Antrag der Länder Thüringen, Berlin
Entschließung des Bundesrates: Humanitäres Bleiberecht für Opfer rechtsextremistischer und rassistischer Gewalt und Erweiterung des Rechtsanspruchs auf Duldung in § 60a Absatz 2 Satz 2 AufenthG

Freistaat Thüringen Erfurt, 13. März 2018
Der Ministerpräsident

An den Präsidenten des Bundesrates
Herrn Regierenden Bürgermeister
Michael Müller

Sehr geehrter Herr Präsident,
die Thüringer Landesregierung sowie der Senat von Berlin haben beschlossen, dem Bundesrat den als Anlage beigefügten Antrag für eine Entschließung des Bundesrates: Humanitäres Bleiberecht für Opfer rechtsextremistischer und rassistischer Gewalt und Erweiterung des Rechtsanspruchs auf Duldung in § 60a Absatz 2 Satz 2 AufenthG zuzuleiten.

Ich bitte Sie, die Vorlage gemäß § 36 Absatz 2 der Geschäftsordnung des Bundesrates auf die Tagesordnung der 966. Sitzung des Bundesrates am 23. März 2018 zu setzen und anschließend den zuständigen Ausschüssen zur Beratung zuzuweisen.

Mit freundlichen Grüßen
Bodo Ramelow

Entschließung des Bundesrates: Humanitäres Bleiberecht für Opfer rechtsextremistischer und rassistischer Gewalt und Erweiterung des Rechtsanspruchs auf Duldung in § 60a Absatz 2 Satz 2 AufenthG

Der Bundesrat möge beschließen:

Begründung:

Zu Ziffer 1a) und b)

Die Gesamtzahl der politisch rechtsmotivierten Gewaltstraftaten in Deutschland befindet sich auf einem hohen Niveau und ist 2016 mit 1.698 Fällen gegenüber dem Jahr 2015 mit 1.485 Fällen erneut gestiegen. Bei den Opfern dieser Straftaten handelt es sich meist um nichtdeutsche Staatsangehörige, wobei viele von ihnen über keinen gesicherten Aufenthaltsstatus verfügen. Asylsuchende und Geduldete sind in besonderer Weise rechten Angriffen ausgesetzt und stellen, insbesondere aufgrund ihrer oftmals erfolgenden Unterbringung in Gemeinschaftsunterkünften, ein prädestiniertes Ziel solcher Angriffe dar.

Neben der konsequenten Verhinderung und Verfolgung von rechtsextremistischen und rassistischen Gewaltstraftaten bedarf es eines besonderen aufenthaltsrechtlichen Schutzes der Opfer, wenn es sich bei diesen um ausländische Staatsangehörige handelt.

Bisher gibt es keine spezielle Regelung im Aufenthaltsgesetz, die Opfern rechter Gewalt ein Bleiberecht vermittelt. Teilweise wird den Betroffenen eine Duldung nach § 60a Abs. 2 AufenthG erteilt, vereinzelt wird eine Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen nach § 25 Abs. 5 AufenthG im Ermessenswege erteilt oder über ein Härtefallverfahren die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 23a AufenthG geprüft. Daher ist es angebracht, durch eine entsprechende Änderung von gesetzlichen Regelungen des Aufenthaltsgesetzes die aufenthaltsrechtliche Situation der Betroffenen zu verbessern. Eine solche Verbesserung des Aufenthaltsstatus der Betroffenen kann dadurch erfolgen, dass durch eine Änderung des § 25 Abs. 4a AufenthG Opfer rechtsextremistischer und rassistischer Gewaltstraftaten den Opfern einer Straftat nach den §§ 232 bis 233a StGB gleichgestellt werden.

Eine entsprechende gesetzliche Regelung zur Gewährung eines sicheren Aufenthaltsstatus für Opfer rechter Gewalt ist aus mehreren Gründen erforderlich:

Den Betroffenen wird nach ihrer traumatischen Gewalterfahrung Sicherheit und Schutz angeboten und verdeutlicht, dass sie nicht allein gelassen werden.

