Unterrichtung durch die Bundesregierung
Abschlussbericht der informellen Gruppe elf europäischer Außenminister zur Zukunft der Europäischen Union

Auswärtiges Amt
Berlin, den 18. September 2012

An den Präsidenten des Bundesrates
Herrn Ministerpräsidenten
Horst Seehofer

Sehr geehrter Herr Bundesratspräsident,
anliegend übersende ich Ihnen den Abschlussbericht der informellen Gruppe elf europäischer Außenminister zur Zukunft der Europäischen Union. Dieser entwickelt den Zwischenbericht vom Juni 2012, den ich Ihnen seinerzeit habe zukommen lassen, fort.

Die Arbeit unserer Gruppe war stets von der festen Überzeugung getragen, gerade in Zeiten der Vertrauenskrise, gemeinsam für Europa einzustehen. Europa hat seinen Preis, aber Europa hat vor allem seinen Wert.

Der Bericht soll die laufende Debatte um die Zukunft der Europäischen Union bereichern. Schwerpunkt bilden unsere Vorschläge zur Vertiefung der Wirtschaftsund Währungsunion. Die Fortentwicklung der Wirtschafts- und Währungsunion erfordert auch einen Zuwachs an demokratischer Mitbestimmung. Darüber hinaus enthält der Bericht Vorschläge zur Verbesserung des auswärtigen Handels und zur Rolle Europas als globale Gestaltungsmacht.

Wir unterbreiten einerseits Vorschläge, die im Rahmen der bestehenden Verträge umgesetzt werden können und auch solche, die darüber hinausgehen. Gerade in der Krise müssen wir Europa weiter denken. Wer Orientierung gibt, hilft, neues Vertrauen zu begründen.

Über Ihre Einschätzungen zu diesem Bericht würde ich mich sehr freuen.

Mit freundlichen Grüßen
Dr. Guido Westerwelle

17. September 2012

Abschlussbericht der Gruppe zur Zukunft Europas der Außenminister Belgiens, Dänemarks, Deutschlands, Frankreichs, Italiens, Luxemburgs, der Niederlande, Österreichs, Polens, Portugals und Spaniens

Einleitung und Zusammenfassung

Die Europäische Union steht an einer entscheidenden Wegmarke. Die andauernde Staatsschuldenkrise und der sich immer weiter verstärkende Prozess der Globalisierung stellen eine doppelte Herausforderung für Europa dar. Wir müssen ihr gerecht werden, wenn wir eine gute Zukunft für unseren Kontinent wollen, in der wir unsere Interessen kraftvoll vertreten und die Werte Europas überzeugend realisieren und vermitteln können.

Die Krise hat längst auch eine politische Dimension. In vielen Teilen Europas sind Nationalismus und Populismus vor dem Vormarsch, während gleichzeitig Solidarität und das Zusammengehörigkeitsgefühl in Europa nachlassen. Wir müssen das Vertrauen in unser gemeinsames Projekt wieder herstellen. Die politische Debatte über die Zukunft des europäischen Projekts muss jetzt geführt, und sie muss in ganz Europa geführt werden. Es ist von entscheidender Bedeutung, dass die Bürgerinnen und Bürger Europas einbezogen werden.

In dem nachfolgenden Bericht unterbreiten wir konkrete Vorschläge, die sich mit den Herausforderungen befassen sollen, mit denen Europa konfrontiert ist. Einige sind kurzfristiger, einige langfristiger Natur. Viele können innerhalb der bestehenden Verträge umgesetzt werden, für einige sind möglicherweise Vertragsänderungen erforderlich. Es kommt darauf an, die richtige zeitliche Abfolge zu finden und Ausgewogenheit zu gewährleisten, indem das, was realistischerweise frühzeitig erreicht werden kann, mit der längerfristigen Perspektive und Vision für ein stärkeres Europa verknüpft wird. Die Stärkung der WWU ist eindeutig das Schlüsselelement in unseren Bemühungen zur Überwindung der derzeitigen Krise.

Der Bericht spiegelt unsere persönlichen Gedanken wider. Wir betonen, dass nicht alle teilnehmenden Minister mit allen Vorschlägen einverstanden sind, die im Laufe unserer Diskussionen vorgebracht worden sind, und dass die individuellen vertraglichen Verpflichtungen und Rechte der Mitgliedstaaten innerhalb der einzelnen Politikbereiche berücksichtigt werden müssen. Die Vorschläge können wie folgt zusammengefasst werden:

I. Überwindung der gegenwärtigen Krise durch grundlegende Stärkung der Wirtschafts- und Währungsunion

Die Staatsschuldenkrise im Euroraum ist längst zu einer Vertrauenskrise in die langfristige Fähigkeit einzelner Eurostaaten zur Rückkehr zu Stabilität geworden.

