Unterrichtung durch die Bundesregierung
Grünbuch der Kommission der Europäischen Gemeinschaften über die Unschuldsvermutung KOM (2006) 174 endg.; Ratsdok. 9128/06

Übermittelt vom Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie am 23.Mai 2006 gemäß § 2 des Gesetzes über die Zusammenarbeit von Bund und Ländern in Angelegenheiten der Europäischen Union (BGBl. I 1993 S. 313 ff.).

Die Vorlage ist von der Kommission der Europäischen Gemeinschaften am 26. April 2006 dem Generalsekretär/Hohen Vertreter des Rates der Europäischen Union übermittelt worden.


Hinweis: vgl. AE-Nr. 982858,
Drucksache 155/03 (PDF) = AE-Nr. 030751 und
Drucksache 409/04 (PDF) = AE-Nr. 041754
Drucksache 348/06 (PDF)

Grünbuch über die Unschuldsvermutung

Die Unschuldsvermutung ist ein Grundrecht, das sowohl in der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) als auch in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verankert ist. Nach Artikel 6 des Vertrags über die Europäische Union (EUV) achtet die Union die Grundrechte, wie sie in der EMRK gewährleistet sind und wie sie sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten ergeben.

Die Kommission möchte wissen, ob der Begriff der Unschuldsvermutung überall in der EU in derselben Weise verstanden wird. Im Grünbuch wird der Frage nachgegangen, was unter der Unschuldsvermutung zu verstehen ist und welche Rechte sich daraus ableiten. Sollte sich nach der Konsultation herausstellen, dass hier Handlungsbedarf besteht, wird die Kommission die Aufnahme solcher Rechte in einen Vorschlag für einen Rahmenbeschluss über Verfahrensgarantien für die Beweiserhebung und -verwertung erwägen.

Das Grünbuch enthält hierzu eine Liste von Fragen. Die Antworten sind nach Möglichkeit bis zum 9. Juni 2006 zu richten an:


Europäische Kommission
Generaldirektion Justiz, Freiheit und Sicherheit
Referat D3 - Strafjustiz
B-1049 Brüssel
Belgien
Fax: (+ 32-2) 296 76 34
zu Händen "Peter-Jozsef CSONKA, Referatsleiter (CMO)"
oder per E-Mail an
jlsjusticepenale@cec.eu.int

1. WARUM befasst SICH die EU mit der UNSCHULDSVERMUTUNG?

1.1. Hintergrund

Eines der Ziele der EU ist der Aufbau eines "Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts" (Artikel 2 EUV). Auf dem Europäischen Gipfel in Tampere 1999 wurden die Prioritäten der EU im Bereich Justiz und Inneres für die nächsten fünf Jahre festgelegt1. Die wichtigste Aussage damals war, dass der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung zum "Eckstein" der justiziellen Zusammenarbeit werden sollte. Die gegenseitige Anerkennung gerichtlicher Entscheidungen berührt die Strafrechtsordnungen der Mitgliedstaaten auf allen Ebenen. Dieser Grundsatz wird nur dann seine volle Wirkung entfalten können, wenn den anderen Rechtssystemen im Binnenmarkt Vertrauen entgegengebracht wird und wenn jeder, der mit einer ausländischen Gerichtsentscheidung in Berührung kommt, darauf vertraut, dass die Entscheidung auf gerechte Weise zustande gekommen ist. Unter Rdnr. 33 der Schlussfolgerungen von Tampere heißt es, dass eine "verbesserte gegenseitige Anerkennung von gerichtlichen Entscheidungen und Urteilen [] die Zusammenarbeit [] und den Schutz der Rechte des Einzelnen durch die Justiz erleichtern" würde. In einem Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts müssen Europas Bürger davon ausgehen können, dass sie überall in der EU gleichwertige Verfahrensgarantien2 antreffen. Die durch den Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung erreichte effizientere Strafverfolgung muss mit der Achtung der Rechte des Einzelnen einhergehen.

