Antrag der Länder Berlin, Brandenburg
Entschließung des Bundesrates über ein Gesetz zur Stärkung der Patientenrechte

Der Regierende Bürgermeister von Berlin Berlin, den 26. Oktober 2010

An den Präsidenten des Bundesrates
Herrn Bürgermeister
Jens Böhrnsen
Präsident des Senats der Freien Hansestadt Bremen

Sehr geehrter Herr Präsident,
die Landesregierungen von Berlin und Brandenburg haben beschlossen, die in der Anlage beigefügte Entschließung des Bundesrates über ein Gesetz zur Stärkung der Patientenrechte beim Bundesrat einzubringen.

Ich bitte Sie, den Entschließungsantrag gemäß § 36 Absatz 2 der Geschäftsordnung des Bundesrates auf die Tagesordnung der 876. Sitzung des Bundesrates am 5. November 2010 zu setzen und anschließend den Ausschüssen zur Beratung zuzuleiten.

Mit freundlichen Grüßen
Klaus Wowereit

Entschließung des Bundesrates über ein Gesetz zur Stärkung der Patientenrechte

Der Bundesrat fordert die Bundesregierung auf, einen Gesetzentwurf einzubringen, der die Rechte von Patientinnen und Patienten in einem Gesetz festschreibt und erweitert.

Patientinnen und Patienten können sich in Deutschland bei der Wahrung ihrer Anliegen und Interessen auf einen Kanon entwickelter Patientenrechte stützen. Diese sind zum Teil gesetzlich gefasst und in jüngster Zeit erheblich erweitert worden (z.B. kollektive Beteiligungsrechte). Patientenrechte sind außerdem in einer differenzierten Rechtsprechung entfaltet. In der Praxis und im Behandlungsalltag ist eine Wahrung und Durchsetzung dieser Interessen und Rechte jedoch nicht immer im Sinne der Patientinnen und Patienten gewährleistet. Zur Stärkung ihrer Position ist eine Bündelung von unterschiedlich verorteten Rechten daher sinnvoll und notwendig. Dabei gilt es, das in der Rechtsprechung in Sinne einer größtmöglichen Patientensouveränität bisher Erreichte verbindlich zu verankern und notwendige Ergänzungen und Erweiterungen in einem Patientenrechtegesetz zu konkretisieren, das Patientinnen und Patienten wirklich in die Lage versetzt, ihre Rechte durchzusetzen.

Zentrale Bereiche für eine solche Konkretisierung müssen sein:

Bei einem Gesetz zur Stärkung der Patientenrechte sind vor allem folgende Bereiche zu berücksichtigen:

1. Regelung einer patientenzentrierten Aufklärung

Notwendig ist die Zusammenführung und Konkretisierung von Rechten zur Aufklärung, Beratung und Information von Patientinnen und Patienten im Behandlungsprozess, die eine individuelle, persönliche und rechtzeitige Beratung und Aufklärung gewährleisten. Zu einer solchen Patientenzentrierung gehören Elemente der Aufklärung

Insbesondere für den stationären Bereich ist zu prüfen, wie das Recht auf Einholung einer Zweitmeinung bei schwerwiegenden Eingriffen besser verwirklicht werden kann.

Im Sinne der Patientensouveränität sollte andererseits geprüft werden, in welcher Form unter Berücksichtigung der Persönlichkeit und der psychischen Verfassung der Betroffenen ein Recht auf Nichtwissen formal gefasst werden kann, um verschiedene individuelle Verarbeitungsformen von Bedrohungen durch die ärztliche Behandlung und Krankheit zu berücksichtigen.

