Unterrichtung durch das Europäische Parlament
Entschließung des Europäischen Parlaments vom 21. Oktober 2010 zur Menschenrechtslage im Nordkaukasus (Russische Föderation) und dem Strafverfahren gegen Oleg Orlow

Zugeleitet mit Schreiben des Generalsekretärs des Europäischen Parlaments - 113050 - vom 11. November 2010. Das Europäische Parlament hat die Entschließung in der Sitzung vom 21. Oktober 2010 angenommen.

Das Europäische Parlament,

A. in der Erwägung, dass sich die Russische Föderation als Mitglied des Europarates und der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) und als Unterzeichner von UN-Erklärungen verpflichtet hat, die Menschenrechte, die Grundfreiheiten und die Rechtsstaatlichkeit zu schützen und zu fördern,

B. in der Erwägung, dass vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte etwa 20 000 Fälle aus der Russischen Föderation, hauptsächlich aus der Nordkaukasus-Region, anhängig sind, sowie in der Erwägung, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in über 150 Urteilen die Russische Föderation wegen schwerer Menschenrechtsverletzungen in der Region verurteilt hat, sowie unter Hinweis darauf, wie wichtig eine rasche und vollständige Durchsetzung dieser Urteile ist, Menschenrechtslage im Nordkaukasus

C. in der Erwägung, dass die Lage der Menschenrechtsverteidiger in der Nordkaukasus-Region, insbesondere in der Tschetschenischen Republik, Inguschetien und Dagestan besorgniserregend ist und dass unabhängige Journalisten, zivilgesellschaftlich engagierte Bürger, Rechtsanwälte und Menschenrechtsverteidiger in der Region häufig Drohungen, Gewaltakten, Drangsalierungen und Einschüchterungen ausgesetzt sind und sie in ihren Tätigkeiten von Angehörigen der Strafverfolgungsbehörden eingeschränkt werden, sowie in der Erwägung, dass Menschenrechtsverletzer nach wie vor Straffreiheit genießen und rechtsstaatliche Prinzipien missachtet werden, dass die Zivilbevölkerung sowohl der Gewalt von Seiten bewaffneter Oppositionsgruppen als auch der Strafverfolgungsbehörden ausgesetzt ist, dass Folter und Misshandlungen sowie willkürliche Inhaftierungen gängige Praxis sind und dass nichtstaatliche Organisationen, die von nationalen Regierungen unabhängig sind, für den Aufbau einer Zivilgesellschaft wichtig sind,

D. in der Erwägung, dass ungeachtet der unbestrittenen Erfolge beim Wiederaufbau und merklichen Verbesserungen der Infrastruktur in der Region in Tschetschenien allgemein ein Klima der Angst herrscht und dass die Menschenrechtslage und das Funktionieren des Justizwesens und der demokratischen Institutionen weiterhin Anlass zu größter Besorgnis geben,

E. in der Erwägung, dass in einer Reihe von Fällen, in denen Regierungsgegner und Menschenrechtsverteidiger verschwunden sind, bislang niemand zur Rechenschaft gezogen wurde und diese Fälle auch nicht mit gebührender Sorgfalt untersucht werden,

F. in der Erwägung, dass trotz eines konstruktiven Dialogs, der seit dem Amtsantritt des neuen Präsidenten zwischen den Regierung und der Zivilgesellschaft in Inguschetien geführt wird, seit 2009 ein besorgniserregendes Wiederaufflammen der Gewalt zu beobachten ist, was in einigen Fällen zur Ermordung oder zum Verschwinden von Oppositionellen und Journalisten geführt hat, ohne dass dies bislang strafrechtlich verfolgt worden wäre,

G. in der Erwägung, dass immer mehr Bürger der Nordkaukasus-Republiken verschwunden sind, nachdem sie offenbar in anderen Regionen Russlands verschleppt worden waren, sowie in der Erwägung, dass von Ali Dschanijew, Jusup Dobrijew, Junus Dobrijew and Magomed Adschijew jede Spur fehlt, seit sie etwa um Mitternacht des 28. Dezember 2009 in St. Petersburg zum letzten Mal gesehen worden sind, und dass fünf Personen (Selimchan Achmetowitsch Tschibijew, Magomed Chaibulajewitsch Israpilow, Dschamal Sijanidowitsch Magomedow, Akil Dschawatchanowitsch Abdullajew und Dowar Nasimowitsch Asadow), von denen drei im Nordkaukasus wohnhaft sind, seit der Nacht vom 24. auf den 25. September 2010 verschollen sind, als sie die Historische Moschee in Moskau besuchten,

