Unterrichtung durch das Europäische Parlament
Entschließung des Europäischen Parlaments vom 21. Mai 2008 zu den wissenschaftlichen Fakten des Klimawandels: Feststellungen und Beschlussempfehlungen (2008/2001(INI))

Zugeleitet mit Schreiben des Generalsekretärs des Europäischen Parlaments - 112095 - vom 13. Juni 2008.

Das Europäische Parlament hat die Entschließung in der Sitzung am 21. Mai 2008 angenommen.

Das Europäische Parlament,

A. in der Erwägung, dass der Nichtständige Ausschuss zum Klimawandel aufgrund seines Mandats Empfehlungen zur künftigen integrierten EU-Politik in Bezug auf den Klimawandel zu formulieren hat und dass diese Empfehlungen auf Untersuchungen auf dem neuesten Stand der Forschung basieren und auch die jüngsten wissenschaftlichen Erkenntnisse berücksichtigen sollten,

B. in der Erwägung, dass der Zwischenbericht des Nichtständigen Ausschusses ausschließlich auf die durch wissenschaftliche Erkenntnisse gestützten Auswirkungen des Klimawandels Bezug nimmt, dass in einem endgültigen Bericht die Vorschläge für die künftige integrierte EU-Politik zum Klimawandel entsprechend dem Mandat des Ausschusses und auf der Grundlage aller im Zuge seiner Tätigkeiten gesammelten Informationen formuliert sein werden und dass der endgültige Bericht auch die Position des Parlaments in den Verhandlungen über den internationalen Rahmen für die Klimaschutzpolitik nach 2012 im Hinblick auf die 14. Vertragsparteienkonferenz im Dezember 2008 in Poznan/Posen (Polen) umfassen wird,

C. in der Erwägung, dass der wissenschaftliche Konsens bezüglich der Entstehung und der Ursachen des Klimawandels durchaus fundiert ist und weltweit - innerhalb wie außerhalb des IPCC - anerkannt wird, dass die wissenschaftlichen Erkenntnisse und das Verständnis der menschlichen Ursachen der gegenwärtigen Erderwärmungstendenz seit dem ersten IPCC-Bewertungsbericht von 1990 ganz erheblich zugenommen haben und inzwischen als wissenschaftliche Tatsachen betrachtet werden, dass ein fundierter wissenschaftlicher Konsens über die Rolle besteht, die anthropogene Treibhausgas-Emissionen im Weltklima spielen, und dass in Anbetracht der vorliegenden Risikobewertungen die Unsicherheiten dafür sprechen, zu handeln, statt das Handeln auf später zu verschieben,

D. unter Hinweis darauf, dass das Wissen über den Klimawandel und die Ursachen der Erderwärmung, das bislang durch Forschung und Datenerfassung gewonnen worden ist, ausreicht, um Anstöße zu politischem Handeln und zu Entscheidungen zu geben, die dringend nötig sind, um die Emissionen in wesentlichem Umfang zu verringern und die Anpassung an die unvermeidbare Änderung des Klimas vorzubereiten,

E. in der Erwägung, dass die weltweiten CO₂-Emissionen dem vierten Sachstandsbericht des IPCC zufolge zwischen 1970 und 2004 um etwa 80 % zugenommen haben und dieser Anstieg in erster Linie auf die Nutzung fossiler Brennstoffe zurückzuführen ist,

F. in der Erwägung, dass an Beobachtungen und Modellrechnungen deutlich wird, dass gravierende Auswirkungen auf unseren Planeten drohen, wenn nicht zügig Maßnahmen getroffen werden, um die weitere Zunahme der Emissionen von CO₂ und anderen Treibhausgasen, die in der IPCC-Liste der Treibhausgase aufgeführt sind, zu verlangsamen oder sogar zum Stillstand zu bringen,

G. in der Erwägung, dass seit dem Berichtszeitraum und der anschließenden Veröffentlichung des vierten Sachstandsberichts des IPCC in zahlreichen neuen wissenschaftlichen Studien Daten gewonnen und bekannt gemacht worden sind, die die Erderwärmung bestätigen, und dass in diesen Studien die gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und ökologischen Folgen des Klimawandels für die Menschheit sowie die notwendigen Maßnahmen zur Anpassung an den Klimawandel und zu seiner Eindämmung zusätzlich begutachtet worden sind,