2. Einsichtsrechte und Sicherheit der Patientendokumentation sowie Transparenz im Behandlungsgeschehen

Mit der Zunahme elektronischer und vernetzter Behandlungsdokumentation sowie komplexer Zugriffsmöglichkeiten auf Patientendaten sind Konventionen zur Vollständigkeit und Fälschungssicherheit von Patientenakten erforderlich. Die Verpflichtungen des Arztes oder der Ärztin zur Dokumentation der Tätigkeit sind im Patientenrechtegesetz zusammenzufassen. Um bestehende Vollzugsdefizite abzubauen, gilt es vor allem, die Einsichtsrechte der Patientinnen und Patienten in vollständige und korrekte Behandlungsdokumentation zu stärken. In diesem Zusammenhang sollten bei Pflichtverletzungen geeignete Sanktionsmöglichkeiten geprüft werden. So würde beispielsweise die Einführung einer berufsrechtlichen

Sanktionsmöglichkeit etwa durch die Ärztekammern helfen, bei ihren Mitgliedern ein entsprechendes Bewusstsein zu schärfen und Fehlverhalten zu verhindern.

Im Sinne eines mündigen Patienten und einer aktiven, informierten Mitarbeit im Behandlungsprozess soll das Instrument "Patientenquittung" weiterentwickelt werden (als Möglichkeit bereits vorhanden: § 305 Abs. 2 SGB V). Die Patientenquittung soll eine Mitteilung an die Patientin oder den Patienten in verständlicher Sprache sein, die ihr oder ihm ohne Aufforderung routinemäßig nach der Behandlung ausgehändigt wird. Sie soll neben den Diagnosen und erbrachten Leistungen auch Behandlungs- und Therapieempfehlungen sowie Informationen zu Arzneimitteln enthalten. Dies dient auch der Verbesserung des Verständnisses der eigenen Krankheit und der Therapiesicherheit. Die routinemäßige Aushändigung soll verhindern, dass der Patient bzw. die Patientin von Seiten des Behandlers unter einen Misstrauensverdacht gestellt wird. Durch die Kodifizierung der Dokumentationspflicht der Ärzte und der Einsichtsrechte des Patienten wird der informierte Patient zum Normalfall.

Ein Patientenrechtegesetz muss darüber hinaus dem Datenschutz von Patientinnen und Patienten in komplexen Versorgungs- und Verwaltungsabläufen mehr Gewicht geben.

Gesetzlichen Schutz verdient auch die Achtung der Privatsphäre der Patientinnen und Patienten. Sie ist während medizinischer Behandlungen und Untersuchungen zu achten, wie zum Beispiel bei fachärztlichen Visiten und Arzneimittelgaben, die in einer angemessenen Umgebung und nur in Anwesenheit der absolut notwendigen Personen stattfinden dürfen. Es sei denn, die Patientin oder der Patient hat der Anwesenheit weiterer Personen ausdrücklich zugestimmt oder darum gebeten.

3. Verbesserungen der Position von Patientinnen und Patienten in gerichtlichen und außergerichtlichen Verfahren bei vermuteten Behandlungsfehlern

Im Rahmen eines Gesetzes über Patientenrechte ist die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (Individualbeschwerde Nr. 7634/05), die auf eine Beschleunigung von gerichtlichen Verfahren abzielt, umzusetzen.

Notwendig sind daneben Beweislasterleichterungen für Patientinnen und Patienten im Klageverfahren. In Fällen eines schweren Behandlungsfehlers oder der Verletzung der Dokumentationspflicht werden bereits jetzt von der Rechtsprechung Beweislasterleichterungen praktiziert.

Insbesondere im Bereich der Verletzung der Dokumentationspflicht kann es zudem sinnvoll sein, gesetzlich festzuhalten, wie eine gesetzmäßige Dokumentation auszusehen hat und wann von einer Verletzung derselben auszugehen ist.

Zudem sind einheitliche und transparente Standards für die Aus- und Weiterbildung und die Auswahl von Sachverständigen sowie für die Erstellung von Gutachten zu entwickeln und anzuwenden. Die Eignung und Unabhängigkeit der Sachverständigen sollte regelmäßig nachgewiesen werden.

