Antrag des Landes Berlin
Entschließung des Bundesrates für Maßnahmen zur Rehabilitierung und Unterstützung der nach 1945 in beiden deutschen Staaten wegen einvernehmlicher homosexueller Handlungen Verurteilten

Der Regierende Bürgermeister von Berlin
Berlin, den 27. April 2012

An den Präsidenten des Bundesrates
Herrn Ministerpräsidenten
Horst Seehofer

Sehr geehrter Herr Präsident,
der Senat von Berlin hat in seiner Sitzung am 17. April 2012 beschlossen, die als Anlage beigefügte Entschließung des Bundesrates für Maßnahmen zur Rehabilitierung und Unterstützung der nach 1945 in beiden deutschen Staaten wegen einvernehmlicher homosexueller Handlungen Verurteilten beim Bundesrat einzubringen.

Ich bitte Sie, den Entschließungsantrag gemäß § 36 Absatz 2 der Geschäftsordnung des Bundesrates auf die Tagesordnung der 896. Sitzung des Bundesrates am 11. Mai 2012 zu setzen und anschließend den Ausschüssen zur Beratung zuzuweisen.

Mit freundlichen Grüßen
Klaus Wowereit

Entschließung des Bundesrates für Maßnahmen zur Rehabilitierung und Unterstützung der nach 1945 in beiden deutschen Staaten wegen einvernehmlicher homosexueller Handlungen Verurteilten

Der Bundesrat fordert die Bundesregierung auf, Maßnahmen zur Rehabilitierung und Unterstützung für die nach 1945 in beiden deutschen Staaten wegen einvernehmlicher homosexueller Handlungen Verurteilten vorzuschlagen.

Begründung:

In der Bundesrepublik Deutschland galt die von den Nationalsozialisten 1935 verschärfte Gesetzgebung zur strafrechtlichen Verfolgung homosexueller Handlungen (§ 175 und § 175a StGB) bis zur Strafrechtsreform von 1969 weiterhin fort. Demnach waren sämtliche sexuelle Handlungen, einschließlich erotisch interpretierbarer Annäherungen, unter Männern strafbar. Darüber hinaus bestanden bis zur endgültigen Abschaffung des § 175 StGB am 31. Mai 1994 unterschiedliche strafrechtliche Schutzaltersgrenzen für homo- und heterosexuelle Handlungen.

In der Deutschen Demokratischen Republik kehrte man nach einem Urteil des Obersten Gerichts 1950 zu der vornationalsozialistischen Fassung des § 175 StGB zurück. Dies bedeutete, dass beischlafsähnliche homosexuelle Handlungen bestraft wurden. Mit dem Inkrafttreten des neuen Strafgesetzbuches der DDR am 1. Juli 1968 waren einvernehmliche sexuelle Handlungen zwischen erwachsenen Männern nicht mehr strafbar, doch bestanden auch hier nach § 151 StGB (DDR) weiterhin unterschiedliche Schutzaltersgrenzen für homo- und heterosexuelle Handlungen.

Dies mussten in beiden Teilen Deutschlands tausende von Männern erfahren, die aufgrund ihrer Homosexualität verurteilt wurden: In der Bundesrepublik Deutschland lag die Zahl der Verurteilungen bis zur Strafrechtsreform 1969 bei ca. 50.000 (Rainer Hoffschildt in: Invertito 4, Jahrbuch für die Geschichte der Homosexualitäten, Hamburg, S. 140-149). Für das Gebiet der DDR sind Fallzahlen schwer zu ermitteln; als nachgewiesen angesehen werden können 1.292 Verurteilungen in den Jahren 1946 bis 1959 (Günter Grau: Zur strafrechtlichen Verfolgung der Homosexualität in der DDR, in: § 175 StGB. Rehabilitierung der nach 1945 verurteilten homosexuellen Männer. Herausgeberin: Senatsverwaltung für Arbeit, Integration und Frauen, Berlin 2012, S. 49f, http://www.berlin.de/lads/gglw/publikationen ).

