Unterrichtung durch die Bundesregierung
Stellungnahme der Bundesregierung zu der Entschließung des Bundesrates "Rente statt Sozialhilfe - Verbesserung des sozialrechtlichen Status für in Deutschland lebende jüdische Holocaustüberlebende aus den Nachfolgestaaten der Sowjetunion"

Bundesministerium für Arbeit und Soziales Berlin, den 29. September 2011

An die Präsidentin des Bundesrates
Frau Ministerpräsidentin
Hannelore Kraft

Sehr geehrte Frau Präsidentin,
zur Entschließung des Bundesrates vom 15. April 2011 "Rente statt Sozialhilfe - Verbesserung des sozialrechtlichen Status für in Deutschland lebende jüdische Holocaustüberlebende aus den Nachfolgestaaten der Sowjetunion" (BR-Drs. 787/10(B) HTML PDF ) nehme ich im Namen der Bundesregierung wie folgt Stellung:

In der Entschließung wird die Bundesregierung aufgefordert, jüdische Holocaustüberlebende aus den Nachfolgestaaten der Sowjetunion als "Verfolgte des NS-Regimes" anzuerkennen. Darüber hinaus wird die Bundesregierung gebeten, die gesetzlichen Voraussetzungen zu schaffen, dass dieser Personenkreis einen eigenständigen Rentenanspruch erhält und damit nicht länger auf Leistungen der Sozialhilfe in Form von Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung angewiesen ist.

Deutschland nimmt seit 1991 vor dem Hintergrund der historischen Verantwortung für die Verbrechen des Nationalsozialismus Juden und ihre Familienangehörigen aus den Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion auf. Maßgeblich hierfür war auch die Überlegung, durch Zuwanderung neuer Mitglieder die jüdischen Gemeinden in Deutschland zu stärken.

Seit Beginn der geregelten Aufnahme sind mehr als 200.000 Personen (einschließlich der Familienangehörigen) nach Deutschland gekommen. Die deutsche jüdische Gemeinschaft ist heute die Drittgrößte Europas; knapp 90 Prozent der Mitglieder sind jüdische Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion.

Dieses Wachstum und Wiederaufblühen des jüdischen Lebens ist ein Vertrauensbeweis für Deutschland. Die Juden aus der ehemaligen Sowjetunion haben Deutschland mit ihrer Zuwanderungsentscheidung wieder eine Chance auf ein reiches und sichtbares religiöses und kulturelles jüdisches Leben gegeben.

Die Aufnahme erfolgte bis zur Neuregelung auf Grundlage eines Beschlusses der Ministerpräsidentenkonferenz vom 9. Januar 1991. Mit den Beschlüssen der Innenministerkonferenz (IMK) vom Dezember 2004, Juni 2005 und November 2005 haben die Länder das Aufnahmeverfahren im Einvernehmen mit dem Bund, dem Zentralrat der Juden in Deutschland und der Union progressiver Juden in Deutschland e. V. neu geregelt. Die notwendigen rechtlichen Änderungen wurden in § 23 Abs. 2 und § 75 Nr. 8 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) geschaffen und sind am 24. Mai 2007 in Kraft getreten. Eine vom Bundesministerium des Innern im Benehmen mit den Ländern erlassene Anordnung (AO) setzt die IMK-Beschlüsse um und regelt die Voraussetzungen für die Erteilung von Aufnahmezusagen an jüdische Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion. Die Aufnahmezusage wird vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge in bundeseigener Verwaltung erteilt. Im Rahmen und für die Zwecke des Antragsverfahrens wird bei Personen, die vor dem 1. Januar 1945 geboren wurden, die nationalsozialistische Verfolgung widerleglich vermutet (vgl. I Nr. 3 AO). Eine allgemeine Anerkennung als NS-Verfolgter ist gesetzlich nicht vorgesehen. Ob jemand als "Opfer des Nationalsozialismus" anzusehen ist, prüft die zuständige Fachbehörde im Rahmen der jeweils einschlägigen Gesetze.

Jüdische Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion, die Opfer von nationalsozialistischen Gewaltmaßnahmen geworden sind, können als NS-Verfolgte die heute noch zugänglichen Entschädigungsleistungen - insbesondere Beihilfen der Jewish Claims Conference (JCC) - erhalten. So wird jüdischen NS-Verfolgten nach den "Richtlinien für die Vergabe von Mitteln an jüdische Verfolgte zur Abgeltung von Härten in Einzelfällen im Rahmen der Wiedergutmachung" vom 3. Oktober 1980 in Verbindung mit dem Artikel-2-Abkommen durch die JCC eine von der Bundesrepublik finanzierte Einmalbeihilfe in Höhe von 2.556 Euro (auch als Zahlung aus dem "Härtefallfonds" bezeichnet) beziehungsweise eine monatliche Beihilfe von 300 Euro (auch als "Artikel-2-Leistung" bezeichnet) gezahlt. Diese wird nicht auf die Leistung zur Grundsicherung im Alter angerechnet. Nach den Angaben des Bundesministeriums der Finanzen (BMF) werden derzeit 50.846 laufende Beihilfen, davon 2.350 in Deutschland, nach dem Artikel-2-Abkommen gezahlt. Außerdem wurden bisher 25.777 Einmalbeihilfen an jüdische Verfolgte in Deutschland gewährt. Die Schaffung einer neuen Entschädigungsregelung durch den Bund, für die das BMF zuständig wäre, ist daher nicht geboten. Es bleibt den Bundesländern jedoch freigestellt, im Rahmen der zum Teil vorhandenen Härteregelungen für NS-Opfer zusätzliche Leistungen für diesen Personenkreis zu erbringen.