Im Maßnahmenprogramm zur Umsetzung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher Entscheidungen in Strafsachen3 sind Bereiche aufgeführt, in denen eine EU-Regelung zur Umsetzung dieses Grundsatzes wünschenswert wäre. Im Wege der gegenseitigen Anerkennung soll danach nicht nur die Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten, sondern auch der Schutz individueller Rechte verstärkt werden. Gegenseitige Anerkennung setzt Vertrauen voraus. Bei von der Kommission veranstalteten Anhörungen wurde deutlich, dass es bestimmte Rechte gibt, bei denen eine größere Sichtbarkeit vertrauensfördernd wirken würde. 2003 erschien ein Grünbuch über Verfahrensgarantien4, dem 2004 ein Vorschlag für einen Rahmenbeschluss5 folgte. Verfahrensgarantien für die Beweiserhebung und -verwertung waren allerdings ausgenommen. Sie sollten in einer zweiten Konsultationsrunde behandelt werden. Das Grünbuch über die Unschuldsvermutung ist Teil dieser Konsultationsrunde zum Beweisrecht. Wie die Unschuldsvermutung als Schutzrecht eingestuft wird, hängt vom jeweiligen Rechtssystem ab. Die Kommission hat es unter die Verfahrensgarantien eingereiht, die das Beweisrecht betreffen, weil einige mit der Unschuldsvermutung zusammenhängende Schutzrechte in vielen Rechtssystemen mit der Beweiserhebung und -verwertung verknüpft sind (z.B. Beweis durch Aussage oder Urkunde).

Der Kommission ist daran gelegen herauszufinden, ob Rechtssachen mit Auslandsberührung in dieser Hinsicht Probleme aufwerfen und ob EU-Vorschriften vertrauensbildend wirken könnten. Die Kommission plant ein weiteres Grünbuch im Laufe des Jahres, das sich eingehender mit der Beweiserhebung, dem Umgang mit Beweisen und deren Zulässigkeit befassen wird. Beide Grünbücher werden dann noch dieses Jahr von Sachverständigen auf einer Zusammenkunft erörtert.

2004 gab die Kommission eine Studie über das Beweisrecht der Mitgliedstaaten im Strafverfahren ("Studie zum Beweisrecht") in Auftrag6. Die Verweise auf einzelstaatliche Rechtsvorschriften in diesem Grünbuch sind der Studie entnommen.

1.2. Rechtsgrundlage

Die strafrechtlichen Befugnisse der EU sind in den Artikeln 297 und 31 EUV verankert.

Artikel 31:

"Das gemeinsame Vorgehen im Bereich der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen schließt ein:

Da justizielle Zusammenarbeit immer häufiger auch gegenseitige Anerkennung bedeutet, muss der Frage nachgegangen werden, ob gemeinsame Verfahrensgarantien für die Beweiserhebung und -verwertung dazu beitragen würden, die Vereinbarkeit in rechtlicher Hinsicht zu gewährleisten, das Vertrauen zu stärken und damit die Zusammenarbeit zu verbessern.

1.3. Das Haager Programm

2004 nahm der Europäische Rat das Haager Programm zur Stärkung der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts in der Europäischen Union an. Eines der Programmziele ist "die Verbesserung der gemeinsamen Fähigkeit der Union [] zur Gewährleistung der Grundrechte, der Mindestnormen für Verfahrensgarantien und des Zugangs zur Justiz []"8.

Dementsprechend wird im Programm festgestellt, dass die "weitere Entwicklung der gegenseitigen Anerkennung als Eckstein der justiziellen Zusammenarbeit [] die Entwicklung gleichwertiger Standards für die Verfahrensrechte in Strafverfahren ein[schließt]". Im Aktionsplan zur Umsetzung des Haager Programms9 ist das vorliegende Grünbuch unter der Rubrik "Stärkung des Rechts" aufgeführt.

2005 gab die Kommission eine Mitteilung zur gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher Entscheidungen in Strafsachen und zur Stärkung des Vertrauens der Mitgliedstaaten untereinander10 heraus, in der sie zu dem Schluss gelangte, dass die Stärkung des Vertrauens der Mitgliedstaaten untereinander für die erfolgreiche Umsetzung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung unerlässlich ist. Für die Kommission hat der Schutz individueller Rechte Vorrang. Auf diese Weise soll Juristen stärker das Gefühl vermittelt werden, einer gemeinsamen Rechtskultur anzugehören.

