ergebnis könnte das Berufungsgericht seine Kräfte nicht mehr wie bisher auf die Berufungen konzentrieren, die Aussicht auf Erfolg haben.

Gewichtige Gründe für diese Änderung sind nicht zu erkennen.

Insbesondere lässt sich die Änderung des § 522 Absatz 2 ZPO entgegen ihrer Begründung nicht damit rechtfertigen, dass ein Oberverwaltungsgericht gemäß § 130a VwGO über eine Berufung durch Beschluss entscheiden kann, wenn es sie einstimmig für begründet oder einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält, und dass den Beteiligten gegen den Beschluss das Rechtsmittel zusteht, das zulässig wäre, wenn das Gericht durch Urteil entschieden hätte. Denn die Berufung gegen ein verwaltungsgerichtliches Urteil erfordert zunächst die Zulassung, für die eine der Voraussetzungen gemäß § 124 Absatz 2 Nummer 1 bis 5 VwGO, die weitgehend mit § 522 Absatz 2 Satz 1 Nummer 1 bis 3 ZPO korrespondieren, vorliegen muss.

Das Oberverwaltungsgericht entscheidet über die Zulassung durch Beschluss, der nicht anfechtbar ist; lehnt es die Zulassung ab, wird das verwaltungsgerichtliche Urteil rechtskräftig (124a Absatz 5 VwGO). Die Voraussetzungen sind insoweit nicht vergleichbar.

Dennoch ist das Anliegen, dem Gericht in eng begrenzten Ausnahmefällen trotz unbegründeter Berufung die Möglichkeit der mündlichen Verhandlung zu eröffnen, gerechtfertigt, etwa in Fällen, in denen aus Sicht des Berufungsgerichts wegen der besonderen Betroffenheit einer Partei eine mündliche Erörterung der beabsichtigten Beschlusszurückweisung angezeigt ist, oder um zur Vermeidung weiterer Streitigkeiten zwischen den Parteien notwendige Vergleichsverhandlungen einleiten zu können.

Um dem Gericht diese Möglichkeit zu eröffnen, ohne zugleich die mündliche Verhandlung entgegen den Intentionen der Berufungsreform wieder zum Regelfall werden zu lassen, sollte die mündliche Verhandlung in den Fällen des § 522 Absatz 2 ZPO wieder ermöglicht werden, indessen nur als Ausnahmefall und nach der nicht revisiblen Einschätzung des Berufungsgerichts. Dies wird durch die Ausgestaltung als Ausnahmevorschrift und durch das Abstellen auf die Auffassung des Berufungsgerichts umgesetzt. Ferner wird durch die vorgeschlagene Änderung erreicht, dass die Durchführung der mündlichen Verhandlung nicht von (nur) einem Angehörigen des Spruchkörpers durchgesetzt werden kann, vielmehr an eine Mehrheitsentscheidung gebunden ist.

Eine alternativ in Betracht kommende Ausgestaltung als Ermessensvorschrift würde dieses Ergebnis nicht vollständig erreichen, weil in diesem Fall die Ermessensausübung revisibel wäre.

2. Zu Artikel 1 Nummer 1 Buchstabe b (§ 522 Absatz 2 Satz 4 ZPO), Nummer 2 (§ 522 Absatz 3 ZPO)

Artikel 1 Nummer 1 Buchstabe b und Nummer 2 ist zu streichen.

Begründung:

Die vorgesehene Einführung der Nichtzulassungsbeschwerde gegen Zurückweisungsbeschlüsse nach § 522 Absatz 2 Satz 1 ZPO - vorerst ab einem Streitwert von 20 000 Euro würde entgegen den erfolgreich verwirklichten - Intentionen des Gesetzes zur Reform des Zivilprozesses (Zivilprozessreformgesetz - ZPO-RG) vom 27. Juli 2001 (BGBl. I S. 1887) dazu führen, dass wieder vermehrt Berufungen zur Verfahrensverzögerung eingelegt würden und die Berufungskläger in diesen Fällen die Möglichkeit haben würden, die Verfahren über Gebühr zu verlängern. Zugleich steht zu erwarten, dass das Ziel der Reform die Vereinheitlichung der Anwendungspraxis des § 522 Absatz 2 Satz 1 ZPO - mit der Einführung der Nichtzulassungsbeschwerde nicht erreicht werden kann. Sie ist daher ebenso wie die daraus folgende Erweiterung des Begründungszwangs für Zurückweisungsbeschlüsse abzulehnen.

