Beschluss des Bundesrates
Grünbuch der Kommission der Europäischen Gemeinschaften über die Verfahrensgarantien in Strafverfahren innerhalb der Europäischen Union KOM (2003) 75 endg.; Ratsdok. 6781/03

Der Bundesrat hat in seiner 788. Sitzung am 23. Mai 2003 gemäß §§ 3 und 5 EUZBLG die folgende Stellungnahme beschlossen:

Mit dem Grünbuch hat die Kommission bestehende Defizite in dem erforderlichen Ausmaß nicht aufgezeigt.

Dies wäre aber erforderlich, um

Da die Umsetzung der Maßnahmen in erster Linie Aufgabe der Ermittlungsbehörden, der Gerichte, des Justizvollzugs und weiterer Einrichtungen der Länder sein wird, ist zu erwarten, dass finanzielle Mehrbelastungen zunächst die Länder treffen werden. Eine spürbare Mehrbelastung der Länderhaushalte kann angesichts der äußerst angespannten Haushaltslage und angesichts der knappen personellen und sachlichen Ressourcen bei Polizei und Justiz nicht hingenommen werden.

4. Zu den in dem Grünbuch angesprochenen Themen nimmt der Bundesrat wie folgt Stellung:

5. Erster Bereich - Vertretung durch einen Rechtsbeistand

Während Artikel 6 Abs. 1 EMRK, der den Grundsatz des fair trial enthält, für "jede Person" gilt, werden die Mindestrechte nach Artikel 6 Abs. 3 nur den "angeklagten Personen" garantiert. Der Bundesrat sieht für zusätzliche Regelungen auf EU-Ebene, die über diese abgestuften Regelungen hinaus gehen, keinen nachgewiesenen Bedarf.

6. Zweiter Bereich - Beiziehung von Gerichtsübersetzern und -dolmetschern

Solche sind indes nicht erkennbar. Die bereits erfolgte Konkretisierung durch die Rechtsprechung verschafft dem Betroffenen einen hinreichend gesicherten Anspruch auf einen Dolmetscher, soweit dies zur Wahrung eines fairen Verfahrens erforderlich ist.

Die Mitgliedstaaten sollten über die vom EGMR aufgestellten allgemeinen Grundsätze hinaus nicht verpflichtet werden, Übersetzungen bestimmter Verfahrensdokumente bereitzustellen. Eine solche Verpflichtung müsste entweder einzelne Dokumente auflisten, die in jedem Fall übersetzt werden müssten oder eine Ausnahmeklausel enthalten, auf Grund derer das Recht auf Übersetzung mit den übrigen Rechten aus der EMRK abzuwägen wäre.

Mit einer entsprechenden europaweiten Regelung wäre kein wesentlicher Fortschritt im Hinblick auf Rechtsklarheit und Rechtssicherheit erreicht.

Dabei ist darauf hinzuweisen, dass die Auswahl der im Einzelfall hinzuzuziehenden Dolmetscher oder Übersetzer dem jeweils mit der Sache befassten Gericht obliegt. Den Gerichten stehen in Deutschland in ausreichendem

Maße Listen zur Verfügung, in denen Dolmetscher und Übersetzer verzeichnet sind. Die Errichtung und fortwährende Aktualisierung entsprechender nationaler und europäischer Verzeichnisse erfordert einen erheblichen Aufwand, dem kein adäquater Nutzen gegenüberstehen dürfte.

Im Übrigen werden aus Zeit- und Kostengründen im Regelfall Dolmetscher oder Übersetzer aus dem örtlichen Umfeld des Gerichts hinzugezogen.

7. Dritter Bereich - Angemessener Schutz für besonders schutzbedürftige Personen

Dabei ist darauf hinzuweisen, dass die einzelnen Kriterien/Kategorien schutzbedürftiger Personen nicht hinreichend klar abgrenzbar sind. Dies wirft insgesamt die Frage auf, wie sich dies auf die zum Schutz verpflichteten Organe auswirkt, die nach Auffassung der Kommission rechtsmittelbewehrte Pflichten treffen sollen und denen im Unterlassungsfall Sanktionen drohen.

Die von der Kommission gewählte Aufzählung greift relativ weit; ihr kann mit gewissen Einschränkungen gleichwohl zugestimmt werden.

Soweit die Kommission eine besondere Schutzbedürftigkeit Kindern, ausländischen Personen, Flüchtlingen und Asylbewerbern zuerkennt, bestehen keine Bedenken. Besonders schutzbedürftige Verdächtige/Beschuldigte sind sicher auch Personen mit Behinderungen sowie Kranke. Nationale Regelungen im materiellen Strafrecht und im Strafverfahrensrecht tragen ihrer Schutzbedürftigkeit Rechnung. Weniger ausgeprägt oder nur partiell zu bejahen sein dürfte das besondere Schutzbedürfnis bei den weiteren im Grünbuch beschriebenen Personengruppen.

