Bundesministerium für Wirtschaft und Energie Berlin, 12. Februar 2020
An den Präsidenten des Bundesrates
Herrn Ministerpräsidenten
Dr. Dietmar Woidke
Sehr geehrter Herr Präsident,
als Anlage übersende ich Ihnen das heute von der Bundesregierung beschlossene "Strategiepapier der Bundesregierung zur Stärkung der Sicherheits- und Verteidigungsindustrie".
Das Strategiepapier leite ich Ihnen anbei zu Ihrer Unterrichtung zu.
Mit freundlichen Grüßen
Peter Altmaier
Strategiepapier der Bundesregierung zur Stärkung der Sicherheits- und Verteidigungsindustrie
I. Einleitung
Das vorliegende Strategiepapier dient als Leitbild für die Politik der Bundesregierung hinsichtlich der Sicherheits- und Verteidigungsindustrie. Es ersetzt das Strategiepapier zur Stärkung der Verteidigungsindustrie aus dem Jahr 2015 sowie das Strategiepapier zur Stärkung der zivilen Sicherheitsindustrie aus dem Jahr 2016.
Das Strategiepapier dient auch als Maßgabe für die deutsche EU-Politik im Bereich Sicherheits- und Verteidigungsindustrie.
Als Sicherheits- und Verteidigungsindustrie wird hier die Gesamtheit aller Unternehmen angesehen, die Produkte, Technologien und technische Dienstleistungen zum Zwecke der zivilen Sicherheit und der militärischen Nutzung entwickeln oder produzieren und hierdurch einen Großteil ihres Umsatzes erzielen.
Die Umsetzung des Strategiepapiers erfolgt im Rahmen der Haushalts- und Finanzplanung der Bundesregierung.
II. Das sicherheits- und verteidigungspolitische Umfeld
Die sicherheits- und verteidigungspolitischen Herausforderungen Deutschlands, der EU sowie der NATO sind in den zurückliegenden Jahren größer, volatiler und komplexer geworden. Die regelbasierte nationale und internationale Ordnung, die mit ihren Organisationen und Institutionen den Rahmen für das politische Handeln der Bundesrepublik Deutschland setzt, muss gestärkt und weiterentwickelt werden.
Im Bereich der inneren Sicherheit ist eine Anpassung der Sicherheitsarchitektur in Deutschland an die gegenwärtigen und zukünftigen Herausforderungen erforderlich. Gleichzeitig sind die Potenziale der Digitalisierung zur Gewährleistung der inneren Sicherheit zu nutzen.
Die Gefährdungslage durch islamistischen Terrorismus und Rechtsextremismus in Deutschland ist hoch. Im Kampf gegen nationalen und transnationalen Terrorismus und Extremismus sind die Analysefähigkeiten der Sicherheitsbehörden zu stärken und es muss sichergestellt werden, dass diese angemessene und praxistaugliche Befugnisse besitzen, um Bedrohungen frühzeitig aufklären zu können. Auch die Bekämpfung politisch motivierter Hasskriminalität ist zu intensivieren.
Die Erhöhung militärischer Aktivitäten an den Außengrenzen der EU und der NATO sowie der zunehmende Einsatz hybrider Instrumente haben tiefgreifende Folgen für die Sicherheit in Europa, insbesondere für die östlichen EU-Mitgliedstaaten. Die Folge ist, dass eine glaubwürdige Stärkung der Abschreckungs- und Verteidigungsfähigkeiten sowie der Aufbau von Resilienz in Deutschland, Europa und innerhalb der NATO bei gleichzeitiger Bereitschaft zum Dialog wieder stärker in den Fokus gerückt werden müssen. Gleichrangig bleibt daneben die Bereitstellung von Fähigkeiten zum Krisenmanagement.
Der transnationale Terrorismus wird auch in Zukunft eine wesentliche Herausforderung für unsere Sicherheit darstellen. Die Terrorismusbekämpfung ist eine Aufgabe der äußeren wie der inneren Sicherheitspolitik.
Eine technologische Herausforderung für unsere Sicherheit und Verteidigung ist der Bereich der Digitalisierung und der Künstlichen Intelligenz. Die Gewährleistung der Cybersicherheit ist Grundvoraussetzung für die fortschreitende Digitalisierung von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft und ebenso wichtig für die Souveränität Deutschlands und Europas.