1.4. Europäische Beweisanordnung

Derzeit wird über einen Rahmenbeschlussentwurf für eine Europäische Beweisanordnung beraten. Im Aktionsplan zur Umsetzung des Haager Programms ist unter der Überschrift "Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen" - "Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung" für 2007 die Vorlage eines zweiten Vorschlags zur "Ergänzung" der Europäischen Beweisanordnung vorgesehen (Buchstabe o)). Sind diese Vorschläge erst geltendes Recht, können Beweise im Wege eines vereinfachten Ersuchens überall in der EU erhoben werden. Sollte hierzu ein gemeinsamer Sockel an Schutzvorschriften vorgesehen werden um die Rechte des Einzelnen insbesondere bei Strafverfahren mit Auslandsberührung zu gewährleisten?

Für 2007 ist im Aktionsplan überdies ein Vorschlag für Mindestnormen für die Beweiserhebung vorgesehen11. Die Kommission möchte wissen, ob solche Mindestnormen für die Beweiserhebung im Falle eines länderübergreifenden Austauschs von Beweismitteln eine unerlässliche Voraussetzung für gegenseitiges Vertrauen sind.

2. WAS IST unter der UNSCHULDSVERMUTUNG ZU VERSTEHEN?

Die "Unschuldsvermutung" ist in Artikel 6 Absatz 2 der EMRK erwähnt (Recht auf ein faires Verfahren): "Bis zum gesetzlichen Nachweis seiner Schuld wird vermutet, dass der wegen einer strafbaren Handlung Angeklagte unschuldig ist." In Artikel 48 der EU-Grundrechtscharta (Unschuldsvermutung und Verteidigungsrechte) heißt es entsprechend:

Die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) gibt Aufschluss darüber, was unter der Unschuldsvermutung zu verstehen ist. Die Unschuldsvermutung kommt nur einer Person zugute, die wegen einer strafbaren Handlung angeklagt ist12. Der Angeklagte ist so lange so zu behandeln, als hätte er keine Straftat begangen bis der Staat in Gestalt der Strafverfolgungsbehörden ausreichende Beweise vorgelegt hat, die ein unabhängiges und unparteiisches Gericht von der Schuld des Angeklagten überzeugen. Die Unschuldsvermutung besagt, dass die Mitglieder des Gerichts nicht mit der vorgefassten Meinung in die Verhandlung gehen dürfen, dass der Angeklagte die ihm zur Last gelegte Straftat begangen hat13. Das Gericht darf die Schuld des Angeklagten nicht verkünden, bevor es nicht tatsächlich dessen Schuld festgestellt hat. Der Angeklagte darf nicht in Untersuchungshaft gehalten werden, es sei denn, es gibt triftige Gründe hierfür.

Die Haftbedingungen der Untersuchungshaft müssen mit der Unschuldsvermutung in Einklang stehen. Der Staat muss die Schuld des Angeklagten beweisen. Jeder Zweifel kommt dem Angeklagten zugute. Der Angeklagte hat das Recht, die Aussage zu verweigern. Von ihm sollte nicht erwartet werden, dass er sich selbst belastet. Sein Vermögen sollte nicht ohne ein faires Verfahren eingezogen werden.

2.1. Äußerung zur Schuld des Angeklagten vor dem Hauptverfahren

Ein Gericht oder ein Amtsträger darf keine Aussage dahin machen, dass der Angeklagte sich einer Straftat schuldig gemacht hat, bevor er nicht vor Gericht gestellt und verurteilt worden ist. Die Unschuldsvermutung wird verletzt, wenn mit der Äußerung eines Amtsträgers, die eine einer Straftat angeklagte Person betrifft, Aussagen zu deren Schuld getroffen werden, ohne dass die Schuld dieser Person entsprechend den gesetzlichen Bestimmungen nachgewiesen worden ist und ohne dass die Person Gelegenheit erhalten hat, von ihren Verteidigungsrechten Gebrauch zu machen14. Die Behörden dürfen allerdings die Öffentlichkeit über die Ermittlungen informieren und einen Schuldverdacht äußern15, solange der Verdacht keiner Schuldfeststellung gleichkommt16 und dies mit Diskretion und Augenmaß geschieht.