Wird der Zurückweisungsbeschluss wie ein Urteil anfechtbar, so kann der Eintritt der Rechtskraft von der unterlegenen Partei in gleicher Weise verzögert werden wie im Urteilsverfahren. Gegenüber der durchschnittlichen Dauer eines Nichtzulassungsbeschwerdeverfahrens beim Bundesgerichtshof fällt die durch den Fortfall der mündlichen Verhandlung noch erzielbare Verfahrensbeschleunigung von allenfalls einigen Wochen kaum ins Gewicht. Insgesamt würde sich die Verfahrensdauer durch die wieder vermehrt durchzuführenden mündlichen Verhandlungen im Durchschnitt wieder erhöhen. Die generelle Anfechtbarkeit von Entscheidungen der Berufungsgerichte würde auch den Anreiz wieder erhöhen, Berufung gegen ein erstinstanzliches Urteil einzulegen. Deshalb wäre zudem mit einem Anstieg der Zahl der Berufungen zu rechnen. Auch dies würde ohne aufgrund der Haushaltslage nicht absehbare Personalverstärkung zu einer Erhöhung der durchschnittlichen Verfahrensdauer führen. Parteien, die dringend auf die rasche Rechtskraft eines in erster Instanz erstrittenen Titels angewiesen sind, etwa Unternehmen aus der mittelständischen Wirtschaft, die berechtigte Ansprüche gegen einen die Zahlung verweigernden oder verzögernden Schuldner geltend machen, würden die Folgen besonders zu spüren bekommen.

Es ist auch nicht zu erwarten, dass die Einführung einer Nichtzulassungsbeschwerde der regional unterschiedlichen Praxis der Beschwerdezurückweisung entgegen wirken würde.

Wie in der Entwurfsbegründung zu Recht ausgeführt wird, könnte auf die Nichtzulassungsbeschwerde hin der Bundesgerichtshof gemäß § 522 Absatz 3 ZPO-E in Verbindung mit den §§ 543, 544 ZPO zunächst lediglich das Vorliegen von Revisionszulassungsgründen nach § 543 Absatz 2 ZPO prüfen. Er wäre also darauf beschränkt festzustellen, ob das Berufungsgericht zu Unrecht angenommen hat, dass die Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung habe und dass die Fortbildung des Rechts und die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Revisionsgerichts nicht erforderten.

Es ist aber in keiner Weise erkennbar, dass die unterschiedliche Anwendungspraxis der Gerichte auf einer unterschiedlichen Auslegung der Rechtsbegriffe der grundsätzlichen Bedeutung und der Erforderlichkeit für die Fortbildung des Rechts und für die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung beruhen würden. Im Gegenteil entspricht es der Erfahrung der gerichtlichen Praxis, dass die unterschiedliche Anwendungshäufigkeit eher mit einer verschiedenen Prüfungsintensität in der Phase vor Anberaumung einer mündlichen Verhandlung zusammenhängt, die wiederum tendenziell mit dem jeweiligen Arbeitsstil des Richters (mehr auf mündliche Verhandlung versus mehr auf schriftliches Verfahren bezogen) zusammenhängt. Dies wird auch dadurch belegt, dass die Anwendungsquote nicht nur regional, sondern auch innerhalb ein und desselben Gerichts von Spruchkörper zu Spruchkörper unterschiedlich ist.

Gegen die Einführung der Nichtzulassungsbeschwerde spricht zudem, dass diese entgegen der Annahme des Gesetzentwurfs sehr wohl zu einer erheblichen Mehrbelastung der Berufungsgerichte führen wird, ohne dass dies, wie bereits ausgeführt, in der Sache gerechtfertigt wäre.

Die Überprüfbarkeit des Zurückweisungsbeschlusses durch das Revisionsgericht stellt höhere Anforderungen an die Begründung der Entscheidung. Denn diese muss in Verbindung mit dem Ersturteil alle den Rechtsfolgenausspruch tragenden tatsächlichen Feststellungen lückenlos enthalten. Deshalb gleicht der Gesetzentwurf insoweit konsequent die Anforderungen an die Beschlussbegründung auch den Anforderungen an die Urteilsbegründung an (§ 522 Absatz 2 Satz 4 ZPO-E entsprechend § 540 Absatz 1 Satz 1 Nummer 1 ZPO).