Fortschritte in der Forschung und der Entwicklung neuer Technologien, wie z.B. in der Digitalisierung, im Bereich der Künstlichen Intelligenz, unbemannter Systeme, der Hyperschalltechnik, der Biotechnologien und der Cyber-Instrumente, werden grundlegende Auswirkungen auf die sicherheits- und verteidigungsrelevanten Systeme der Zukunft haben. Damit sind auch Fragen nach dem möglichen Destabilisierungspotenzial und der Völkerrechtskonformität des Einsatzes neuer Technologien in Waffensystemen verbunden. Auch die zivile und militärische Nutzung des Weltraums wird vor dem Hintergrund der sicherheitspolitischen Veränderungen künftig an sicherheits- und verteidigungspolitischer Bedeutung weiter gewinnen.
Deutschland ist sicherheitspolitisch fest in den euroatlantischen Strukturen verankert. Eine Stärkung der Handlungsfähigkeit der NATO und eine Intensivierung der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU sind erklärte Ziele der Bundesregierung. Unser bewährtes Koordinatensystem basiert auf europäischer Integration, transatlantischer Partnerschaft und einer aktiven Rolle bei der gemeinsamen Gestaltung einer globalen Friedensordnung in den Vereinten Nationen und anderen internationalen Organisationen.
III. Notwendigkeit einer leistungs- und wettbewerbsfähigen deutschen und europäischen Sicherheits- und Verteidigungsindustrie - Erhalt und Förderung von sicherheits- und verteidigungsindustriellen Schlüsseltechnologien
Eine elementare Aufgabe des Staates ist es, die Sicherung des inneren und äußeren Friedens sowie die Sicherheit seiner Bürgerinnen und Bürger zu gewährleisten. Zentrale Voraussetzung für die Erfüllung dieser Aufgabe ist eine bestmögliche Ausrüstung der zivilen Sicherheitsorgane sowie der Bundeswehr und ihrer Verbündeten.
Die Versorgung mit Ausrüstung sowie die Funktionsfähigkeit kritischer Infrastrukturen müssen zu jedem Zeitpunkt gewährleistet sein. Auch die rechtlichen Befugnisse und technischen Instrumente der Sicherheitsbehörden sind an die neuen Gefährdungslagen anzugleichen. Es bedarf eines Gleichlaufes der Kompetenzen der Sicherheitsbehörden im digitalen wie im analogen Raum und einer zukunftsfähigen Ausgestaltung zentraler Ermittlungsbefugnisse und -fähigkeiten. Eine Modernisierung des polizeilichen Informationswesens ist erforderlich, um den Austausch zwischen den Polizeien des Bundes und der Länder ebenso wie die Zusammenarbeit mit nationalen und internationalen Partnern zu vereinfachen.
Die hierfür notwendigen Schlüsseltechnologien sollen von dauerhaft vertrauenswürdigen Herstellern bezogen werden, ohne dabei von Drittstaaten außerhalb der EU abhängig zu sein.
Dies erfordert eine innovative, leistungs- und wettbewerbsfähige Sicherheits- und Verteidigungsindustrie in Deutschland und der EU mit entsprechend hochqualifizierten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern.
Der Sicherheits- und Verteidigungsindustrie kommt sowohl unter sicherheits- und verteidigungspolitischen als auch unter technologie- und industriepolitischen Aspekten eine strategische Bedeutung zu. Diese Unternehmen spielen insbesondere bei der Ausstattung der zivilen Behörden und Organisationen mit Sicherheitsaufgaben (BOS) sowie der Bundeswehr eine zentrale Rolle und leisten dadurch einen wichtigen Beitrag für den Schutz der Bürgerinnen und Bürger in Deutschland und Europa. Die
Sicherheits- und Verteidigungsindustrie ist damit eine Branche von nationalem und europäischem Interesse. Eine innovative, leistungs- und wettbewerbsfähige Sicherheits- und Verteidigungsindustrie ist auch ein wesentlicher Baustein für die Bündnis- und Kooperationsfähigkeit Deutschlands und der EU, insbesondere innerhalb der NATO. Dabei soll die Europäisierung von Rüstungsvorhaben unter Wahrung nationaler Schlüsseltechnologien die Interoperabilität der Streitkräfte in den Bündnissen erhöhen und zudem durch die Nutzung von Skaleneffekten (economies of scale) Kostensenkungen erzielen. Hierbei ist eine enge Kohärenz mit der Fähigkeitsplanung der NATO von hoher Bedeutung.