Zu der strafrechtlichen Verfolgung kam die gesellschaftliche Ausgrenzung der Betroffenen, die oftmals ihren Beruf aufgeben mussten und ins soziale Abseits gedrängt wurden, hinzu. Über die Verurteilungen hinaus waren weitere Verfahren anhängig. Auch diese Betroffenen wurden in ihren Persönlichkeitsrechten verletzt. Bereits die reine Strafandrohung beeinträchtigte alle homosexuell orientierten Männer in der freien Entfaltung ihrer Persönlichkeit. Als besondere Härte muss den Betroffenen erschienen sein, dass in der Bundesrepublik die unter nationalsozialistischer Herrschaft verschärfte Fassung des § 175 StGB aufrechterhalten wurde und sich somit nationalsozialistisches Unrecht über den Bestand des von den Nationalsozialisten errichteten Unrechtsstaats in der Bundesrepublik perpetuierte. Die Verschärfung von 1935 hatte zu einer immensen Ausweitung der Verfolgung geführt, die auch in der Bundesrepublik mit großer Heftigkeit fortgesetzt wurde.

In beiden Teilen Deutschlands herrschte zumindest bis 1968/69 durch die Kriminalisierung der Homosexualität ein sozialpolitisches Klima, welches homosexuelle Menschen diskriminierte, diese an den Rand der Gesellschaft drängte und damit erheblich in einem maßgeblichen Teil ihrer Persönlichkeit einschränkte. Sieht man von der Unter-Strafe-Stellung ab, waren von dieser Ausgrenzung gleichermaßen schwule Männer wie auch lesbische Frauen betroffen. Im Unterschied zu der Homosexuellenverfolgung in der NS-Zeit liegen über die Zeit nach 1945 praktisch keine Forschungsergebnisse oder Zeitzeugenberichte vor. Das widerfahrene Unrecht und Leid wird bisher von den Betroffenen - zu ihrem eigenen Schutz - vor Angehörigen und der Gesellschaft weitgehend tabuisiert.

Am 7. Dezember 2000 brachte der Deutsche Bundestag im Zusammenhang mit der Debatte um die Ergänzung des Gesetzes zur Aufhebung nationalsozialistischer Unrechtsurteile in der Strafrechtspflege in einer einstimmig mit den Stimmen aller Fraktionen verabschiedeten Resolution sein Bedauern über das durch die Homosexuellenverfolgung in beiden Teilen Deutschlands erfolgte Unrecht zum Ausdruck (Plenarprotokoll 014/140, Bundestagsdrucksache 014/4894). Die Verschärfung des § 175 RStGB im Jahre 1935 wird als Ausdruck nationalsozialistischen Gedankenguts anerkannt und betont, dass die nach 1945 weiter bestehende Strafdrohung eine Verletzung der Menschenwürde homosexueller Bürger darstellte. Mit der Ergänzung des Gesetzes zur Aufhebung nationalsozialistischer Unrechtsurteile in der Strafrechtspflege vom 23. Juli 2002 (NS-AufhÄndG, BGBl. I 2714) wurden pauschal diejenigen Urteile aufgehoben, die unter nationalsozialistischer Herrschaft nach den §§ 175 und 175a Nr. 4 RStGB ergangen waren. Darüber hinaus erfolgte am 1. September 2004 eine Änderung der "Richtlinien der Bundesregierung über Härteleistungen an Opfer von nationalsozialistischen Unrechtsmaßnahmen im Rahmen des Allgemeinen Kriegsfolgengesetztes (AKG) vom 7. März 1988". Damit wurden auch Personen, die nach § 175 und § 175a Nr. 4 RStGB verurteilt worden waren, in die Lage versetzt, einen Anspruch auf Entschädigung geltend machen zu können.