2.2. Untersuchungshaft

Mit der Untersuchungshaft befasst sich das Grünbuch über die gegenseitige Anerkennung von Überwachungsmaßnahmen ohne Freiheitsentzug im Ermittlungsverfahren17. Auf diese Problematik wird hier daher nicht näher eingegangen. Die Inhaftierung eines Beschuldigten verstößt nicht gegen die Unschuldsvermutung. Nach Artikel 5 Absatz 1 Buchstabe c und Absatz 3 EMRK sind Ausnahmen vom Recht auf Freiheit zulässig, wenn es darum geht, eine Person zum Zwecke ihrer Vorführung vor ein Gericht in Haft zu halten, sofern "hinreichender Verdacht besteht, dass die betreffende Person eine Straftat begangen hat", und sofern die Aburteilung innerhalb "angemessener Frist" erfolgt. Dem EGMR zufolge hat ein Beschuldigter nicht automatisch Anspruch auf andere Haftbedingungen als ein Verurteilter18, solange die Haftbedingungen angemessen sind19.

2.3. Beweislast

In der Regel muss der Staatsanwalt die Schuld des Angeklagten zweifelsfrei beweisen. Nach Auffassung des EGMR liegt die Beweislast bei der Staatsanwaltschaft, und jeder Zweifel muss dem Angeklagten zugute kommen. Dementsprechend muss die Staatsanwaltschaft hinreichende Beweise für die Verurteilung des Angeklagten beibringen20.

Aus der Rechtsprechung des EGMR hat die Kommission drei Fallkonstellationen abgeleitet, bei denen die Staatsanwaltschaft die Beweislast nicht vollständig trägt: a) bei verschuldensunabhängiger Haftung, b) bei Beweislastumkehrung und c) bei einer Einziehungsentscheidung.

2.4. Schutz vor Selbstbelastung

Die Unschuldsvermutung schließt den Schutz vor Selbstbelastung ein, zu dem das Schweigerecht und das Verbot des Zwangs zur Selbstbezichtigung (z.B. durch eigene Vorlage belastenden Beweismaterials) gehört. Es gilt der Grundsatz, wonach niemand verpflichtet ist, sich selbst zu belasten ("nemo tenetur se ipsum accusare"). Der Angeklagte kann sich weigern, auf Fragen zu antworten und Beweismittel vorzulegen. Obwohl der Schutz vor Selbstbelastung in der EMRK nicht eigens erwähnt ist, ist er nach Auffassung des EGMR24 ein international allgemein anerkannter Grundsatz, der zum Kern des Rechts auf ein faires Verfahren gehört. Er schützt den Angeklagten vor unbotmäßigem Zwang der Staatsgewalt. Auf diese Weise wird Waffengleichheit hergestellt und die Gefahr von Justizirrtümern wird verringert. Die Staatsanwaltschaft muss den Angeklagten überführen, ohne auf Beweismittel zurückzugreifen, die sie durch Zwang oder Druck erlangt hat. Die Aufhebung dieser Rechte kann nicht aus Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung gerechtfertigt werden25. Diese Rechte sind miteinander verbunden. Der auf den Angeklagten ausgeübte Zwang, belastendes Beweismaterial vorzulegen, ist als Verletzung des Schweigerechts zu werten. So sah der EGMR in dem von staatlicher Seite unternommenen Versuch, einen Angeklagten dazu zu zwingen, der Zollfahndung Kontoauszüge vorzulegen, eine Verletzung des Schweigerechts des Angeklagten26. Der Zwang, mit den Behörden im Ermittlungsverfahren zusammenzuarbeiten, kann gegen das Selbstbelastungsverbot verstoßen und das Recht auf ein faires Verfahren gefährden.

2.5. Schweigerecht

Das Schweigerecht gilt bei der polizeilichen Vernehmung und vor Gericht. Der Beschuldigte sollte das Recht haben, die Aussage zu verweigern, und gegebenenfalls auch das Recht, bis zur Hauptverhandlung über die Art seiner Verteidigung zu schweigen.

Im Recht der Mitgliedstaaten wird das Schweigerecht im Ermittlungsverfahren, d.h. bei der Vernehmung durch die Polizei oder den Ermittlungsrichter, anerkannt. Der Beschuldigte kann nur dann von seinem Schweigerecht Gebrauch machen, wenn ihm dieses Recht bekannt ist.