Im Rahmen einer gesamtpolitischen Abwägung strebt die Bundesregierung daher an, die Rahmenbedingungen für die Unternehmen dieser Industrie weiter zu verbessern. Mit Blick auf zum Teil lange Beschaffungszyklen kommt es darauf an, die Planbarkeit auf Seiten der Industrie zu erhöhen.
Industrielle Kernfähigkeiten und strategisch relevante Entwicklungskapazitäten sind am Standort Deutschland und EU zu erhalten und zu fördern.
Zu berücksichtigen ist dabei, dass einmal aufgegebene Technologien und Fähigkeiten, wenn überhaupt, nur unter großem finanziellen und zeitlichen Aufwand wiederzuerlangen wären. Dabei gilt es, die Kostenvorteile einer verstärkten europäischen Kooperation zu nutzen.
Die Bundesregierung legt in diesem Zusammenhang sicherheits- und verteidigungsindustrielle Schlüsseltechnologien fest, die in der nachfolgenden Übersicht dargestellt sind:
Die Verfügbarkeit der identifizierten sicherheits- und verteidigungsindustriellen Schlüsseltechnologien ist aus wesentlichem nationalen Sicherheitsinteresse zu gewährleisten, abhängig von der Einordnung der Technologie gegebenenfalls auch im Rahmen von europäischen/transatlantischen Kooperationen und diesbezüglichen bi- und multilateralen Vereinbarungen.
Zum Erhalt bzw. zur Stärkung der sicherheits- und verteidigungsindustriellen Schlüsseltechnologien wird die Bundesregierung diese vor allem bei den unten genannten Maßnahmen in den Bereichen Forschung, Entwicklung und Innovation (V.1.), Produktion (V.2.), Beschaffung (V.3.), Exportunterstützung und -kontrolle (V.4.) sowie Investitionskontrolle (V.5.) besonders fördern und schützen.
Voraussetzung für die Förderung im Verteidigungsbereich ist die Völkerrechtskonformität der betreffenden Waffensysteme. In diesem Zusammenhang hat die Förderfähigkeit von Maßnahmen im Hinblick auf neue Verteidigungsgüter oder - technologien ebenfalls den völkerrechtlichen Entwicklungen zu unterliegen.
IV. Lage und Perspektiven der Sicherheits- und Verteidigungsindustrie in Deutschland
Am Standort Deutschland besteht eine leistungsfähige, privatwirtschaftlich organisierte Sicherheits- und Verteidigungsindustrie, die alle Stufen der Wertschöpfungskette von der Forschung und Innovation über die Komponentenzulieferung bis hin zur komplexen Systemintegration abdeckt. Eine immer größere Bedeutung nimmt dabei im Rahmen der fortschreitenden Digitalisierung die Informationstechnologie ein, durch die zunehmend neue zivile Technologien im Bereich der Sicherheit und Verteidigung zur Anwendung kommen.
Die Bandbreite des Angebotes der Sicherheits- und Verteidigungsindustrie lässt sich grob in die Bereiche zivile Sicherheitstechnologien und militärische Verteidigungstechnologien aufgliedern. Beide Industriezweige sind eng miteinander verzahnt und profitieren von wechselseitigem Wissens-, Erfahrungs- und Technologieaustausch.
Mittelständische Unternehmen spielen dabei sowohl eigenständig als auch im Verbund mit anderen Mittelständlern und als Partner der Systemhäuser eine entscheidende Rolle.
Zu berücksichtigen ist, dass der Markt für Güter der Sicherheits- und Verteidigungsindustrie bedingt durch die besondere Rolle des Staates einen spezifischen Markt darstellt. Sicherheits- und verteidigungspolitische Interessen, gesetzgeberische Maßnahmen und die Bedeutung des Staates als Nachfrager wirken sich hier in einem wesentlich größeren Umfang auf das Marktgeschehen aus als in anderen Wirtschaftszweigen. Eine besondere Rolle spielt dabei auch die staatliche Exportkontrolle.
Hinzu kommt, dass in anderen Ländern insbesondere die Verteidigungsindustrie häufig in staatlicher Hand liegt oder sehr eng mit dem Staat verzahnt ist und damit gleiche Wettbewerbsbedingungen nicht gegeben sind.