Solide öffentliche Finanzen, Wettbewerbsfähigkeit, Wachstum und Beschäftigung müssen wir zusammen fördern. Auf europäischer Ebene sollten wir den Binnenmarkt, einer unserer wichtigsten Trümpfe und der stärkste Wachstumsmotor, auf eine neue Entwicklungsstufe bringen. Wir sollten die Unterstützung für kleine und mittlere Unternehmen (KMUs) erhöhen, auch indem wir ihnen den Zugang zu EU-Mitteln erleichtern und durch die Förderung neuer Investitionen, wie im Europäischen Pakt für Wachstum und Arbeitsplätze angelegt; in diesem Zusammenhang müssen wir auch die Beschlüsse für eine stärkere Rolle der EIB umsetzen. Schließlich müssen wir vermehrt Arbeitsplätze schaffen, wobei das Augenmerk insbesondere auf der Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit liegen sollte.

Wir werden die Eurokrise jedoch nur dauerhaft lösen können, wenn wir die Vertrauenskrise im Euroraum überwinden.

Zu diesem Zweck müssen wir die Wirtschafts- und Währungsunion grundlegend stärken.

Die Arbeit an der grundlegenden Reform der WWU wird auf den vier Bausteinen beruhen, die der Präsident des Europäischen Rates zusammen mit dem Kommissionspräsidenten, dem Präsidenten der Eurogruppe und dem Präsidenten der Europäischen Zentralbank in seinem Bericht an den Europäischen Rat im Juni 2012 genannt hat. Wir brauchen Schritte hin zu einem integrierten Finanzrahmen, einem integrierten Haushaltsrahmen, einem integrierten wirtschaftspolitischen Rahmen sowie Maßnahmen zur Gewährleistung der notwendigen demokratischen Legitimation und Rechenschaftspflicht.

Eine handlungsfähige, stabile Wirtschafts- und Währungsunion ist von zentraler Bedeutung für das Funktionieren der Europäischen Union insgesamt. Dies ist für die Mitglieder des Euroraums ein Hauptanliegen und geht zugleich alle Mitglieder der Europäischen Union an - auch diejenigen, die den Euro noch nicht eingeführt haben. Reformen sollten daher wo möglich im Kreis der 27 erfolgen. Alle notwendigen Reformschritte sollten unternommen werden, um die WWU zu vertiefen. Unser Schwerpunkt liegt auf Initiativen im Rahmen der bestehenden Verträge; wir sollten jedoch die Möglichkeit von Vertragsänderungen nicht ausschließen, sollten sich diese als erforderlich erweisen.

Ein integrierter Haushaltsrahmen

In den letzten zwei Jahren sind wichtige Schritte zur Verstärkung des Rahmens für Haushaltsdisziplin unternommen worden, insbesondere im Euroraum. Vordringlich sind jetzt der Abschluss der Arbeiten am "Two-Pack" und die zügige Umsetzung des Fiskalpakts. Aber wir müssen die Mechanismen auf EU-Ebene wirksamer gestalten, um sicherzustellen, dass alle Mitgliedstaaten nichtnachhaltige fiskalpolitische Maßnahmen verhindern bzw. korrigieren und sich in ihren Haushaltsverfahren an die vereinbarten Regeln halten. Innerhalb der Kommission sollte die Rolle des Kommissars für Wirtschaft und Finanzen gestärkt werden.

Auf dem Weg zu einem integrierten Haushaltsrahmen sollte Folgendes Hand in Hand gehen:

Ein integrierter wirtschaftspolitischer Rahmen

Wir müssen den grundlegenden Konstruktionsfehler der WWU - Währungsunion ohne Wirtschaftsunion - beheben. Das bedeutet nicht, dass sämtliche wirtschaftspolitische Maßnahmen auf europäischer Ebene entschieden werden sollten. Für bestimmte zentrale Fragen der Wirtschaftspolitik, die für nachhaltiges wirtschaftliches Wachstum und Beschäftigung und die Nachhaltigkeit des Euroraums von besonderer Relevanz sind, brauchen wir die richtige Mischung aus wirksamer und verbindlicher Koordinierung auf europäischer Ebene und einem gesunden Wettbewerb nationaler Systeme und wirksamerer Methoden für den Austausch bewährter Verfahren. Dies betrifft insbesondere die Funktionsweise der Arbeitsmärkte und die Nachhaltigkeit der Rentensysteme. Wir sollten die bestehenden Optionen in den Verträgen nutzen, auch durch eine verstärkte Zusammenarbeit. Viele Mitglieder der Gruppe waren der Ansicht, dass zusätzlich die bisher freiwilligen Selbstverpflichtungen in einschlägigen Bereichen des Euro-Plus-Paktes verbindlich ausgestaltet werden sollten. Dies sollte im Rahmen eines Wirtschafts-Partnerschaftsprogramms zwischen den Mitgliedstaaten und der europäischen Ebene umgesetzt werden, ähnlich zum Verfahren das im Fiskalvertrag vorgesehen ist.

Ein integrierter Finanzrahmen

Wir brauchen mutigere Schritte, um das Funktionieren der europäischen Finanzmärkte zu verbessern. Wir favorisieren daher einen wirksamen einheitlichen Aufsichtsmechanismus unter Einbeziehung der EZB für Banken im Euroraum und in den Mitgliedstaaten, die sich einem solchen Mechanismus anschließen wollen.