H. in der Erwägung, dass dem Stern-Bericht zufolge, falls nichts unternommen wird, sich die jährlichen Kosten des absehbaren Klimawandels im Jahr 2050 auf 5 % bis 20 % des Bruttoinlandsprodukts belaufen werden und dass die Klimaschutzziele erreicht werden können, wenn ab sofort jährlich 1 % des Bruttoinlandsprodukts für Klimaschutzmaßnahmen verwendet wird,

I. in der Erwägung, dass in der laufenden wissenschaftlichen Debatte die Ursachen der Erderwärmung und des Klimawandels nicht mehr in Frage gestellt werden, dass die wissenschaftliche Debatte insgesamt nur Ausdruck wissenschaftlicher Fortschritte ist, die auf die Klärung verbleibender Ungewissheiten oder Zweifel abzielen, und dass die Debatte von jeher durch das Bemühen um genaueres Verständnis der Einwirkung des Menschen auf natürliche Prozesse gekennzeichnet ist,

J. in der Erwägung, dass in aktuellen wissenschaftlichen Studien zusätzliche Nachweise für die anthropogene Störung der Erdatmosphäre erbracht worden sind, dass die naturwissenschaftliche Erforschung des Klimawandels dabei ist, die konkreten Auswirkungen des bereits bestehenden, von historischen Emissionen bedingten Erderwärmungsniveaus zu bewerten, und dass durch die aus solchen Studien gewonnenen Daten bekräftigt wird, dass Maßnahmen zur Anpassung an den Klimawandel und zu dessen Bekämpfung dringend geboten sind, um bedenkliche Gefahren für Menschen, die Artenvielfalt von Flora und Fauna, Lebensräume und Infrastrukturen zu begrenzen, und zwar in erster Linie in Entwicklungsländern, aber auch in Europa und anderen eher wohlhabenden Weltregionen,

K. in der Erwägung, dass die Wissenschaft mehrere so genannte "tippingpoints" ("Kippschalter") im Klimasystem der Erde ermittelt hat, dass solche "Kippschalter" Stellen sind, an denen sich eine praktisch unumkehrbare Entwicklung zu Folgen des Klimawandels ergibt, zu deren Bewältigung der Mensch keine denkbaren Mittel hat, dass diese "Kippschalter" und die dort ausgelösten unaufhaltsamen biologischen und geophysikalischen Prozesse sich nicht vollständig in die gegenwärtigen Szenarien für das Klima der Zukunft einbauen lassen und dass solche Punkte beispielsweise dadurch gekennzeichnet sind, dass die Dauerfrostböden abtauen, wodurch große Mengen an Methan in die Atmosphäre entweichen, die Gletscher abschmelzen, wodurch sich der Koeffizient für die Sonnenlichtabsorption erhöht und die im Ozean lösbare CO₂Menge abnimmt mit der Folge des Anstiegs der Wassertemperatur, und dass diese Mechanismen im Zuge des Temperaturanstiegs eine weitere Verstärkung der Erderwärmung bewirken, weil positive Rückkopplungseffekte auftreten,

L. in der Erwägung, dass Prognosen zufolge 20 bis 30 % aller Arten verstärkt vom Aussterben bedroht sind, wenn die Temperatur um 1,5 bis 2°C steigt, und dass sich dieser Anteil bei einem Temperaturanstieg um 3,5°C auf 40 bis 70 % erhöht und die Bekämpfung des Klimawandels folglich für den Schutz der Artenvielfalt auf der Welt und die Aufrechterhaltung der Wirkung von Ökosystemen entscheidende Bedeutung hat,

M. unter Hinweis darauf, dass die Erde zu mehr als 70 % von Ozeanen bedeckt ist, dass auf die Ozeane über 97 % der weltweiten Wassermengen entfallen, dass die Ozeane 99 % des Lebensraums der Erde bieten, dass Fisch den höchsten Prozentanteil an weltweit von Menschen verbrauchten Proteinen hat, wobei 3,5 Milliarden Menschen auf Fisch als Hauptnahrungsquelle angewiesen sind, und dass drei Viertel der Riesenstädte der Welt am Meer liegen,