Nicht zuletzt durch die unterschiedlichen nationalen Anforderungen ist die Sicherheits- und Verteidigungsindustrie in der EU nach wie vor national ausgerichtet und stark fragmentiert. Insbesondere ein Verteidigungsbinnenmarkt ist faktisch noch nicht realisiert. Dies führt in vielen Fällen zu erheblichen Nachteilen in Bezug auf Kosten, internationale Wettbewerbsfähigkeit und Zusammenarbeit. Die Bundesregierung wird daher durch verschiedene Maßnahmen auf eine verstärkte industrielle Konsolidierung innerhalb Europas hinwirken und erforderliche Prozesse im Rahmen ihrer Möglichkeiten unterstützen, um so ökonomische Synergien zu fördern und Kohärenz zu stärken. Europäische Kooperation und die stärkere europaweite Verschränkung der deutschen Sicherheits- und Verteidigungsindustrie können dabei wichtige Schritte sein.
Mit der Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit (PESCO), dem Europäischen Verteidigungsfonds (EVF) und mit der Synchronisierung der mitgliedstaatlichen Verteidigungsplanungen über CARD (Coordinated Annual Review on Defence) wurde in den letzten Jahren das Fundament für eine Europäische Verteidigungsunion (EVU) gelegt, welche Europa und die NATO stärken wird.
Um ein aktuelles Bild über die Sicherheits- und Verteidigungsindustrie zu bekommen, wird die Bundesregierung eine neue Studie in Auftrag geben. Diese soll grundlegende Kennzahlen, Branchen und Strukturen, Produkte und Märkte sowie Perspektiven und Chancen der Sicherheits- und Verteidigungsindustrie untersuchen.
V. Strategische Ziele und Maßnahmen zur Stärkung der Sicherheits- und Verteidigungsindustrie
1. Forschung, Entwicklung und Innovationen stärken
Wesentlicher Eckstein einer zielgerichteten technologischen Weiterentwicklung der Sicherheits- und Verteidigungsindustrie sind verstärkte Investitionen in Forschung, Entwicklung und Innovation. Hier sind auch die Unternehmen gefordert. Die Bundesregierung wird zugleich ihre Anstrengungen zur Förderung innovativer sicherheits- und verteidigungsrelevanter Technologien auf nationaler und europäischer Ebene erhöhen.
Investitionen in die zivile Sicherheitsforschung und die Verteidigungsforschung bilden die Basis zur Erreichung dieser Ziele. Das hohe nationale Anforderungsniveau an die Zertifizierung von Produkten und Dienstleistungen sowie die Gewährleistung eines adäquaten Geheimschutzes und eines hohen Datenschutzniveaus bei Berücksichtigung der Erfordernisse des Marktes stellt hierbei einen noch weiter auszubauenden Wettbewerbsvorteil der deutschen Sicherheitsindustrie dar.
Die Agentur für Innovation in der Cybersicherheit (Cyberagentur) unter der Leitung des BMVg und des BMI hat zum Ziel, Deutschland zu eigener Technologie-Souveränität in der Cybersicherheit zu verhelfen. Aufgabe der Agentur ist es, bahnbrechende Innovationen zu identifizieren und konkrete Aufträge für die Entwicklung von Lösungsmöglichkeiten zu vergeben. Die Cyberagentur wird in zukünftige Innovationen in der Cybersicherheit und diesbezüglicher Schlüsseltechnologien investieren.
Mit dem Rahmenprogramm "Forschung für die zivile Sicherheit 2018-2023" stellt sich die Bundesregierung der aktuellen und zukünftigen Verantwortung, Sicherheit und Ordnung in einer vernetzten Welt zu verbessern. Es werden dazu - ausschließlich auf Basis ziviler Szenarien - innovative Lösungen erforscht und praxisnah umgesetzt, die die Sicherheit und Lebensqualität der Bürgerinnen und Bürger erhöhen und den Schutz lebenswichtiger Infrastrukturen gewährleisten.