Es versteht sich von selbst, dass die Fertigung einer revisiblen Entscheidung mehr Zeitaufwand erfordert als die Begründung einer rechtskräftigen Entscheidung. Zwar werden im Verfahren gemäß § 522 Absatz 2 ZPO kaum neue Tatsachenfeststellungen in Betracht kommen, weil sich diese lediglich auf erst in der Berufungsinstanz schriftsätzlich unstreitig gestellte Tatsachen beziehen könnten. Gleichwohl werden die Tatsachenfeststellungen für die revisionsgerichtliche Prüfung häufig detaillierter aufzubereiten und die rechtliche Begründung der Entscheidung zu ergänzen oder zu ändern sein. Mit einer bloßen Bezugnahme auf die tatsächlichen Feststellungen im angefochtenen Urteil wird es nur selten sein Bewenden haben können. Erstinstanzliche Urteile, die nur der Überprüfung durch das Berufungsgericht, also einer Tatsacheninstanz, standzuhalten haben, entsprechen in der Begründung in der Regel noch nicht den Anforderungen an ein "revisionsfestes" Urteil. Dies hat das Berufungsgericht künftig nachzuholen. Letztlich muss gleichsam ein "Quasi-Tatbestand' geschrieben werden; die Anforderungen kommen denen an ein revisibles Urteil sehr nahe. In der Summe der Verfahren ergibt sich auch hieraus ein das Berufungsgericht erheblich belastender Effekt.

Auch aus Gründen der Gleichbehandlung ist die Einführung einer Nichtzulassungsbeschwerde nicht erforderlich. Es besteht ein relevanter Unterschied zwischen dem Berufungsführer, der eine nach einstimmiger Auffassung des Berufungsgerichts unbegründete Berufung eingelegt hat, und dem Berufungsführer, bei dem das Berufungsgericht nicht einstimmig zu diesem Ergebnis gelangt. Dass in dem einen Fall gegen eine die Berufung zurückweisende Entscheidung ein Rechtsmittel nicht gegeben ist, in dem anderen Fall dagegen schon, ist daher auch vor dem Hintergrund des Gleichbehandlungsgrundsatzes gerechtfertigt und im Übrigen vom Bundesverfassungsgericht in mehreren Entscheidungen gebilligt worden.

In der Konsequenz ist auch die in Artikel 1 Nummer 1 Buchstabe b des Gesetzentwurfs (§ 522 Absatz 2 Satz 4 ZPO-E) vorgesehene Erweiterung des Begründungszwangs zu streichen, weil sie lediglich der Überprüfung durch den Bundesgerichtshof im Rahmen der Nichtzulassungsbeschwerde dient und damit mit der Streichung der Nichtzulassungsbeschwerde ebenfalls entfallen kann.

3. Zu Artikel 1 Nummer 2 - neu - (§ 544 Absatz 1 Satz 1 ZPO),

Artikel 3 Nummer 1 (§ 26 Nummer 8 EGZPO)

Begründung:

Statt der vorgesehenen erneuten Verlängerung der Wertgrenze für die Nichtzulassungsbeschwerde in der Übergangsvorschrift des § 26 Nummer 8 EGZPO ist die Bestimmung zu perpetuieren und demzufolge in die Zivilprozessordnung zu übernehmen.

Dies ist zum einen geboten, weil einer klaren Verankerung im Gesetz aus Gründen der Rechtsklarheit und -systematik der Vorzug vor einer ständigen Verlängerung zu geben ist.

Zum anderen bringt der vorliegende Gesetzentwurf mit der Einführung der Nichtzulassungsbeschwerde aufgrund der zu erwartenden Zunahme der Zahl der Berufungen eine erhebliche Belastung für die Länderhaushalte mit. Ob diese dauerhaft auf Streitwerte über 20 000 Euro begrenzt bleibt, ist für die Justizhaushalte nicht absehbar, solange die Wertgrenze nicht auf Dauer verlängert wird. Diese Planungsunsicherheit ist für die Länderhaushalte nicht auf Dauer hinnehmbar.