N. in der Erwägung, dass sich aus dem wissenschaftlichen Konsens, wie er im vierten Sachstandsbericht des IPCC seinen Ausdruck findet, die Folgerung ergibt, dass das Niveau der weltweiten Treibhausgas-Emissionen um 50 bis 85 % gegenüber dem Niveau von 2000 gesenkt werden muss, um erhebliche Risiken abzuwenden; in der Erwägung, dass es zunehmend schwierig wird, diese Zielvorgabe zu verwirklichen, wenn die weltweiten Treibhausgas-Emissionen bis 2020 und darüber hinaus weiter zunehmen; in der Erwägung, dass fast alle Mitgliedstaaten gute Fortschritte in ihren Bemühungen erzielen, ihre einzelnen Zielvorgaben im Hinblick auf die gemeinsame Bewältigung der EU-Last zu erfüllen, wodurch es wahrscheinlicher wird, dass die Europäische Union ihr Kyoto-Ziel für 2012 erreicht, und in der Erwägung, dass die Mitgliedstaaten dennoch nach 2012 bei der Reduzierung von Treibhausgas-Emissionen ambitionierter vorgehen müssen, wenn sie die auf der vorgenannten Tagung des Europäischen Rates vom 8./9. März 2007 festgelegte Zielvorgabe, wonach Industriestaaten kollektiv ihre Treibhausgas-Emissionen bis 2050 um 60-80 % gegenüber dem Stand von 1990 senken müssen, erreichen sollen,

O. in der Erwägung, dass dem vierten Sachstandsbericht des IPCC zufolge wegen der positiven Rückkopplung zwischen Erderwärmung und Kohlenstoffsenken auf dem Festland und in den Ozeanen unter Umständen eine beträchtliche weitere Senkung der Emissionen notwendig ist, damit sich die Treibhausgaskonzentrationen stabilisieren,

P. in der Erwägung, dass in der Europäischen Union politischer Konsens darüber besteht, dass es von entscheidender Bedeutung ist, das strategische Ziel der Begrenzung des durchschnittlichen weltweiten Temperaturanstiegs auf nur 2° C über dem Niveau der vorindustriellen Zeit zu erreichen, und in der Erwägung, dass die weltweite Durchschnittstemperatur im vergangenen Jahrhundert bereits um 0,74° C gestiegen ist und wegen historischer Emissionen zwangsläufig um weitere 0,5° C bis 0,7° C steigen wird,

Q. in der Erwägung, dass nach Aussagen des vierten Sachstandsberichts des IPCC die weltweiten Treibhausgas-Emissionen seit der vorindustriellen Zeit gestiegen sind und sich zurzeit - mit einer Zunahme infolge menschlicher Tätigkeiten um 70 % im Zeitraum 1970 bis 2004 und einer erheblichen Zunahme um 24 % seit 1990 - schneller erhöhen als je zuvor, und in der Erwägung, dass viele natürliche Systeme auf allen Kontinenten und in den meisten Ozeanen bereits von regionalem Klimawandel in Gestalt steigender Temperaturen, veränderter Niederschlags- und Windverhältnisse und eines zunehmenden Wassermangels betroffen sind,

R. in der Erwägung, dass für das Klimasystem die Gesamtmenge der kumulierten Treibhausgase, die in die Atmosphäre ausgestoßen werden, von Bedeutung ist, und nicht relative Emissionsmengen oder relative Verringerungen, und dass folglich für die Verhinderung eines gefährlichen Klimawandels die Gesamtmenge der in den kommenden Jahren und Jahrzehnten ausgestoßenen Treibhausgas-Emissionen der bedeutendste Faktor ist,

S. in der Erwägung, dass im vierten Sachstandsbericht des IPCC zum ersten Mal die dokumentiert vorliegenden weit reichenden Folgen der derzeitigen Klimaveränderungen für Europa - wie schwindende Gletscher, längere Vegetationsperioden, Verlagerungen der Lebensräume von bestimmten Arten und Auswirkungen auf die Gesundheit infolge einer Hitzewelle von noch nie da gewesenem Ausmaß - vergleichend zusammengestellt worden sind; in der Erwägung, dass die beobachteten Veränderungen mit projizierten Veränderungen des zukünftigen Klimas übereinstimmen; in der Erwägung, dass in einer Gesamtbilanz für Europa fast alle Regionen in der Zukunft von einigen Folgen des Klimawandels nachteilig betroffen sein werden, aus denen sich Herausforderungen für viele sozioökonomische Bereiche ergeben, und in der Erwägung, dass der Klimawandel voraussichtlich die regionalen Unterschiede der natürlichen Ressourcen Europas, beispielsweise der Verfügbarkeit von Wasser, vergrößern wird,