Die Einrichtung von Kompetenzzentren, Spitzenforschungsclustern oder Innovationslaboren ist ein zentraler Baustein, um die wissenschaftliche Arbeit noch enger mit den konkreten Praxisanforderungen der Anwender zu verzahnen. Der Innovations- und Praxistransfer wird durch neue Fördermaßnahmen gestärkt, die es ermöglichen, Sicherheitslösungen in der Fläche zu erproben oder zielgerichtet als Praxisleuchttürme fortzuentwickeln. Eine wichtige Rolle beim Wissens- und Technologietransfer spielen technologieorientierte Unternehmensgründungen. Um neue Perspektiven und Lösungsansätze in globalen Fragen der zivilen und militärischen Sicherheit zu entwickeln, ist es notwendig, Kooperationen mit starken europäischen und internationalen Forschungs- und Technologiepartnern einzugehen. Die Bundesregierung wird daher bestehende bi- und multilaterale Forschungsaktivitäten ausbauen. Bei der Auswahl der Forschungs- und Technologiepartner wird sie besonderes Augenmerk auf ihre sicherheits- und verteidigungspolitischen Belange legen.
Wesentliches Ziel der Forschungszusammenarbeit in der Europäischen Union ist es, die nationalen und europaweiten Aktivitäten in der zivilen Sicherheitsforschung zu verzahnen und die dabei entstehenden Synergien zu nutzen. Die Akteure der nationalen Forschungsszene bringen dabei in zahlreichen Projekten und Initiativen ihre Kompetenzen ein und tragen so dazu bei, die europäische Sicherheitsarchitektur zukunftsfähig zu gestalten und die Wettbewerbsfähigkeit der Sicherheitswirtschaft in Europa zu stärken.
Die Bundesregierung wird - wo erforderlich - die für deutsche Unternehmen der Sicherheits- und Verteidigungsindustrie bestehenden Beratungsstrukturen und Unterstützungsmaßnahmen zur Teilnahme an entsprechenden europäischen Forschungs-, Entwicklungs- und Innovationsprogrammen weiter ausbauen und stärken.
Der Europäische Verteidigungsfonds (EVF) hat das Potenzial, ein wichtiger Katalysator für eine zunehmend stärker integrierte europäische Verteidigungsindustrie zu werden und wird durch die Förderung von gemeinschaftlichen Entwicklungen auch die Interoperabilität zwischen den Streitkräften verbessern. Die Bundesregierung wird sich dafür einsetzen, dieses Instrument auch zur weiteren Vertiefung des europäischen Verteidigungsgütermarktes in Richtung des politischen Fernziels eines Verteidigungsbinnenmarktes zu nutzen. Hierzu gehört auch eine künftige Kooperation zwischen den EU-Mitgliedstaaten bei der Finanzierung von Verteidigungsprojekten.
2. Rahmenbedingungen für eine effiziente Produktion setzen
Auch in der Sicherheits- und Verteidigungsindustrie spielen neue Entwicklungen im Bereich der sog. Industrie 4.0, also intelligente, digital vernetzte Systeme und Produktionsprozesse, eine immer stärkere Rolle.
Bestehende Förderprogramme wie "Autonomik für Industrie 4.0" und "Smart Service Welt", Kompetenzzentren und Agenturen sowie Testumgebungen für mittelständische Unternehmen sollten vermehrt von der Sicherheits- und Verteidigungsindustrie genutzt werden, um Innovationen im Bereich der Digitalisierung auch für diesen Sektor einsetzbar zu machen. Dabei kann die Sicherheits- und Verteidigungsindustrie auch auf das in der Plattform Industrie 4.0 gebündelte Expertenwissen, die internationale Vernetzung der Plattform sowie deren vielfältige Unterstützungsangebote für die mittelständische Wirtschaft zurückgreifen.
Durch die zunehmende Komplexität der Güter und Produktionsprozesse der Sicherheits- und Verteidigungsindustrie, insbesondere durch die Digitalisierung, entstehen zusätzliche Anforderungen an die Beschäftigten. Die Bundesregierung arbeitet intensiv daran, dem Fachkräftemangel entgegenzuwirken. Dies betrifft auch die Bereiche IT-Sicherheit und Industrie 4.0. Wo möglich und angemessen, werden entsprechende Kompetenzen in der beruflichen Bildung verankert.