Die aufenthaltsrechtliche Sicherheit ist zugleich eine wichtige Bedingung für das Gelingen einer psychotherapeutischen Behandlung, die schwer traumatisierte Opfer rechter Gewalt oftmals benötigen. Sofern den Betroffenen eine Abschiebung drohen würde, wäre eine psychische Stabilisierung und eine erfolgreiche Traumatherapie nicht möglich.

Ein sicheres Aufenthaltsrecht ermöglicht den Opfern von rechten Gewaltstraftaten leichter den Wohnort wechseln zu können, um nicht mehr Gefahr zu laufen, den Tätern erneut auf der Straße oder in Wohnortnähe zu begegnen. Bei Geduldeten oder Asylbewerbern ist ein Wohnortwechsel schon wegen der in der Regel durch die Ausländerbehörde zu verhängenden Wohnsitzauflage dagegen nicht oder nur nach längerem Verfahren im Wege des behördlichen Ermessens möglich.

Es ist nicht akzeptabel, dass bei Betroffenen ein Aufenthaltsrecht in Gefahr gerät, weil sie infolge der durch eine rechte Gewalttat erlittenen physischen und psychischen Verletzungen und Beeinträchtigungen ihrer Erwerbsfähigkeit ihre Beschäftigung oder Einkommensgrundlage verlieren. Denn für die Erteilung oder Verlängerung eines Aufenthaltstitels ist in der Regel der Nachweis ausreichender Sicherung des Lebensunterhalts eine grundlegende Voraussetzung. Eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 4a Aufenthaltsgesetz ist dagegen auch zu erteilen, wenn der Lebensunterhalt nicht gesichert ist (s. § 5 Abs. 3 Satz 1 AufenthG).

Zudem besteht ein erhebliches öffentliches Interesse daran, den Tätern einer rechtsextrem motivierten und rassistischen Gewalttat zu verdeutlichen, dass den Opfern Gerechtigkeit widerfährt und mit der Verfestigung des Aufenthalts aus humanitären Gründen das Gegenteil dessen erreicht wird, was die Täter beabsichtigten.

Die Schaffung einer stabilen Aufenthaltssituation von Opfern rechter Gewalt, die mindestens bis zum rechtskräftigen Abschluss des Strafverfahrens gilt, ist gleichsam bedeutsam für die Durchführung eines rechtsstaatlichen Strafverfahrens gegen die Täter.

Bei der Frage, wann eine Gewaltstraftat vorliegt, sollte auf die bundeseinheitliche Definition der polizeilichen Kriminalstatistik zurückgegriffen werden. Danach sind unter Gewaltstraftaten folgende Straftatbestände zu verstehen:

Körperverletzungen (§§ 223 ff. StGB), versuchte Tötungsdelikte (§§ 22, 23, 211, 212 StGB), Brand- und Sprengstoffdelikte (§§ 306 ff. StGB), Freiheitsberaubung (§§ 239 ff. StGB), Raubdelikte (§§ 249 ff. StGB), Erpressung (§§ 253 ff. StGB), Delikte des Landfriedensbruchs (§§ 125 f. StGB) sowie Sexualdelikte (§§ 174 ff. StGB).

Gewaltstraftaten sollten dann einer rechtsextremistischen oder rassistischen Motivation zugeordnet werden, wenn in Würdigung der Umstände der Tat und/oder der Einstellung des Täters Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass sie gegen eine Person wegen ihrer zugeschriebenen oder tatsächlichen politischen Haltung, Einstellung, Nationalität, ethnischen Zugehörigkeit, Hautfarbe, Religionszugehörigkeit, Weltanschauung, sozialen Status, physischen und/oder psychischen Behinderung oder Beeinträchtigung, sexuellen Orientierung und/oder sexuellen Identität oder ihres äußeren Erscheinungsbildes gerichtet sind und die Tathandlung damit im Kausalzusammenhang steht.

Eine nähere Ausgestaltung einer Änderung des § 25 Abs. 4a AufenthG bleibt einem von der Bundesregierung durchzuführenden Gesetzgebungsverfahren vorbehalten.

