Beschluss des Deutschen Bundestages
Gesetz zum Vertrag von Lissabon vom 13. Dezember 2007

Der Deutsche Bundestag hat in seiner 157. Sitzung am 24. April 2008 zu dem von ihm verabschiedeten Gesetz zum Vertrag vom Lissabon vom 13. Dezember 2007 - Drucksachen 016/8300, 016/8917 - die beigefügte Entschließung unter Nummer 2 der Beschlussempfehlung auf Drucksache 016/8917 angenommen.

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Mit dem Vertrag von Lissabon wird die Europäische Union auf ein neues institutionelles Fundament gestellt das die Handlungsfähigkeit der Europäischen Union nach innen und außen stärkt und ihre demokratische Legitimation über das Europäische Parlament und die nationalen Parlamente deutlich verbessert. Die Parlamente der Mitgliedstaaten - und damit auch Bundestag und Bundesrat - erhalten erstmalig direkte Mitwirkungsrechte gegenüber den Organen der Europäischen Union bei der Subsidiaritätskontrolle sowie bei institutionellen Entscheidungen.

Der Deutsche Bundestag begrüßt den Vertrag von Lissabon. Er schafft die Voraussetzungen, damit die Europäische Union auch mit 27 Mitgliedern handlungsfähig bleibt. Mit ihm wird die Europäische Union effizienter, demokratischer und transparenter werden. Der Bundestag begrüßt die institutionellen Neuerungen des Vertrages. Neben dem hauptamtlichen Präsidenten des Europäischen Rates, der deutlichen Aufwertung des Hohen Vertreters für Außen- und Sicherheitspolitik, der Ausweitung der Entscheidungen mit qualifizierter Mehrheit und der Verkleinerung der Kommission ist insbesondere die Stärkung des Europäischen Parlaments zu nennen. Es wird zum vollwertigen Mitgesetzgeber gemeinsam mit dem Rat und hat das entscheidende Gewicht bei der Benennung des Kommissionspräsidenten. Dies verbessert die demokratische Legitimation europäischer Rechtsetzung entscheidend.

Der Stärkung der demokratischen Legitimation dient ebenfalls, dass der Vertrag von Lissabon den nationalen Parlamenten ausdrücklich die Aufgabe zuschreibt, aktiv zur guten Arbeitsweise der Union beizutragen. In dieser Mitverantwortung für die europäische Integration schafft der Deutsche Bundestag mit dem Gesetz über die Ausweitung und Stärkung der Rechte des Bundestages und des Bundesrates in Angelegenheiten der Europäischen Union und mit dem Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes (Artikel 23, 45 und 93) die innerstaatlichen Voraussetzungen für die Wahrnehmung seiner neuen Mitwirkungsrechte in der Europäischen Union.

Der Deutsche Bundestag begrüßt, dass mit dem Vertrag von Lissabon die Kompetenzen zwischen der Europäischen Union und ihren Mitgliedstaaten klarer abgegrenzt werden. Dazu tragen namentlich die Klarstellung, dass die Ziele der Union keine Kompetenzen begründen, sowie die Bestätigung des bereits jetzt gültigen Prinzips bei, dass die Europäische Union nur innerhalb der Grenzen der Zuständigkeiten tätig werden darf, die die Mitgliedstaaten ihr in den Verträgen übertragen haben, und alle ihr nicht übertragenen Zuständigkeiten bei den Mitgliedstaaten verbleiben. Ebenso ist hervorzuheben dass Änderungen der Kompetenzordnung eine förmliche Vertragsänderung erfordern.

Mit den Instrumenten der Subsidiaritätsrüge und der Subsidiaritätsklage wird den nationalen Parlamenten die Rolle übertragen, die Wahrung des Subsidiaritätsprinzips zu kontrollieren. Der Deutsche Bundestag begrüßt in diesem Zusammenhang die Präzisierungen des Subsidiaritätsprinzips im Vertrag von Lissabon durch die Einbeziehung der regionalen und lokalen Ebene und durch die Bestätigung, dass seine Voraussetzungen kumulativ vorliegen müssen. Danach darf die Europäische Union nur tätig werden, sofern und soweit die Ziele der in Betracht gezogenen Maßnahmen von den Mitgliedstaaten "weder auf zentraler noch auf regionaler oder lokaler Ebene" ausreichend verwirklicht werden können, "sondern vielmehr" wegen ihres Umfangs oder ihrer Wirkungen auf Unionsebene besser zu verwirklichen sind.