Im Ergebnis führte diese Politik zu einem Widerspruch. Wer im Nationalsozialismus nach den §§ 175, 175a Nr. 4 RStGB verurteilt wurde, ist rehabilitiert und hat unter Umständen das Recht auf eine materielle Entschädigung durch die Bundesrepublik als Nachfolgestaat. Wer dagegen später wegen der identisch gefassten Strafrechtsparagraphen verurteilt wurde, ist nicht rehabilitiert und kann keine Haftentschädigung geltend machen.

Der Beschluss des Bundestages aus dem Jahr 2000 darf nicht als bloße Deklaration ohne Konsequenzen bleiben. Es bedarf einer gesellschaftlichen Rehabilitierung der Betroffenen.

Es ist zumindest eine gesellschaftliche Aufarbeitung durch eine Erforschung und Dokumentation der strafrechtlichen Verfolgung homosexueller Männer und der sich daraus ergebenden Stigmatisierung in der Bevölkerung unerlässlich. Dazu gehört die Aufarbeitung der Spruchpraxis des Bundesverfassungsgerichts sowie der Strafgerichte. Das Bundesverfassungsgericht hat durch ein Urteil im Jahr 1957 die Rechtfertigung für die fortgeführte Kriminalisierung Homosexueller geliefert, denn es bewertete quasi mit amtlichem Siegel in seiner Urteilsbegründung homosexuelle Handlungen als Verstoß gegen das Sittengesetz und berief sich dabei unter anderem auf die Moralvorstellungen der Kirchen. Des Weiteren wurde die verschärfte strafrechtliche Homosexuellenverfolgung seit 1935 nicht als typisch nationalsozialistisches Unrecht eingeschätzt. Eine Verletzung der Persönlichkeitsrechte homosexueller Bürger durch die Strafandrohung wurde negiert.

Dem gegenüber hat die historische Forschung zwischenzeitlich belegt, dass es sich bei der NS-Fassung der §§ 175 und 175a StGB um nationalsozialistisches Unrecht handelte, und diese somit nicht vom Gesetzgeber der Bundesrepublik hätte übernommen werden dürfen. Auch wäre die Bestrafung einvernehmlicher homosexueller Handlungen schon zur damaligen Zeit als Verstoß gegen Artikel 1 Absatz 1 GG (Würde des Menschen) und Artikel 2 Absatz 1 GG (freie Entfaltung der Persönlichkeit) zu werten gewesen, da diese auf den Kern der Persönlichkeit von Männern gleichgeschlechtlicher sexueller Orientierung zielte und somit deren Würde verletzte (vgl. Rüdiger Lautmann: Die rückwirkende Aufhebung rechtsstaatlicher Gesetze und Urteile? Zur staatstheoretischen Problematik" in " § 175. Rehabilitierung der nach 1945 verurteilten homosexuellen Männer. Hrsg.: Senatsverwaltung für Arbeit, Integration und Frauen, Berlin 2012, S. 94: "Mit dem Grundgesetz waren all diese Strafgründe zu keiner Zeit vereinbar."). Jörg Risse (in: Der verfassungsrechtliche Schutz der Homosexualität, Baden-Baden, Nomos 1998, S. 77-102) hat in seiner Heidelberger Dissertation bereits 1996 festgestellt, dass die Homosexualität nach dem Allgemeinen Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 GG) zu schützen sei. Die Unhaltbarkeit des Verfassungsgerichtsurteils habe von Anfang an bestanden. Denn eine derart pauschale Missbilligung sei bereits damals nicht in Betracht gekommen, die unterstellte

Rechtsgutsgefährdung sei nicht benannt worden. Brun-O. Bryde, ehemaliger Richter am Bundesverfassungsgericht und Professor für Öffentliches Recht, schrieb 2007, das eindeutig falsche Urteil von 1957 sei zu früh gekommen, bevor das Gericht allgemeine Maßstäbe zur Rechtsprechung in Grundrechtsfragen entwickelt habe. Wenige Jahre später hätte seiner Meinung nach ein solches Urteil nicht mehr ergehen können. Die Heranziehung des "Sittengesetzes" zur Einschränkung persönlicher Freiheiten sei die Ausnahme geblieben. (siehe Brun-O. Bryde: Vortrag 2007, http://www.gruenebundestag.de/cms/archiv/dok/181/181984.sittengesetzgrundrechteundhomosexuali.html )

Die Betroffenen verdienen daher Unterstützung bei der Bewältigung der Folgen, insbesondere Begleitung im Falle von Traumatisierungen.