Nach der Einreise erhalten die Zuwanderer ihre Aufenthaltstitel von den zuständigen Behörden der Länder. Soweit sie nicht selbst für ihren Lebensunterhalt sorgen können, erhalten die Zuwanderer Leistungen nach den Vorschriften des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch (Arbeitslosengeld II und Sozialgeld) und des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch (Hilfe zum Lebensunterhalt sowie Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung).

Ein Anspruch auf eine Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung der Bundesrepublik Deutschland besteht grundsätzlich nur in der Höhe, in der in Deutschland Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung gezahlt worden sind. Abweichend von diesem Grundsatz ermöglicht das Fremdrentengesetz (FRG) für einen bestimmten Personenkreis auch die Berücksichtigung ausländischer Versicherungszeiten in der deutschen Rentenversicherung. Dieser Personenkreis steht im Zusammenhang mit dem 2. Weltkrieg und seinen Folgen und umfasst daher in erster Linie anerkannte Vertriebene, Spätaussiedler und NS-Verfolgte mit Zugehörigkeit zum deutschen Sprach- und Kulturkreis. Jüdische Zuwanderer aus den Staaten der ehemaligen Sowjetunion haben, wenn sie nicht zum deutschen Sprach- und Kulturkreis gehören, keine Ansprüche nach dem FRG.

Unabhängig von einer Zugehörigkeit zum deutschen Sprach- und Kulturkreis können aus Zeiten in einem Ghetto Rentenansprüche hergeleitet werden. Verfolgte, die in einem Ghetto, das in einem vom Deutschen Reich besetzten Gebiet der ehemaligen Sowjetunion lag, eine Beschäftigung aus eigenem Willensentschluss ausgeübt haben, können aus diesen Zeiten eine Rente erhalten. Diese Renten werden auch an jüdische Zuwanderer in Deutschland gezahlt.

Personen, die nach Deutschland zuwandern, erwerben unabhängig vom Grund ihrer Zuwanderung in Deutschland einen Rentenanspruch, indem sie Beiträge zur deutschen gesetzliche Rentenversicherung zahlen. Je später im Leben sie nach Deutschland zugewandert sind, desto weniger Zeit bleibt, um einen deutschen Rentenanspruch aufzubauen. Es ist daher verständlich, dass die Zuwanderer auch aus den Arbeitsjahren in ihren Herkunftsgebieten eine Rente erhalten möchten. Einen solchen Rentenanspruch können sie jedoch grundsätzlich nur bei dem Rentenversicherungsträger geltend machen, zu dem auch die Beiträge entrichtet worden sind, das heißt in ihrem Herkunftsland.

Diese Renten aus dem Ausland können auch nach Deutschland gezahlt werden. So können jüdische Zuwanderer, die nach dem Migrationsbericht 2009 des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) überwiegend aus der Russischen Föderation kommen, unter bestimmten Voraussetzungen ihre Renten aus den Arbeitsjahren im Herkunftsgebiet nach Deutschland "mitnehmen". Renten aus der Russischen Föderation werden nach derzeitigem Kenntnisstand der Deutschen Rentenversicherung unabhängig von der Staatsangehörigkeit und dem Zeitpunkt der Ausreise dann auch nach Deutschland gezahlt, wenn die Zuwanderer bis zum Verlassen der Russischen Föderation bereits eine Rente bezogen haben. Personen, die vor Erreichen des Rentenalters die Russische Föderation verlassen und daher noch keine russische Rente bezogen haben, können auf Antrag eine Rente erhalten, sofern sie noch russische Staatsangehörige sind. Nach Informationen des Rentenfonds der Russischen Föderation vom Mai 2011 wird derzeit an rund 79.000 in Deutschland lebende Berechtigte eine russische Rente gezahlt. Angaben über den Anteil jüdischer Zuwanderer an diesen Berechtigten liegen nicht vor.

Zurzeit werden Verhandlungen über ein Sozialversicherungsabkommen mit Russland mit dem Ziel geführt, die Auszahlung russischer Renten an alle Versicherten auch bei Wohnsitz in Deutschland sicherzustellen. Ein entsprechendes Abkommen mit der Ukraine ist endverhandelt, aber noch nicht unterzeichnet worden. Die Renten aus den Staaten der ehemaligen Sowjetunion Estland, Lettland und Litauen, die mittlerweile zur Europäischen Union gehören, werden ebenfalls nach Deutschland gezahlt.

Reicht die aus den in Deutschland zurückgelegten Beschäftigungszeiten gezahlte Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung - gegebenenfalls zusammen mit einer aus dem Herkunftsland gezahlten Rente - nicht zum Lebensunterhalt aus, werden ergänzend und abhängig vom konkreten sozialhilferechtlichen Bedarf Leistungen zur Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung gezahlt. Die Finanzierung dieser Leistung erfolgt nicht durch Versicherungsbeiträge, sondern systemgerecht durch Steuern. Diese werden nicht nur von den Versicherten der Solidargemeinschaft der Rentenversicherung aufgebracht, sondern von allen Steuerpflichtigen, also zum Beispiel auch Beamten oder Selbstständigen.

Vor diesem Hintergrund sehe ich keinen Raum, im vorleistungsbezogenen System der gesetzlichen Rentenversicherung einen Anspruch auf Rente ohne Beitragsleistung zu schaffen.

Mit freundlichen Grüßen Dr. Ursula von der Leyen

Siehe Drucksache 787/10(B) HTML PDF