Beschluss des Bundesrates
Entschließung des Bundesrates zur Verbesserung des polizeilichen Informationsaustausches zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union im Zusammenhang mit internationalen Großereignissen einschließlich der Errichtung einer "Datei über international agierende Gewalttäter"

Der Bundesrat hat in seiner 837. Sitzung am 12. Oktober 2007 beschlossen, die aus der Anlage ersichtliche Entschließung zu fassen.

Anlage
Entschließung des Bundesrates zur Verbesserung des polizeilichen Informationsaustausches zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union im Zusammenhang mit internationalen Großereignissen einschließlich der Errichtung einer "Datei über international agierende Gewalttäter"

Begründung

In den letzten Jahren kam es anlässlich von wirtschaftlichen und politischen Gipfelveranstaltungen regelmäßig zu Ausschreitungen international agierender Gewalttäter. Auch im Zusammenhang mit den Auseinandersetzungen anlässlich des G8-Gipfels in Heiligendamm musste dies von den Sicherheitsbehörden festgestellt werden. So wurden allein im Raum Rostock/Heiligendamm innerhalb des Zeitraumes vom 01.06. - 08.06.2007 insgesamt 646 Personen in Gewahrsam genommen und 459 vorläufig festgenommen. Unter diesen Personen befanden sich 259 (ca. 23 %) ausländischer Herkunft. Die meisten stammten aus Mitgliedsstaaten der Europäischen Union.

Die gewaltsamsten Auseinandersetzungen zwischen Störern und den Sicherheitskräften waren im Rahmen der Auftaktkundgebung in Rostock am 02.06.2007 zu verzeichnen. Insgesamt 433 Polizeibeamte wurden hierbei verletzt, einige davon schwer. Neun Gewalttäter (darunter fünf Personen ausländischer Herkunft) wurden bereits in beschleunigten Verfahren zu Freiheitsstrafen zwischen sechs und zehn Monaten verurteilt, gegen einen weiteren Beschuldigten kam das beschleunigte Verfahren auf Grund der zu erwartenden Freiheitsstrafe von mehr als einem Jahr nicht in Betracht. Nach Schätzung des Bundesamtes für Verfassungsschutz befanden sich unter den insgesamt 2.800 gewaltbereiten Autonomen rund 500 Personen ausländischer Herkunft. Diese Zahlen belegen, dass das Mobilisierungspotenzial der gewaltbereiten autonomen Szene internationale Dimensionen besitzt, welches insbesondere anlässlich internationaler Gipfelveranstaltungen sichtbar wird.

Die Erfahrungen der Sicherheitsbehörden zeigen, dass die Vorgehensweisen dieser gewaltbereiten Personen präzise abgestimmt und organisiert wurden. Das Störerverhalten war von einem hohen Maß an Konspirativität und Gewaltbereitschaft geprägt. Umfangreiche polizeiliche und gesellschaftliche Ansätze, diesen Personenkreis in die friedlichen Protestformen zu integrieren, müssen als gescheitert angesehen werden. Auch intensive Deeskalationsbemühungen scheiterten angesichts dieses primär auf Gewaltausübung fixierten Personenkreises.

Im Zusammenhang mit der polizeilichen Einsatzbewältigung wurden Defizite bezüglich des internationalen Informationsaustausches deutlich. Gegenwärtig findet die zwischenstaatliche Übermittlung von Erkenntnissen zu potenziell gewaltbereiten Störern lediglich anlassbezogen - oftmals unvollständig oder verspätet - und nicht nach einheitlichen Standards statt. Im Zusammenhang mit dem G8-Gipfel in Heiligendamm wurden von Staaten, aus denen im Vorfeld mit der Anreise von Personen des gewaltbereiten Spektrums zu rechnen war, trotz offizieller Ersuchen keine entsprechenden Daten übermittelt. Dies führte u.a. dazu, dass einsatzführende Polizeibehörden nicht hinreichend über Zahl, Reisewege, Reisezeiten etc. von aus dem Ausland anreisenden gewaltbereiten Störern unterrichtet waren und daher ausländische Personen frühestens bei Einreisekontrollen durch gezielte Nachfrage bei den ausländischen Behörden auf Grund dort vorliegender polizeilicher Erkenntnisse als potenziell gewaltbereite Störer erkannt und so an der Einreise gehindert werden konnten.