Neben der Forschung und Entwicklung können auch im Bereich der Produktion funktionierende Clusterstrukturen zu Effizienzvorteilen für die Unternehmen führen und eine wichtige Einbindungsfunktion für kleine und mittlere Unternehmen erfüllen. Die strategische Vernetzung von Knowhow aus dem zivilen und militärischen Bereich bietet Potenzial zur Diversifizierung von Unternehmen sowie zur Schaffung von regionalen Innovationssystemen und zur Stärkung von Produktionsstandorten. Die Bundesregierung wird daher weiterhin durch ihre bestehenden Programme zur Clusterförderung die Vernetzung von Produktionsstätten der Sicherheits- und Verteidigungsindustrie unterstützen. Sie legt darüber hinaus nationalen Wirtschaftsclustern nahe, sich in europäische strategische Cluster-Partnerschaften einzubringen, die im Rahmen des EU-Programms COSME (Competitiveness of Enterprises and Small and Mediumsized Enterprises) unterstützt werden. Hierzu sollten auch bestehende EU-weite Tools und Netzwerke wie das europäische Netzwerk von im Verteidigungssektor engagierten Regionen genutzt werden.
3. Beschaffungswesen optimieren
Im Bereich der zivilen Sicherheit und der Verteidigung ist der Staat ein zentraler Nachfrager von Innovationen. Maßnahmen zur Unterstützung der innovationsfördernden Beschaffung können dazu beitragen, den Transfer von Forschungsergebnissen in markt- bzw. beschaffungsfähige Produkte und Dienstleistungen zu beschleunigen und Anwendern den Zugang zu Innovationen zu erleichtern. Zudem unterstützen sie die internationale Wettbewerbsfähigkeit der Industrie.
Die vom europäischen und nationalen Gesetzgeber eingeräumten Spielräume in der Anwendung der Ausnahmevorschrift des Artikels 346 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) sollen genutzt werden, um die wesentlichen nationalen Sicherheitsinteressen, insbesondere den Erhalt nationaler Souveränität, zu wahren. Um dies im deutschen Vergaberecht zu konkretisieren, hat die Bundesregierung einen Gesetzentwurf1 eingebracht, der "sicherheits- und verteidigungsindustrielle Schlüsseltechnologien" als möglichen Fall der Betroffenheit wesentlicher Sicherheitsinteressen nach Artikel 346 AEUV im Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen ausdrücklich benennt.
Als weitere Maßnahme zur Beschleunigung von Vergabeverfahren im Bereich Verteidigung und Sicherheit enthält der Entwurf eine Änderung von § 12 Vergabeverordnung für die Bereiche Verteidigung und Sicherheit (VSVgV).
§ 12 VSVgV gestattet in bestimmten Fällen ausnahmsweise die Vergabe von Aufträgen im Verhandlungsverfahren ohne Teilnahmewettbewerb. Durch die Ergänzung von Regelbeispielen soll die praktische Handhabung von § 12 VSVgV vereinfacht werden.
Darüber hinaus wird die Bundesregierung im Rahmen der praktischen Beschaffung die rechtlichen Möglichkeiten, die das Vergaberecht bereits bietet, künftig verstärkt ausnutzen.
Gleichzeitig wird sich die Bundesregierung in der EU für eine stärkere Harmonisierung der Beschaffung, u.a. durch einheitliche Standards und Spezifikationen, einsetzen, um so den europäischen Mehrwert der Zusammenarbeit in den Bereichen Sicherheit und Verteidigung noch besser nutzen zu können. Damit können faire Zugangsbedingungen für alle
Unternehmen erreicht sowie Kooperationen auf Industrie- und Regierungsseite zwischen den Mitgliedstaaten erleichtert werden. Dies betrifft auch die Wartung und Instandsetzung.
Die Bundesregierung strebt, wo möglich, eine frühzeitige Einbindung der Industrie im Beschaffungsprozess an, um deren fachliche und technische Expertise stärker zu nutzen.
Fragen der IT-Sicherheit und der Vertrauenswürdigkeit der verschiedenen Hersteller sollen auch in Vergabeverfahren verstärkt berücksichtigt werden.
Aufträge bei bi- und multinationalen Entwicklungen und Beschaffungen sind an industrieller Effizienz und Leistungsfähigkeit auszurichten. Auf dieser Grundlage ist eine angemessene Teilhabe deutscher Unternehmen anzustreben.
Bei der Beschaffung sind auch Aspekte der Instandhaltung bzw. Instandsetzung über den gesamten Produktlebenszyklus zu berücksichtigen.