Die Art und Weise, wie der Beschuldigte über sein Schweigerecht belehrt wird, ist jedoch unterschiedlich. Der Studie zum Beweisrecht zufolge besteht in den meisten Mitgliedstaaten die Pflicht, den Beschuldigten über sein Schweigerecht zu belehren. Diese Pflicht ist im Gesetz, in der Rechtsprechung oder in der Verfassung verankert. Einige Mitgliedstaaten gaben an, dass unter Missachtung der Belehrungspflicht erlangte Beweismittel als unzulässig angesehen werden könnten. Andere wiesen darauf hin, dass eine unterlassene Belehrung des Beschuldigten rechtswidrig sein könnte oder bei einer Verurteilung als Berufungsgrund geltend gemacht werden könnte.

Es handelt sich jedoch nicht um ein absolutes Recht. Es gibt bestimmte Kriterien, anhand deren sich bestimmen lässt, ob das Recht auf ein faires Verfahren verletzt wurde, wenn ein Gericht aus dem Schweigen des Angeklagten für diesen nachteilige Rückschlüsse zieht.

Rückschlüsse sollten erst zulässig sein, nachdem die Staatsanwaltschaft den Fumus boni iuris glaubhaft gemacht hat. Es liegt dann im Ermessen des Gerichts, entsprechende Rückschlüsse zu ziehen. Nur Rückschlüsse, die der gesunde Menschenverstand nahe legt, sind zulässig. Die Rückschlüsse müssen im Urteil begründet werden. Gegen den Angeklagten müssen erdrückende Beweise vorliegen. In diesem Fall können Beweismittel verwertet werden, die durch Ausübung mittelbaren Drucks erlangt worden sind. Maßgebend ist hier die Rechtssache Murray gegen Vereinigtes Königreich27. Der EGMR befand in dieser Sache, dass aus einer Aussageverweigerung des Angeklagten negative Rückschlüsse gezogen werden dürfen, wenn die Voraussetzungen des Fumus boni iuris erfüllt sind und die Staatsanwaltschaft die Beweislast trägt. Einen Angeklagten zur Aussage aufzufordern, ist mit der EMRK nicht unvereinbar. Unvereinbar wäre dies nur dann, wenn sich die Verurteilung ausschließlich oder hauptsächlich auf die Aussageverweigerung stützen würde. Ob das Recht auf Unschuldsvermutung verletzt ist, wenn aus dem Schweigen des Angeklagten negative Rückschlüsse gezogen werden, richtet sich nach dem Gewicht, das ihnen das Gericht bei seiner Beweiswürdigung und Beurteilung der Intensität des ausgeübten Zwangs beimisst. Die Beweise der Staatsanwaltschaft müssen so überzeugend sein, dass vom Angeklagten eine Antwort verlangt werden kann. Das Gericht kann nicht allein deshalb auf die Schuld des Angeklagten schließen, weil dieser es vorzieht zu schweigen. Nur wenn die gegen ihn vorliegenden Beweismittel eine Erklärung "verlangen", die zu geben der Angeklagte in der Lage sein sollte, kann aus dem Ausbleiben dieser Erklärung vernünftigerweise gefolgert werden dass es keine Erklärung gibt und der Angeklagte schuldig ist. Ist der Wert der Beweise hingegen so gering, dass eine Antwort darauf nicht verlangt werden kann, lässt sich aus dem Schweigen des Angeklagten keine Schuldzuweisung begründen. Vernünftige Schlussfolgerungen, die aus dem Verhalten des Angeklagten gezogen werden, bewirken nach Auffassung des EGMR keine Verlagerung der Beweislast auf die Verteidigung und damit keine Verletzung des Grundsatzes der Unschuldsvermutung in dieser Hinsicht.

Ob auch juristische Personen dieses Recht für sich in Anspruch nehmen können, hatte der EGMRnoch nicht zu entscheiden. Nach Auffassung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften (EuGH) hat eine juristische Person kein absolutes Schweigerecht. Juristische Personen müssen Auskünfte zu ihnen bekannten Tatsachen erteilen, dürfen aber nicht gezwungen werden, eine Zuwiderhandlung zuzugeben28.

2.6. Recht, die Vorlage belastenden Beweismaterials zu verweigern

Dem Grundsatz, dass ein Gericht Zugang zu allen Beweismitteln erhalten sollte, geht die Notwendigkeit vor, ein faires Verfahren zu gewährleisten und das Risiko zu begrenzen, dass der Angeklagte aufgrund seiner eigenen Aussage verurteilt wird29. Bei der Abgrenzung des Umfangs dieses Rechts unterschied der EGMR zwischen Beweismaterial, das unter Ausübung von Zwang erlangt wurde, und Beweismaterial, dass unabhängig vom Willen des Angeklagten existiert: "Beim Aussageverweigerungsrecht geht es [] in erster Linie darum, den Willen eines Angeklagten, die Aussage zu verweigern, zu respektieren. So wie es im Allgemeinen [] verstanden wird, erstreckt es sich in Strafverfahren nicht auf die Verwendung von Material, das von dem Angeklagten durch Anwendung von Zwang erlangt werden kann, das aber unabhängig vom Willen des Verdächtigen existiert, wie u. a.