Auf Basis der heutigen Erkenntnislage muss auch bei zukünftigen Veranstaltungen mit erheblichen gewalttätigen Begleiterscheinungen gerechnet werden. Daher ist es dringend erforderlich, den systematischen polizeilichen Informationsaustausch über gewaltbereite Störer auf europäischer Ebene zu intensivieren.

Eine nachhaltige Verbesserung des Informationsaustausches auf europäischer Ebene kann mittels eines verbesserten Meldeverhaltens aller mitgliedstaatlicher Polizeibehörden sowie eines europaweit verfügbaren Informationssystems erreicht werden. Damit wird zum einen die grenzüberschreitende Verfügbarkeit polizeilich relevanter Daten sichergestellt und beschleunigt, zum anderen ein europaweiter Standard insbesondere hinsichtlich der Speicherungsvoraussetzungen, der Struktur der Daten sowie der Inhalte einer spezifischen Datei herbeigeführt.

Eine zentrale europäische Auskunftsdatei wäre geeignet, Erkenntnisse über Personen zu vermitteln, die bereits einschlägig im Bereich der Gewaltkriminalität im Zusammenhang mit Veranstaltungen in Erscheinung getreten sind und bei denen Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass sie sich auch in Zukunft an unfriedlichen Protesten beteiligen werden. Eine solche Auskunftsdatei ermöglicht den Sicherheitskräften jedes betroffenen Landes reisende gewaltbereite Störer zu identifizieren und angemessene Maßnahmen zu ergreifen. Dies ist unabdingbare Voraussetzung für eine erfolgreiche Verhinderung und Verfolgung gewalthaltiger Straftaten.

Die zeitnahe Verfügbarkeit von lagerelevanten Informationen und Daten über international agierende gewaltbereite Störer stellt gerade für die polizeiliche Einsatzbewältigung von herausragenden Veranstaltungen einen unverzichtbaren Mehrwert für die sichere Beurteilung der Lage dar, welche direkte Auswirkungen auf polizeiliche Strategien hat.

Vor dem Hintergrund der Umwandlung des Europol-Übereinkommens in einen Beschluss des Rates und der Erweiterung des Mandats von Europol auf schwere Straftaten von grenzüberschreitender Dimension, stellt die Einrichtung einer spezifischen "Datei über international agierende Gewalttäter" bei Europol einen möglichen Weg zur Realisierung dar. Diese Daten sollten das Europol-Informationssystem sinnvoll erweitern und europaweite Zugriffsmöglichkeiten eröffnen. Dies setzt allerdings in rechtlicher Hinsicht voraus, dass zunächst das Mandat von Europol über den bestehenden Zuschnitt hinaus qualitativ erweitert wird. Hinsichtlich der technischen Umsetzung müssen Lösungen gefunden werden, die nicht nur den unmittelbaren Vollzugriff weniger Spezialdienststellen, sondern nach Möglichkeit auch den Online-Zugriff der direkt im Einsatzgeschehen stehenden Polizeikräfte ermöglicht. Gerade unter dem letztgenannten Aspekt können auch das bereits in Betrieb befindliche Schengener Informationssystem (SIS) sowie ein noch zu schaffender, auf den Prümer Vertrag gestützter "Verbund der in den Mitgliedstaaten geführten nationalen Gewalttäterdateien" mindestens gleichermaßen praxistaugliche Optionen darstellen, mit denen ebenfalls das Ziel einer europaweit abfragbaren Gewalttäterdatei erreicht werden kann. Bei der endgültigen Entscheidung über die zu wählende Lösung wird auch der bisher von den Ländern stets vertretene und im Haager Programm manifestierte Grundsatz angemessen zu berücksichtigen sein, wonach eine Zentraldateilösung - wie das Europol-Informationssystem - lediglich ausnahmsweise anzustreben sei. Danach soll dem gegenseitigen Zugriff auf nationale Datenbanken der Mitgliedstaaten gegenüber der Errichtung neuer zentralisierter europäischer Datenbanken der Vorzug gegeben werden, soweit nicht auf der Grundlage von Untersuchungen ein Zusatznutzen der Zentraldatei aufgezeigt werden kann.