T. in der Erwägung, dass der Klimawandel in Verbindung mit der vom Bevölkerungswachstum angetriebenen massiven Urbanisierung voraussichtlich zum Anstieg der Temperatur in den städtischen Wärmeinseln und somit zu einer direkten Beeinträchtigung der Gesundheit und des Wohlbefindens der Stadtbevölkerungen führen wird,

U. in der Erwägung, dass derzeitige Maßnahmen zur Eindämmung des Klimawandels und damit verbundene Maßnahmen zur nachhaltigen Entwicklung, die unbedingt intensiviert werden müssen, dennoch nicht ausreichen werden, die weltweiten Treibhausgas-Emissionen in den nächsten Jahrzehnten zu senken, und in der Erwägung, dass, wie es in wissenschaftlichen Empfehlungen heißt, die Chance zur erfolgreichen Stabilisierung der weltweiten Treibhausgaskonzentrationen auf einem Niveau, das den Temperaturanstieg mit einer Wahrscheinlichkeit von 50 % auf 2 °C beschränkt, bis 2015 besteht - dem Jahr, in dem die weltweiten Emissionen ihren höchsten Wert erreichen müssten,

V. in der Erwägung, dass im Beitrag der Arbeitsgruppe III zum vierten Sachstandsbericht des IPCC darauf hingewiesen wird, dass die in Anhang I genannten Vertragsparteien des Klimarahmenübereinkommens kollektiv ihre Emissionen bis 2020 insgesamt um 25-40 % unter den Stand von 1990 senken müssten, um die zurzeit vom IPCC angesetzten Mindestwerte und die entsprechende potenzielle Schadensbegrenzung zu erreichen,

W. in der Erwägung, dass der nächste IPCC-Sachstandsbericht vermutlich erst 2012 oder 2013 veröffentlicht wird, und in der Erwägung, dass zusätzliche Erkenntnisse aus durch Fachkollegen gegengeprüften wissenschaftlichen Veröffentlichungen und wissenschaftlichen Studien, die von Regierungen in Auftrag gegeben werden oder von anderen internationalen Gremien oder VN-Organisationen - wie der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation (FAO), dem Umweltprogramm der VN (UNEP), dem Entwicklungsprogramm der VN (UNDP), der Weltorganisation für Meteorologie (WOM) und der Weltgesundheitsorganisation (WHO) - durchgeführt worden sind, wesentliche Beiträge zu einem besseren Verständnis der heutigen und künftigen Auswirkungen des Klimawandels auf Mensch und Umwelt sowie zur Anpassung an den Klimawandel und zu seiner Eindämmung liefern,

X. in der Erwägung, dass die meisten dieser zusätzlichen Arbeiten es als dringend geboten bezeichnen, unverzüglich auf die Erderwärmung zu reagieren; in der Erwägung, dass gerade aus den jüngsten WOM-Daten vom Dezember 2007 hervorgeht, dass das Jahrzehnt von 1998 bis 2007 das wärmste seit Beginn der Aufzeichnungen ist und das Jahr 2007 mit einer erwarteten Temperaturanomalie von 0,41°C über dem langfristigen Mittel eines der 10 wärmsten jemals registrierten Jahre ist, und in der Erwägung, dass das Jahr 2007 sich durch Temperaturanomalien von mehr als 4° C über den Langzeit-Monatsmittelwerten für Januar und April 2007 in bestimmten Teilen Europas kennzeichnet,

Y. in der Erwägung, dass die Erderwärmung und die einzelnen Aspekte des Klimawandels aus der Perspektive anderer weltweiter Probleme wie Armut und weltweite Gesundheitsprobleme gesehen werden müssen, weil sich diese Probleme infolge des Temperaturanstiegs, der Dürreperioden, der Überschwemmungen, des Anstiegs des Meeresspiegels und der zunehmend häufigen extremen Wetterereignisse verschärfen; in der Erwägung, dass der Klimawandel die Fähigkeit einzelner Staaten einschränken könnte, auf dem Weg der nachhaltigen Entwicklung zu bleiben und die Millenniums-Entwicklungsziele zu erreichen, und in der Erwägung, dass der Klimawandel bestimmte Beispiele für erfolgreiche Entwicklung erheblich gefährden könnte und deshalb ein übergreifendes Thema der internationalen Zusammenarbeit sein sollte,