Dokumente, die aufgrund einer gerichtlichen Anordnung erlangt worden sind, Atemluft-, Blut- und Urinproben und Körpergewebe für einen DNA-Test"30.

Wird die Vorlage eines Dokuments oder eine Durchsuchung und/oder Beschlagnahme angeordnet sollte in der betreffenden Anordnung der Gegenstand dieser Anordnung genau bezeichnet werden, um zu vermeiden, dass Anordnungen allgemeiner Art dazu verwendet werden auf gut Glück nach Beweismitteln zu suchen, wenn nur ein vager Verdacht besteht.

Fraglich ist, ob das Recht, die Vorlage von Beweisen zu verweigern, auch juristischen Personen zusteht. Nach Auffassung der Gemeinschaftsgerichte (EuGH und EuGeI) ist dies nicht der Fall. Von juristischen Personen kann die Vorlage von Unterlagen verlangt werden31.

2.7. Abwesenheitsverfahren

Nach Artikel 6 EMRK hat der Angeklagte das Recht, "sich selbst zu verteidigen".

Abwesenheitsverfahren werden unterschiedlich definiert. In einigen Mitgliedstaaten können Verfahren von Rechts wegen auch in Abwesenheit des Angeklagten stattfinden, während andere die Teilnahme des Angeklagten am Verfahren zwingend vorschreiben und den Verstoß gegen die Anwesenheitspflicht unter Strafe stellen. Die Kommission wird ein Grünbuch zu Abwesenheitsverfahren erstellen. In diesem Zusammenhang ist ihr daran gelegen zu klären, unter welchen Voraussetzungen solche Verfahren mit der Unschuldsvermutung vereinbar sein können.

2.8. Terrorismusbekämpfung

In mehreren Mitgliedstaaten hat die Zunahme terroristischer Anschläge in der EU dazu geführt dass neue Rechtsvorschriften zur Terrorbekämpfung eingeführt wurden. Diese Anti-Terror-Vorschriften müssen mit der EMRK vereinbar sein. Im Juli 2002 hat das Ministerkomitee des Europarats Leitlinien über die Menschenrechte und den Kampf gegen den Terrorismus32 verabschiedet und die Staaten aufgefordert, sicherzustellen, dass "sie bei allen für die Bekämpfung des Terrorismus zuständigen Behörden weite Verbreitung finden".

Nach Artikel IX Absatz 2 muss für "eine Person, die wegen terroristischer Aktivitäten angeklagt ist, [] die Unschuldsvermutung gelten". Im Kommentar wird darauf hingewiesen, dass die Unschuldsvermutung nicht nur von einem Gericht, sondern auch von anderen Behörden durchbrochen werden darf33. Die Leitlinien sehen Einschränkungen der Verteidigungsrechte vor, die mit der EMRK und der Unschuldsvermutung vereinbar sind.

Diese Einschränkungen betreffen die Hinzuziehung eines Rechtsbeistands und die Kontakte zu diesem, die Akteneinsicht und die Verwendung anonymer Zeugenaussagen. Sie müssen jedoch streng dem Verhältnismäßigkeitsprinzip folgen, und es müssen Ausgleichsmaßnahmen getroffen werden, um die Interessen des Angeklagten zu schützen, so dass der Grundsatz eines fairen Verfahrens gewahrt ist und die Verfahrensrechte nicht in ihrem Grundgehalt angetastet werden.

2.9. Ende der Unschuldsvermutung

Die Unschuldsvermutung endet in der Regel mit dem gerichtlichen Schuldspruch. Die Kommission ist daran interessiert zu erfahren, wann dieser Punkt in den einzelnen Mitgliedstaaten erreicht ist. Dies könnte nach einem erstinstanzlichen Gerichtsverfahren oder erst nach Scheitern des letzten Rechtsmittels der Fall sein.