Defizite im Umgang mit besonders schutzbedürftigen Personengruppen im Strafverfahren sind weder bekannt geworden, noch werden sie von der Kommission aufgezeigt. Die handelnden Organe sind dem Beschuldigten nach deutschem Prozessrecht zu Schutz und Fürsorge verpflichtet. Wird eine besondere Schutzbedürftigkeit festgestellt, so sind entsprechende

Schutzmaßnahmen in die Wege zu leiten. Dies sollte auch schriftlich dokumentiert werden.

Eine Regelung, die Schutzbedürftigkeit in den verschiedenen Verfahrensabschnitten jeweils neu zu prüfen und zu bewerten, wäre hingegen eher kontraproduktiv.

Ein besonderer Aufsichtsweg zur Prüfung und Einhaltung der vorgeschriebenen Schutzpflichten durch die Verfahrensbeteiligten sollte nicht europaweit geregelt werden. Hier stehen bereits die jeweils spezifischen fach- und dienstaufsichtlichen Behelfe zur Verfügung.

Entscheidend ist nicht die Beachtung der Dokumentationspflicht, sondern die Einleitung der in der Sache gebotenen Hilfsmaßnahme. Im Fall einer unterbliebenen Hilfsmaßnahme für besonders schutzbedürftige Beschuldigte/Angeklagte besteht nach deutschem Recht die Möglichkeit, diese noch im Verfahren auszugleichen. Verstöße gegen diese Rechtspflicht können mit der Revision geltend gemacht werden. Daneben stehen den Beschuldigten die Verfassungsbeschwerde und die Menschenrechtsbeschwerde zur Verfügung. Insbesondere bieten die Abhilfemechanismen nach der EMRK ein gut organisiertes internationales Schutzsystem. Weiter ist auf das Sanktionsinstrumentarium nach Artikel 7 EUV, Entschädigungsmöglichkeiten nach dem Gesetz über die Entschädigung für Strafverfolgungsmaßnahmen sowie nach Artikel 41 EMRK hinzuweisen. Zusätzliche Sanktionen erscheinen nicht erforderlich.

8. Fünfter Bereich - Kenntnis bestehender Rechte/"Letter of Rights"

Die Erstellung eines EU-"Letter of Rights" im Sinne einer vereinheitlichten Belehrung über die Rechte des Beschuldigten ist zu begrüßen. Hierdurch könnte ein EU-weiter Mindeststandard gewährleistet sein. Die Erstellung eines EU weiten "Letter of Rights" sollte sich einheitlich nur auf gemeinsame Standards erstrecken wobei sich gegebenenfalls eine Unterteilung in einen EU-weiten einheitlichen und einen zusätzlichen nationalen Teil anböte. Der "Letter of Rights" sollte sich auf folgende Inhalte erstrecken:

Es könnte sich empfehlen, dem Beschuldigten vor seiner ersten Vernehmung im Strafverfahren - im Falle seiner Festnahme unverzüglich - spätestens mit Eintreffen auf der Polizeidienststelle den "Letter of Rights" zu übergeben.

Es erscheint aus Sicht des deutschen Strafverfahrens nicht sinnvoll, eine für den Beschuldigten nicht obligatorische und daher folgenlose Unterschriftsleistung normativ vorzugeben. An eine Verweigerung der Unterschrift dürften keine Konsequenzen geknüpft werden.

Ein Bedürfnis, die (Nicht-)aushändigung des "Letter of Rights" zusätzlich verfahrensrechtlich zu bewehren, besteht nicht. Insbesondere sollte keine Unverwertbarkeit der Beweise allein auf Grund fehlender Aushändigung des "Letter of Rights" vorgesehen werden.

9. Sechster Bereich - Konsularischer Beistand

Es wird kein Bedürfnis gesehen, einer zeitnahen Erfüllung der Pflichten aus dem Wiener Übereinkommen über konsularische Beziehungen (WÜK) durch eine Zuständigkeitsregelung auf EU-Ebene Rechnung zu tragen. Nach dem WÜK ist es den Mitgliedstaaten überlassen, die zuständigen Behörden für die Einhaltung der Regelungen des WÜK und dabei insbesondere die Belehrungspflicht zu bestimmen. Wer und in welcher Form in Deutschland die Belehrung nach dem WÜK und die Mitteilungen an die konsularischen Vertretungen vorzunehmen hat ist in Ausführungsbestimmungen der Landesjustizverwaltungen zum WÜK festgelegt. Daneben gibt es ein in die häufigsten Sprachen übersetztes bundeseinheitliches Merkblatt, welches den Betroffenen im Rahmen der Belehrung zu übergeben ist und über die wesentlichen Rechte nach dem WÜK informiert.

Eine zwingende Verpflichtung der Mitgliedstaaten der WÜK, auf Verstöße gegen das WÜK durch eine bestimmte Überprüfungsmaßnahme zu reagieren, ist weder ersichtlich noch geboten.

10. Abschließend weist der Bundesrat zu den Fragen der Bewertung und Kontrolle der Einhaltung gemeinsamer Mindeststandards auf Folgendes hin:

Wenn überhaupt, wäre daran zu denken, dass die Mitgliedstaaten entsprechende Statistiken übermitteln. Dabei muss man aber sehen, dass die Erhebung von statistischen Daten mit erheblichem Aufwand verbunden ist und kein Selbstzweck sein kann.