4. Exporte politisch flankieren und verantwortungsvoll kontrollieren
Die Bundesregierung bekennt sich zu einer zurückhaltenden und verantwortungsvollen Rüstungsexportkontrollpolitik auf Grundlage des Gemeinsamen Standpunkts der EU vom 8. Dezember 2008 in der Fassung vom 16. September 2019, ihrer am 26. Juni 2019 in geschärfter Form verabschiedeten "Politischen Grundsätze der Bundesregierung für den Export von Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern" und dem Vertrag über den Waffenhandel ("Arms Trade Treaty"). Der Export von Gütern mit doppeltem Verwendungszweck in Drittländer unterliegt der Dual-Use-Verordnung. Die Bundesregierung legt dabei auch besonderes Augenmerk auf die Entwicklung neuer, ggf. noch nicht exportkontrollierter Technologien (emerging technologies), um angemessene Kontrollen sicherzustellen und unerwünschte Technologieabflüsse zu vermeiden.
Auf der Basis des Gemeinsamen Standpunkts und der Dual-Use-Verordnung wird eine weitere Harmonisierung der exportkontrollpolitischen Entscheidungen im Bereich der Rüstungs- wie der Dual-Use-Güter innerhalb der EU angestrebt.
Die Bundesregierung setzt zudem ihre Bemühungen um eine weitere Optimierung der Antrags- und Genehmigungsprozesse in der Exportkontrolle fort.
Exporte, insbesondere in EU-, NATO- und NATO-gleichgestellte Länder2, liegen im sicherheits- und verteidigungspolitischen Interesse Deutschlands. Sie tragen bei zu höheren Stückzahlen und damit ggf. geringeren Beschaffungs- und Nutzungskosten der zivilen Behörden und Organisationen mit Sicherheitsaufgaben und der Bundeswehr. Zudem unterstützen sie das Ziel einer höheren Interoperabilität mit verbündeten Streitkräften und fördern Beschäftigung und Technologieentwicklung in Deutschland.
Die Bundesregierung wird daher Exportaktivitäten in Deutschland ansässiger Unternehmen, insbesondere in EU-, NATO- und NATO-gleichgestellte Länder, nach sorgfältiger Einzelfallprüfung über außenwirtschaftliche und sonstige Instrumente unterstützen. Dies ist insbesondere dann angezeigt,
- - wenn hierdurch sicherheits-, verteidigungs- oder außenpolitische Interessen Deutschlands unterstützt werden können,
- - wenn es sich um Produkte aus dem Bereich der sicherheits- und verteidigungsindustriellen Schlüsseltechnologien handelt,
- - wenn durch die politische Flankierung von Konkurrenzprodukten anderer Staaten die Wettbewerbssituation auf den Exportmärkten verzerrt wird.
- - wenn dies Voraussetzung für die Partizipation anderer EU-Mitgliedstaaten bei europäischen Kooperationsprojekten ist.
Die Unterstützung von Rüstungsexporten in Drittstaaten kann nach vorheriger rüstungsexportkontrollpolitischer Bewertung durch die Bundesregierung nur dann erfolgen, wenn im Einzelfall für den Export von Kriegswaffen besondere außen- und sicherheitspolitische Interessen der Bundesrepublik Deutschland unter Berücksichtigung der Bündnisinteressen sprechen oder durch den Export sonstiger Rüstungsgüter im Rahmen des Außenwirtschaftsrechts zu schützende Belange des friedlichen Zusammenlebens der Völker oder der auswärtigen Beziehungen nicht gefährdet sind.
Die Koordinierung der Exportunterstützung wird zwischen den zuständigen Bundesministerien in einem permanenten Steuerungskreis stärker institutionalisiert. Dieser steht gegenüber der Industrie als zentraler Ansprechpartner für Fragen der Exportunterstützung zur Verfügung.
Die Bundesregierung wird mit Partnerstaaten bilaterale Absprachen treffen oder Vereinbarungen abschließen, wenn dadurch die Chancen deutscher Unternehmen bei wichtigen ausländischen Beschaffungsvorhaben verbessert werden können und dies den außen- und sicherheitspolitischen Interessen Deutschlands entspricht.
Auf europäischer und internationaler Ebene wird sich die Bundesregierung für eine Einschränkung der im Bereich der Verteidigungsindustrie international üblichen Offset-Geschäfte einsetzen.