Einige Mitgliedstaaten betonten die Wichtigkeit eines gemeinsamen Systems zur Einlagensicherung und eines europäischen Umstrukturierungs- und Abwicklungsregimes.

Mittelfristig muss der Euroraum in der Lage sein, potenzielle Probleme in der Wirtschaftsund Währungsunion selbst zu lösen. Daher sollte der Europäische Stabilitätsmechanismus zu einem "Europäischen Währungsfonds" mit angemessenen Befugnissen weiterentwickelt werden.

Stärkung der demokratischen Legitimation und Rechenschaftspflicht

Eine grundlegende Vertiefung der Wirtschafts- und Währungsunion muss mit größerer demokratischer Legitimation einhergehen. Wo immer neue Kompetenzen auf europäischer Ebene geschaffen werden oder eine engere Koordinierung der nationalen Politiken erfolgt, muss die vollständige demokratische Kontrolle gewährleistet werden.

II. Erleichterung der weiteren Integrationsschritte und die langfristige "Governance"-Struktur der Europäischen Union

Sobald die Eurokrise überwunden ist, müssen wir auch die allgemeine Funktionsweise der Europäischen Union verbessern. Die EU muss insbesondere entschlossene Schritte unternehmen, um ein stärkerer Akteur auf der Weltbühne zu werden. Diese Aufgabe sollte außerhalb und getrennt von der Reform der WWU angegangen werden. Einige dieser Maßnahmen könnten auf der Grundlage der bestehenden Verträge umgesetzt werden, möglicherweise sogar kurzfristig, während andere langfristig nur durch Vertragsänderungen auf Basis eines Konvents in Angriff genommen werden könnten.

a) Globaler Spieler Europa

Im weltweiten Wettbewerb mit anderen Volkswirtschaften, Ideen und Gesellschaftsmodellen werden die Staaten Europas ihre Werte und Interessen nur vereint erfolgreich wahren können. Dafür brauchen wir einen umfassenden und integrierten Ansatz zu allen Komponenten des internationalen Profils der EU. Er muss jenseits von GASP und GVSP unter anderem Fragen der Handels- und Außenwirtschaftspolitik, Entwicklungshilfe, Erweiterung und Nachbarschaftspolitik, der Steuerung von Migrationsströmen, der Klimaverhandlungen und der Energiesicherheit umfassen.

Um die EU zu einem wirklichen Akteur auf der Weltbühne zu machen, sollten wir unserer Auffassung nach langfristig Folgendes tun:

b) Stärkung anderer Politikbereiche

Wenn sich Europa im neuen globalen Gefüge behaupten will, brauchen wir auch in anderen zentralen Politikbereichen Integrationsfortschritte. So schlagen wir vor, im Bereich der Justiz- und Innenpolitik den Außengrenzschutz des Schengenraums zu stärken (durch Schaffung eines "Europäischen Grenzschutzes") und mittelfristig ein europäisches Visum zu schaffen. Ein weiteres Gebiet, auf dem wir "mehr Europa" benötigen, ist die nachhaltige Energiepolitik: Wir müssen einen funktionsfähigen Binnenenergiemarkt durch eine europäische Energieinfrastruktur schaffen, die Energieeffizienz verbessern und gemeinsame Energieaußenbeziehungen definieren.

c) Institutionelle Reformen: Stärkung der Handlungsfähigkeit und demokratischen Legitimation der EU

Neben dem konkreten Aspekt der WWU-Reform bedürfen zusätzliche Rechte auf europäischer Ebene oder eine engere Abstimmung der nationalen Politiken einer verstärkten Handlungsfähigkeit und größeren demokratischen Legitimation.

Verbesserung der Handlungsfähigkeit
Stärkung der demokratischen Legitimation

Zu diesem Zweck sollten die Kontakte zwischen dem EP und den nationalen Parlamenten weiter gestärkt werden. Dies könnte beispielsweise erfolgen durch regelmäßige Treffen, die Anwesenheit von EP-Mitgliedern bei strategischen Debatten über die EU in den nationalen Parlamenten, die Stärkung des COSAC-Rahmens und die Stärkung EU-weiter Netzwerke von Parlamentsausschüssen, die sich mit denselben konkreten EU-Themen befassen. Die Kernaufgabe der nationalen Parlamente wird jedoch auch in Zukunft in der Kontrolle des Handelns ihrer nationalen Regierungen bestehen.

d) Stärkung der EU als Wertegemeinschaft

Die Möglichkeiten für die Sicherstellung der Einhaltung der Grundwerte nach Art. 2 EUV sollten gestärkt werden. Hierfür sollte ein neuer, leichter Mechanismus geschaffen werden, der der Kommission ermöglicht, im Falle von konkreten Anhaltspunkten für Verletzungen der Werte von Art. 2 EUV einen Bericht zu erstellen und Empfehlungen auszusprechen sowie ggfs. den Rat zu befassen. Der Mechanismus sollte nur zur Anwendung kommen im Falle eines offensichtlichen Verstoßes in einem Mitgliedstaat gegen grundlegende Werte oder Prinzipien, wie das Rechtsstaatsprinzip.

e) Verbesserung der allgemeinen Funktionsweise der Europäischen Union