Unterrichtung durch das Europäische Parlament
Entschließung des Europäischen Parlaments vom 2. April 2009 zum Gewissen Europas und zum Totalitarismus

Zugeleitet mit Schreiben des Generalsekretärs des Europäischen Parlaments - 105485 - vom 28. April 2009.

Das Europäische Parlament hat die Entschließung in der Sitzung am 2. April 2009 angenommen.

Das Europäische Parlament,

A. in der Erwägung, dass Historiker darin übereinstimmen, dass völlig objektive Auslegungen historischer Tatsachen nicht möglich sind und es keine objektive Geschichtsschreibung gibt; unter Hinweis darauf, dass Berufshistoriker dennoch wissenschaftliche Instrumente zur Erforschung der Vergangenheit einsetzen und dabei bemüht sind, so unparteiisch wie möglich zu sein,

B. unter Hinweis darauf, dass keine politische Institution und keine Partei ein Monopol für die Auslegung der Geschichte besitzt und für sich Objektivität beanspruchen kann,

C. unter Hinweis darauf, dass offizielle politische Auslegungen historischer Fakten nicht durch Mehrheitsbeschlüsse von Parlamenten aufgezwungen werden sollten; in der Erwägung, dass kein Parlament mit Rechtsvorschriften die Vergangenheit bewerten kann,

D. in der Erwägung, dass ein Kernziel des Prozesses der europäischen Integration darin besteht, in Zukunft die Achtung der Grundrechte und der Rechtsstaatlichkeit zu gewährleisten, sowie in der Erwägung, dass in den Artikeln 6 und 7 des Vertrags über die Europäische Union geeignete Mechanismen zur Verwirklichung dieses Ziels vorgesehen sind,

E. in der Erwägung, dass falsche Auslegungen der Geschichte den Nährboden für eine Politik der Ausgrenzung schaffen und damit zu Hass und Rassismus anstiften können,

F. in der Erwägung, dass die Erinnerung an die tragische Vergangenheit Europas wach gehalten werden muss, um die Opfer zu ehren, die Täter zu verurteilen und die Fundamente für eine Aussöhnung auf der Grundlage von Wahrheit und Erinnerung zu legen,

G. unter Hinweis darauf, dass während des 20. Jahrhunderts in Europa Millionen von Opfern von totalitären und autoritären Regimen deportiert, inhaftiert, gefoltert und ermordet wurden; in der Erwägung, dass der einzigartige Charakter des Holocaust nichtsdestoweniger anerkannt werden muss,

H. in der Erwägung, dass die dominierende historische Erfahrung Westeuropas der Nazismus war und die Länder Mittel- und Osteuropas sowohl den Kommunismus als auch den Nazismus erfahren haben; in der Erwägung, dass das Verständnis für das zweifache diktatorische Erbe dieser Länder gefördert werden muss,

I. in der Erwägung, dass die europäische Integration von Beginn an eine Antwort auf das Leiden war, das von zwei Weltkriegen und der Tyrannei des Nationalsozialismus verursacht wurde, die zum Holocaust sowie zur Ausbreitung totalitärer und undemokratischer kommunistischer Regime in Mittel- und Osteuropa führten, und ein Weg zur Überwindung tiefer Spaltungen und Feindseligkeiten in Europa im Wege der Zusammenarbeit und Integration sowie zur Beendigung des Krieges und zur Sicherung der Demokratie in Europa,

J. in der Erwägung, dass der Prozess der europäischen Integration erfolgreich gewesen ist und jetzt zu einer Europäischen Union geführt hat, die die Länder Mittel- und Osteuropas einschließt, welche vom Ende des zweiten Weltkrieges bis zu Beginn der neunziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts unter kommunistischen Regimen gelebt haben; ferner unter Hinweis darauf, dass die früheren Beitritte Griechenlands, Spaniens und Portugals, die während langer Jahre unter faschistischen Regimen zu leiden hatten, Hilfestellung bei der Konsolidierung der Demokratie im Süden Europas geleistet haben,

K. unter Hinweis darauf, dass Europa erst dann vereint sein wird, wenn es imstande ist, zu einer gemeinsamen Sicht seiner Geschichte zu gelangen, Nazismus, Stalinismus und faschistische sowie kommunistische Regime als gemeinsames Erbe anerkennt und eine ehrliche und tiefgreifende Debatte über deren Verbrechen im vergangenen Jahrhundert führt,

L. unter Hinweis darauf, dass das wiedervereinigte Europa im Jahre 2009 den 20. Jahrestag des Zusammenbruchs der kommunistischen Diktaturen in Mittel- und Osteuropa und des Falls der Berliner Mauer begehen wird, was sowohl Anlass für ein ausgeprägteres Bewusstsein der Vergangenheit und eine Anerkennung der Rolle demokratischer Bürgerinitiativen als auch ein Anreiz für eine Stärkung des Gefühls der Zusammengehörigkeit und des Zusammenhalts sein sollte,

M. in der Erwägung, dass es ebenfalls wichtig ist, derer zu gedenken, die sich aktiv der totalitären Herrschaft widersetzt haben und die aufgrund ihrer Hingabe, ihres Festhaltens an Idealen, ihres Ehrgefühls und ihres Mutes als Helden des totalitären Zeitalters in das Bewusstsein der Europäer Eingang finden sollten,

N. in der Erwägung, dass es vom Blickwinkel der Opfer aus unwesentlich ist, welches Regime sie aus welchem Grund auch immer ihrer Freiheit beraubte und sie foltern oder ermorden ließ,