Der Deutsche Bundestag ist der Auffassung, dass die Geltendmachung eines Verstoßes gegen das Subsidiaritätsprinzip im Rahmen der Subsidiaritätsrüge und der Subsidiaritätsklage auch die Rüge eines Verstoßes gegen die Kompetenzordnung einschließt. Da das Subsidiaritätsprinzip nur in den Bereichen Anwendung findet, die nicht in die ausschließliche Zuständigkeit der Europäischen Union fallen ist das Vorliegen einer ausreichenden EU-Kompetenz eine notwendige Vorfrage für die Frage, ob die Ausübung dieser Zuständigkeit dem Subsidiaritätsprinzip entspricht. Zudem wird auch ein Verstoß gegen das Prinzip der Verhältnismäßigkeit vielfach zugleich einen Verstoß gegen das Subsidiaritätsprinzip darstellen, weil beide Prinzipien die Ausübung bestehender EU-Kompetenzen regeln.

Im Hinblick auf die Möglichkeit, wegen eines Verstoßes gegen das Subsidiaritätsprinzip den Europäischen Gerichtshof anzurufen, fordert der Deutsche Bundestag die Kommission auf, bei künftigen Rechtsetzungsvorhaben detailliert zu begründen, weshalb ein Vorschlag nach ihrer Auffassung mit dem Subsidiaritätsprinzip vereinbar ist und worin der "Mehrwert" einer Rechtsetzung auf europäischer Ebene besteht. Zur Prüfung der Frage, ob die Voraussetzungen des Subsidiaritätsprinzips erfüllt sind, erinnert der Deutsche Bundestag an die Leitlinien gemäß Ziffer 5 des Protokolls über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit zum Vertrag von Amsterdam, die hierfür weiterhin von Belang sind. Soweit der Europäische Gerichtshof damit befasst werden wird, das Subsidiaritätsprinzip zu konkretisieren, wird es in seiner Verantwortung liegen, auch den Handlungsspielraum der nationalen Parlamente zu wahren. Insoweit bedingt ihre Aufgabe als Hüter des Subsidiaritätsprinzips eine eigenständige Rolle der nationalen Parlamente neben den Organen der Europäischen Union und neben den Vertretern ihrer Mitgliedstaaten. Diese eigenständige Rolle ist zugleich Ausdruck der Mitverantwortung der nationalen Parlamente für die europäische Integration, wie sie im Vertrag von Lissabon verankert ist.

Der Deutsche Bundestag wird die neu geschaffenen Rechte zur Mitwirkung auf EU-Ebene verantwortungsvoll und sorgfältig anwenden. Die Hauptaufgabe für den Bundestag in Angelegenheiten der Europäischen Union bleibt die innerstaatliche Mitwirkung gegenüber der Bundesregierung.

Über sie kann er Einfluss auf die Rechtsetzungstätigkeit der Union nehmen und sorgt damit - neben dem Europäischen Parlament - für demokratische Legitimation. Der Deutsche Bundestag erinnert an die Fortschritte rechtlicher und praktischer Natur bei der Stärkung seiner Europatauglichkeit, um seine Mitwirkungsrechte effektiv wahrnehmen zu können, und ist sich bewusst, dass die neuen Rechte weitere Anstrengungen erforderlich machen.

Die fortschreitende Vollendung des Binnenmarkts macht eine wirksamere Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten der EU im Bereich des Zivil- und Strafrechts notwendig. Der Deutsche Bundestag begrüßt daher die grundsätzliche Einführung des ordentlichen EU-Gesetzgebungsverfahrens im Bereich der Zusammenarbeit in Zivil- und Strafsachen. Die Abstimmung mit qualifizierter Mehrheit im Rat stärkt die Handlungsfähigkeit, und die vollwertige Einbeziehung des Europäischen Parlaments als Mitgesetzgeber verbessert die Legitimation. Ebenso dienen die im Vertrag von Lissabon enthaltenen Entwicklungsklauseln im Bereich der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen einer intensivierten Zusammenarbeit, sofern hierzu Einvernehmen unter den Regierungen besteht.