Die Bedeutung von Privatgutachten in gerichtlichen Verfahren soll hervorgehoben werden. Um gleichwertige Standards zu gewährleisten, erscheint eine gesetzliche Regelung sinnvoll. Bei der Stärkung von Privatgutachten geht es darum, dass gerichtliche Sachverständige von den Gerichten dazu angehalten werden, sich auch mit den von den Parteien vorgelegten Privatgutachten auseinanderzusetzen und dazu gesondert Stellung zu nehmen.

Zur Entlastung der Gerichte und zur Förderung unbürokratischer, schneller Lösungen müssen nach Anrufung einer Partei Verfahren der Schlichtungsstellen der Ärztekammern verbindlich durchgeführt werden. Unabhängig vom Ausgang des Schlichtungsverfahrens steht den Parteien der Gang zu den Gerichten offen.

Die gesetzlichen Krankenkassen müssen Versicherten bei der Verfolgung von Schadenersatzansprüchen, die bei der Inanspruchnahme von Versicherungsleistungen aus Behandlungsfehlern entstanden, unterstützen (Anpassung von § 66 SGB V; bislang eine Kann-Leistung).

Die Einführung eines Entschädigungsfonds wird als sinnvolle Ergänzung des haftungsrechtlichen Systems angeregt. Anders als das für die Verschuldenshaftung geltende Alles-oder-Nichts-Prinzip könnte dies eine Möglichkeit bieten, Patientinnen und Patienten wenigstens teilweise zu entschädigen, wenn der im deutschen Zivilrecht geforderte Beweis des Ursachenzusammenhangs zwischen dem Behandlungsfehler und dem eingetretenen Gesundheitsschaden nicht zu führen ist - beispielsweise bei schicksalhaftem Verlauf. Es wird hier auf das Modell der Patientenanwaltschaft in Österreich verwiesen.

Das Vorliegen von Haftpflichtversicherungen der niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte sowie Zahnärztinnen und Zahnärzte muss von den Ärzte- und Zahnärztekammern ähnlich wie bei den Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälten und deren Kammern regelmäßig überprüft werden.

4. Sicherstellung von Beteiligungsrechten und evidenzbasierte Informationen

Die Beteiligungsrechte von Patientinnen und Patienten und ihrer maßgeblichen Organisationen (gemäß der Definition des Gemeinsamen Bundesausschusses) in relevanten Gremien des Gesundheitswesens müssen ausgeweitet werden. Insbesondere im Gemeinsamen Bundesausschuss sollte ein Stimmrecht in Verfahrensfragen eingeführt werden.

Auch eine Ausweitung der Patientenbeteiligung in Verfahren der Schlichtungsstellen ist vorzusehen.

Evidenzbasierte Gesundheitsinformationen, die eine souveräne Wahlentscheidung von Patientinnen und Patienten möglich machen können, sind verständlich und leicht zugänglich zu machen.

Damit Patientinnen und Patienten möglichst selbständig ihre Rechte gegenüber Krankenkassen und Leistungserbringern wahrnehmen können, soll die Unabhängige Patientenberatung ausgeweitet werden. Neben der gesetzlichen Krankenversicherung ist auch eine Beteiligung der PKV an der Finanzierung vorzusehen.

5. Transparenz bei Individuellen Gesundheitsleistungen (IGeL)

Durch das Angebot von IGeL-Leistungen wandelt sich das Arzt-Patienten-Verhältnis in ein Anbieter-Kunden-Verhältnis unter ungleichen Voraussetzungen. Patientinnen und Patienten sind nur ungenügend in der Lage, Bedarf, Qualität und Nutzen sowie damit einhergehend die Angemessenheit der entstehenden Kosten zu beurteilen.

Daher ist es besonders wichtig, Vorgaben zu Akquise, Beratung, Vertragsgestaltung und Liquidierung von Individuellen Gesundheitsleistungen in einem Patientenrechtegesetz zu regeln.

Notwendig sind zudem verbindliche Transparenzkriterien für diese so genannten Individuellen Gesundheitsleistungen, die Patientinnen und Patienten vor unangemessenen nicht qualitätsgesicherten Behandlungsinterventionen schützen können.