H. in der Erwägung, dass es im Nordkaukasus immer noch etwa 80 000 Binnenflüchtlinge gibt, die vor über 18 Jahren ihre Häuser verlassen mussten, nachdem im Jahr 1992 zwischen Inguschetien und Nord-Ossetien sowie 1994 und erneut 1999 in Tschetschenien jeweils ein Krieg ausgebrochen war, und dass diese Personen Schwierigkeiten haben, eine Bleibe zu finden, ihre Aufenthaltsgenehmigungen zu verlängern, wodurch sie nur eingeschränkt Zugang zu sozialen Diensten haben, sowie ihren Personalausweis und ihren Status als "Zwangsmigranten" zu erneuern, die sie bei der Suche nach einem Arbeitsplatz sowie zur Inanspruchnahme sozialer Dienste und Leistungen benötigen,

I. in der Erwägung, dass Präsident Buzek am 3. September 2010 seine tief empfundene Solidarität mit den Familien der Opfer der Tragödie von Beslan zum Ausdruck gebracht und den Präsidenten der Russischen Föderation aufgefordert hat, dafür Sorge zu tragen, dass ihre Rechte in vollem Maße respektiert werden und dass die Wahrheit bezüglich der Hintergründe der Ereignisse vom September 2004 endlich ans Licht kommt;

J. in der Erwägung, dass der Rückgriff auf Handlungen wahlloser Gewalt gegen die Zivilbevölkerung durch nichts zu rechtfertigen ist,

K. nimmt Kenntnis von der Initiative von Vertretern der russischen und internationalen Zivilgesellschaft, ein "Natalja-Estemirowa-Dokumentationszentrum" für potenzielle Kriegsverbrechen und andere während der Kriege in Tschetschenien begangene schwere Menschenrechtsverletzungen zu errichten, Strafverfahren gegen Oleg Orlow

L. in der Erwägung, dass Menschenrechtsorganisationen wie Memorial für die Errichtung einer stabilen und freien Gesellschaft in Russland und für die Schaffung einer wirklichen und dauerhaften Stabilität im Nordkaukasus im Besonderen von grundlegender Bedeutung sind, und dass die russische Regierung und die Regierungen der Republiken im Nordkaukasus daher stolz auf die bedeutende Rolle sein können, die solchen Organisationen zukommt,

M. in der Erwägung, dass die Leiterin der Menschenrechtsorganisation Memorial in Tschetschenien, Natalja Estemirowa, 15. Juli 2009 in Grosny entführt und im benachbarten Inguschetien tot aufgefunden wurde, und dass bei der Untersuchung ihrer Ermordung zur Ermittlung der Täter und der eigentlich Verantwortlichen keine Fortschritte zu verzeichnen sind,

N. in der Erwägung, dass Oleg Orlow und das Menschenrechtszentrum Memorial auf Anordnung des Zivilgerichts der Stadt Moskau vom 21. Januar 2010 eine Entschädigung an Ramsan Kadyrow, den Präsidenten von Tschetschenien zu zahlen haben.

O. in der Erwägung, dass Ramsan Kadyrow am 9. Februar 2010 öffentlich erklärt hat, dass er die Strafanzeige wegen Verleumdung, die er gegen Oleg Orlow, den Vorsitzenden des Verwaltungsrates des Menschenrechtszentrums Memorial, und Ludmilla Alexejewa, die Vorsitzende der Helsinki-Gruppe Moskau, gestellt hat, zurückziehen werde,

P. in der Erwägung, dass Oleg Orlow am 6. Juli 2010 gemäß Artikel 129 des russischen Strafgesetzbuches angeklagt wurde und ihm im Falle eines Schuldspruchs bis zu drei Jahre Haft drohen,

Q. in der Erwägung, dass im Zuge der strafrechtlichen Ermittlungen gegen Oleg Orlow in schwerer Weise gegen die Strafprozessordnung der Russischen Föderation (insbesondere Artikel 72) verstoßen wurde,

R. in der Erwägung, dass die Büroräume mehrerer führender Menschenrechtsorganisationen, darunter Memorial, in der Zeit vom 13. bis 16. September 2010 durchsucht wurden und die Organisationen aufgefordert wurden, in kurzer Zeit zahlreiche Unterlagen über ihre Aktivitäten auszuhändigen,