Nach diesen Entwicklungsklauseln können durch einstimmigen Beschluss des Rates bzw. des Europäischen Rates Rechtsetzungsvorhaben in bestimmten Bereichen ermöglicht werden, die eine Weiterentwicklung des Vertrags ohne förmliche Vertragsänderung bedeuten. Im Einzelnen können nach Artikel 82 Abs. 2 Satz 3 Buchstabe d des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) Mindestvorschriften über "sonstige spezifische Aspekte des Strafverfahrens" erlassen werden die vom Rat zuvor durch einstimmigen Beschluss bestimmt worden sind. Nach Artikel 83 Abs. 1 Unterabs. 3 AEUV kann der Rat durch einstimmigen Beschluss "andere Kriminalitätsbereiche" bestimmen, in denen Mindestvorschriften zur Festlegung von Straftaten und Strafen in Bereichen besonders schwerer Kriminalität, die eine grenzüberschreitende Dimension haben festgelegt werden können. Nach Artikel 87 Abs. 4 AEUV kann der Europäische Rat durch einstimmigen Beschluss die Befugnisse der Europäischen Staatsanwaltschaft auf die Bekämpfung der schweren Kriminalität mit grenzüberschreitender Dimension ausdehnen und ihre Zuständigkeit für die strafrechtliche Untersuchung und Verfolgung sowie die Anklageerhebung auf Personen erweitern, die als Täter oder Teilnehmer schwere, mehr als einen Mitgliedstaat betreffende Straftaten begangen haben.

Unter dem Gesichtspunkt der Erkennbarkeit des europäischen Integrationsprogramms erfordert das Abstimmungsverhalten der Bundesregierung bei diesen einstimmigen Beschlüssen des Rates bzw. des Europäischen Rates eine besondere Rückanbindung an den Deutschen Bundestag. Dies war auch die übereinstimmende Auffassung und Empfehlung der Sachverständigen im Rahmen des Expertengesprächs des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen Union vom 5. März 2008 zur Vorbereitung der Ratifizierung des Vertrags von Lissabon zu dem Themenbereich "Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts". Die Bundesregierung ist daher aufgefordert, sich vor der abschließenden Entscheidung im Rat bzw. im Europäischen Rat aktiv um Einvernehmen mit dem Deutschen Bundestag zu bemühen. Zudem sollte die Bundesregierung den Deutschen Bundestag informieren und über ihre Willensbildung unterrichten, sobald der Rat bzw. der Europäische Rat beabsichtigt, einen Beschluss nach den genannten Entwicklungsklauseln zu fassen. Ziffer VI der Vereinbarung zwischen dem Deutschen Bundestag und der Bundesregierung über die Zusammenarbeit in Angelegenheiten der Europäischen Union bietet hierfür ein geeignetes Verfahren.

Das Kapitel 4 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union über die justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen enthält weitere besondere Verfahrensregeln, die der Sensibilität der nationalen Strafrechtsordnungen Rechnung tragen. EU-Gesetzgebungsverfahren in diesem Bereich werden gemäß Artikel 82 Abs. 3 AEUV bzw. Artikel 83 Abs. 3 AEUV ausgesetzt, falls ein Mitglied des Rates durch den Entwurf des Gesetzgebungsaktes grundlegende Aspekte seiner Strafrechtsordnung berührt sieht und daher die Befassung des Europäischen Rates beantragt. Diese sog. "Notbremsmechanismen" unterliegen der Mitwirkung des Deutschen Bundestages nach Artikel 23 Abs. 3 Satz 1 des Grundgesetzes (allgemeigg_ges.htm ). Sollte der Bundestag in einer Stellungnahme gegenüber der Bundesregierung durch einen Entwurf eines auf Artikel 82 bzw. Artikel 83 AEUV gestützten EU-Gesetzgebungsaktes grundlegende Aspekte der deutschen Strafrechtsordnung berührt sehen und das Aussetzen des EU-Gesetzgebungsverfahrens verlangen, so ist die Bundesregierung aufgefordert, in einem solchen Fall die Anrufung des Europäischen Rates zu beantragen.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,