5. Schutz von Sicherheitsinteressen
Zum Erhalt sicherheits- und verteidigungsindustrieller Schlüsseltechnologien in Deutschland und Europa ist ein effektiver Schutz vor sicherheitsgefährdender Einflussnahme seitens Drittstaaten notwendig.
Dies stellt die Bundesregierung u.a. durch Investitionsprüfungen nach dem Außenwirtschaftsgesetz und der Außenwirtschaftsverordnung (AWV) sicher.
Die Bundesregierung hat außerdem eine EU-Verordnung zur Schaffung eines europaweiten Rahmens zur Überprüfung ausländischer Direktinvestitionen maßgeblich vorangetrieben.
Zur Erlangung einer digitalen Souveränität und Resilienz gegenüber hybriden Bedrohungen soll die Abhängigkeit von ausländischen Informationstechnologien reduziert werden. Soweit die Souveränität bei heute bereits identifizierbaren, aber erst zukünftig in der Masse relevanten und produktiv eingesetzten Technologien gesichert werden muss, muss es möglich sein, einem Ausverkauf bereits in frühen Stadien entgegenzuwirken. Dies gilt insbesondere mit Blick auf Schlüsseltechnologien. Die Prüfmechanismen der AWV können dies nicht leisten. Die AWV ist ein reaktives Mittel, um bestehende Sicherheitsinteressen abzusichern. Es sind flexible und strategisch einsetzbare Instrumente als Antwort auf drohende Ausverkäufe zukünftiger sicherheits- und verteidigungsindustrieller Schlüsseltechnologien notwendig. Die Bundesregierung arbeitet an entsprechenden Ansätzen, dieses Ziel zu erreichen. Dazu soll insbesondere die Einrichtung eines IT-Sicherheitsfonds vorangetrieben werden, um aktiv unerwünschten Übernahmen begegnen zu können.
VI. Gesellschaftliche Akzeptanz:
Die Perspektiven und Akzeptanz der Sicherheits- und Verteidigungsindustrie hängen maßgeblich von der gesellschaftspolitischen Diskussion über die Bedeutung dieser Branche für die nationale und europäische Innen-, Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik sowie für die gesamtgesellschaftliche Resilienz gegenüber hybriden Bedrohungen ab.
Die Bundesregierung ist angesichts der aktuellen internationalen Herausforderungen der Auffassung, dass es eine offene Debatte in der Gesellschaft braucht, um mit einer breiten Öffentlichkeit über die Rolle der Sicherheits- und Verteidigungsindustrie für die Sicherheitsvorsorge in Deutschland, Europa und darüber hinaus zu diskutieren.
Sie wird daher die Umsetzung des vorliegenden Strategiepapieres in mehreren Dialogformaten mit der Industrie und gesellschaftlichen Akteuren begleiten:
- - Branchendialog mit der Verteidigungsindustrie zur Erörterung von Themen mit grundsätzlicher Bedeutung aus Sicht der Unternehmen und der Arbeitnehmerschaft, unter Leitung des BMWi
- - Branchendialog mit der Sicherheitsindustrie zur Erörterung von Themen mit grundsätzlicher Bedeutung aus Sicht der Unternehmen und der Arbeitnehmerschaft, unter Leitung des BMWi
- - Dialog mit Akteuren der Zivilgesellschaft zu Themen der Sicherheits- und Verteidigungsindustrie, insbesondere zur Rüstungsexportkontrolle, unter Leitung des BMWi
- - Dialog mit Zivilgesellschaft und Industrie zu Rüstungskontrolle und neuen Technologien, unter Leitung des AA - Strukturierter Dialog mit der Verteidigungsindustrie zur Verbesserung von Rüstungswesen und Einsatzbereitschaft und für Innovation und Zukunftsfähigkeit, unter Leitung des BMVg
- - Strukturierter Dialog mit der zivilen Sicherheitsindustrie zur Stärkung der digitalen Souveränität im Hinblick auf den Bedarf der Kritischen Infrastrukturen, unter Leitung des BMI
- 1 Der Gesetzentwurf befindet sich im parlamentarischen Verfahren und soll am 14. Februar 2020 vom Bundesrat beschlossen werden.
- 2 Australien, Japan, Neuseeland, Schweiz