Zu Ziffer 2a) und b)

Nach der derzeitigen Fassung des § 60a Abs. 2 Satz 2 AufenthG ist die Abschiebung eines Ausländers auszusetzen, wenn seine vorübergehende Anwesenheit im Bundesgebiet für ein Strafverfahren wegen eines Verbrechens von der Staatsanwaltschaft oder dem Strafgericht für sachgerecht erachtet wird, weil ohne seine Angaben die Erforschung des Sachverhalts erschwert wäre. Der betroffene Ausländer hat somit bei der genannten Fallkonstellation einen Rechtsanspruch auf Erteilung einer Duldung.

Nach § 12 Abs. 1 StGB sind Verbrechen rechtswidrige Taten, die im Mindestmaß mit Freiheitsstrafe von einem Jahr oder darüber bedroht sind. Bei rechtswidrigen Taten, die im Mindestmaß mit einer geringeren Freiheitsstrafe oder die mit Geldstrafe bedroht sind, handelt es sich nach der Legaldefinition des § 12 Abs. 2 StGB um Vergehen.

Sofern bei einem Vergehen von der Staatsanwaltschaft oder dem Strafgericht die weitere Anwesenheit eines Ausländers im Bundesgebiet für sachgerecht erachtet wird, weil ohne seine Angaben die Erforschung des Sachverhaltes erschwert wäre, kommt nach der derzeitigen Rechtslage nur die Erteilung einer Duldung nach § 60a Abs. 2 Satz 3 AufenthG im Wege des Ermessens in Betracht. Nach dieser Vorschrift kann einem Ausländer eine Duldung erteilt werden, wenn dringende humanitäre oder persönliche Gründe oder erhebliche öffentliche Interessen seine vorübergehende Anwesenheit im Bundesgebiet erfordern. Die Ausländerbehörde hat somit eine Interessenabwägung im Einzelfall durchzuführen und kann im Rahmen der Ermessensentscheidung auch zu dem Ergebnis kommen, dass eine Duldung nicht erteilt und der Betroffene abgeschoben wird.

Eine Änderung des § 60a Abs. 2 Satz 2 AufenthG erscheint angebracht bei rechtsextremistischen und rassistischen Gewaltstraftaten gegen Ausländer, die als Vergehen nach § 12 Abs. 2 StGB einzustufen sind, weil sie im Mindestmaß mit einer geringeren Freiheitsstrafe als ein Jahr oder mit Geldstrafe bedroht sind, wenn bei diesen Straftaten nicht das Opfer, sondern ein weiterer ausreisepflichtiger Ausländer als Zeuge für ein Strafverfahren benötigt wird. Dies betrifft z.B. Fälle des Landfriedensbruchs nach § 125 StGB, der Körperverletzung nach § 223 StGB, der Freiheitsberaubung nach § 239 StGB oder der Erpressung nach § 253 StGB.

Das Opfer einer rechtsextremistischen oder rassistischen Gewaltstraftat, auch wenn die Gewaltstraftat kein Verbrechen nach § 12 Abs. 2 StGB ist, würde nach einer Änderung des § 25 Abs. 4a AufenthG zukünftig eine Aufenthaltserlaubnis erhalten (s. Ziffer 1a) und b) des Entschließungsantrags). Der ausländische ausreisepflichtige Zeuge einer solchen Tat, dessen Anwesenheit im Strafverfahren erforderlich ist, könnte nach derzeitiger Rechtslage allenfalls eine Ermessensduldung nach § 60a Abs. 2 Satz 3 AufenthG erhalten. Durch eine Erweiterung des Anwendungsbereichs des § 60a Abs. 2 Satz 2 AufenthG auf rechtsextremistische und rassistische Gewaltstraftaten gegen Ausländer, die als Vergehen einzustufen sind, wäre sichergestellt, dass der Zeuge während des Strafverfahrens im Bundesgebiet bleiben könnte. Durch seine Aussage im Strafverfahren könnte er eventuell einen wertvollen Beitrag zur Aufklärung und Verurteilung einer rechtsextremistischen oder rassistischen Gewaltstraftat leisten und somit dem Opfer zu einer gewissen Genugtuung verhelfen.