897. Sitzung des Bundesrates am 15. Juni 2012
A
Der federführende Ausschuss für Fragen der Europäischen Union (EU) und der Ausschuss für Arbeit und Sozialpolitik (AS) empfehlen dem Bundesrat, zu der Vorlage gemäß §§ 3 und 5 EUZBLG wie folgt Stellung zu nehmen:
- 1. Der Bundesrat hat Zweifel, ob der Vorschlag auf Artikel 352 AEUV gestützt werden kann. Gemäß Artikel 153 Absatz 5 AEUV ist das Streikrecht von den Kompetenzen der EU im Bereich der Sozialpolitik gerade nicht erfasst. Der Vorschlag der Kommission darf im Ergebnis jedenfalls nicht dazu führen, dass diese eindeutige Kompetenzabgrenzung umgangen wird. In Bezug auf die Frage, inwieweit die Rechtsprechung des EuGH als Argument dafür herangezogen werden kann, dass das Verhältnis von sozialen Grundrechten und wirtschaftlichen Grundfreiheiten im Wege einer Verordnung und in dem hier vorgeschlagenen Umfang geregelt werden muss, sieht der Bundesrat einen erheblichen Präzisierungsbedarf. Der Bundesrat sieht darüber hinaus den Mehrwert dieses Verordnungsvorschlags nicht. Der EuGH hat das Verhältnis von Grundrechten und Grundfreiheiten unter anderem in den Rechtssachen "Viking-Line" und "Laval" bereits geklärt. Schon mangels Regelungsgehalt hält der Bundesrat deshalb einen Kommissionsvorschlag in Gestalt dieses Verordnungsvorschlags nicht für angemessen.
- 2. Vor dem Hintergrund der Urteile des Europäischen Gerichtshofs zu den Rechtssachen "Viking-Line" und "Laval" begrüßt der Bundesrat grundsätzlich das im Verordnungsvorschlag aufgeführte Ziel einer Klarstellung des Verhältnisses zwischen der Ausübung der wirtschaftlichen Grundfreiheiten und der sozialen Grundrechte. Der Bundesrat fordert jedoch in diesem Zusammenhang von der Kommission, ihre Vorschriften so bestimmt zu fassen, dass für die Rechtsanwendung und die europäische Rechtsprechung kein Auslegungsspielraum zur Einschränkung sozialer Grundrechte bleibt.
- 3. Zur Klarstellung und zum effektiven Schutz der sozialen Grundrechte fordert der Bundesrat zudem, dass die Bedeutung der sozialen Grundrechte durch die Einführung eines Protokolls über den sozialen Fortschritt in den Vertrag von Lissabon gestärkt wird.
- 4. Der Bundesrat stellt fest, dass die Kommission mit ihrem Vorschlag das Streikrecht gefährdet: Es ist zu befürchten, dass die bei der Kollision von Grundfreiheiten und Grundrechten auf Kollektivmaßnahmen durchzuführende Verhältnismäßigkeitsprüfung zu bedenklichen Ergebnissen führt. Die verfassungsrechtlichen Garantien der Tarifautonomie und des Streikrechts würden stärker beschränkt als aufgrund des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes nach deutschem Recht. Hier ist z.B. die Angemessenheit der Höhe der Tarifforderung grundsätzlich unerheblich für die Arbeitskampfmaßnahme.
- 5. Der Bundesrat weist darauf hin, dass ein wirksames Streikrecht für die Durchsetzung fairer Entgelt- und Arbeitsbedingungen unerlässlich ist.
- 6. Der Bundesrat spricht sich gegen die Einführung eines Frühwarnmechanismus aus und weist darauf hin, dass eine Bewertung oder Überwachung von Streiks durch die Kommission als Eingriff in das nationale Streikrecht zu werten wäre.
Der Bundesrat gibt des Weiteren zu bedenken, dass die Verankerung eines Frühwarn- und Meldemechanismus den Aufbau (neuer) bürokratischer Strukturen auf Bundes- und eventuell auch Landesebene erfordern und zu mehr Verwaltungsaufwand führen würde.
- 7. Vor diesem Hintergrund lehnt der Bundesrat den Vorschlag in der aktuellen Fassung ab.
- 8. Der Bundesrat übermittelt diese Stellungnahme direkt an die Kommission. B
- 9. Der Rechtsausschuss und der Wirtschaftsausschuss empfehlen dem Bundesrat, von der Vorlage gemäß §§ 3 und 5 EUZBLG Kenntnis zu nehmen.