Aus Anlass zweier Anträge der Oppositionsparteien (Bundestagsdrucksachen 016/10944 und 16/11440) war die Frage der Aufhebung der einschlägigen Strafurteile in den Jahren 2008 und 2009 Gegenstand von Debatten im Deutschen Bundestag. Gegen eine Aufhebung der nach 1945 ergangenen Urteile wurden von den damaligen Regierungsparteien insbesondere Bedenken hinsichtlich der befürchteten Verletzung des Gewaltenteilungsprinzips und der Rechtsstaatlichkeit, zu der auch die Rechtssicherheit gehört, vorgetragen. Eine im Auftrag des Senats von Berlin erstellte Expertise kommt dagegen zu dem Ergebnis, dass eine Rehabilitierung der in der auf Grund strafrechtlicher Verfolgung auf Grundlage der §§ 175 und 175a StGB sowie der nach § 151 StGB (DDR) Verurteilten auch durch Aufhebung der Urteile rechtlich zulässig ist (vgl. Hans-Joachim Mengel: Expertise "Strafrechtliche Verfolgung homosexueller Handlungen in Deutschland nach 1945. Zur Rehabilitierung und Entschädigung der nach § 175 und § 175a wegen homosexueller Handlungen in der BRD und der DDR Verurteilten. Verfassungsrechtliche, verfassungspolitische und völkerrechtliche Erwägungen. Hrsg.: Senatsverwaltung für Arbeit, Integration und Frauen, Berlin 2012, http://www.berlin.de/lads/gglw/publikationen ). Ein solcher Schritt des Gesetzgebers verstoße weder gegen Verfassungsnormen noch gegen den ordre public. Es würden auch keine Rechte Dritter und keine grundlegend tragenden Prinzipien der rechtlichen und politischen Ordnung wie das Prinzip der Gewaltenteilung verletzt. Im Gegenteil: das Vertrauen in die Selbstschutzprinzipien des Rechtsstaates werde erhöht. Die Aufhebung solle auch für Urteile gelten, die auf dem Gebiet der ehemaligen DDR Homosexuelle wegen einvernehmlicher Handlungen bestraften. Hinsichtlich von Urteilen, die nicht nur auf Grundlage der §§ 175 und 175 a StGB ergangen sind, sondern die auch auf Grundlage von Schutzbestimmungen für die Rechte Dritter (z.B. Ausnutzung von Abhängigkeitsverhältnissen, sexueller Missbrauch Minderjähriger analog der Bestimmungen für heterosexuelle Handlungen) ergangen sind, sei im Einzelfall eine Teilaufhebung zu prüfen (Mengel, 2012).

Unterstützt wird das Anliegen der Rehabilitierung auch durch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR). Die Bundesrepublik war der Europäischen Menschenrechtskonvention bereits im Jahr 1952 beigetreten. In zahlreichen Urteilen macht der EGMR seit 1981 deutlich, dass eine Gesetzgebung, die homosexuelle Handlungen unter Strafe stellt, menschenverachtend ist (vgl. Dudgeon v. Northern Ireland, no. 7525/76, Norris v. Irland, no. 10581/83, und Modinos v. Zypern, no. 15070/89). Es wird den Betroffenen ein entscheidender Teil ihrer Persönlichkeit abgesprochen. Gleiches gilt für Gesetze, die unterschiedliche Schutzaltersgrenzen für sexuelle Handlungen zwischen Menschen gleichen und verschiedenen Geschlechts festsetzen.

Die formelle Aufhebung der einschlägigen Strafurteile sowie eine daraus resultierende Entschädigung sind deshalb ernsthaft von der Bundesregierung zu prüfen.