Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht der Kommission der Europäischen Gemeinschaften über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit (16. Bericht "Bessere Rechtsetzung" 2008) KOM (2009) 504 endg.; Ratsdok. 13879/09

Übermittelt vom Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie am 05. Oktober 2009 gemäß § 2 des Gesetzes über die Zusammenarbeit von Bund und Ländern in Angelegenheiten der Europäischen Union vom 12. März 1993 (BGBl. I S. 313), zuletzt geändert durch das Föderalismusreform-Begleitgesetz vom 5. September 2006 (BGBl. I S. 2098).

Die Kommission der Europäischen Gemeinschaften hat die Vorlage am 25. September 2009 dem Bundesrat zugeleitet.

Die Vorlage ist von der Kommission am 25. September 2009 dem Generalsekretär/Hohen Vertreter des Rates der Europäischen Union übermittelt worden.


Hinweis: vgl.
Drucksache 390/07 (PDF) = AE-Nr. 070482,
Drucksache 236/08 (PDF) = AE-Nr. 080301,
Drucksache 719/08 (PDF) = AE-Nr. 080698 und
Drucksache 615/09 (PDF) = AE-Nr. 090473

Bericht der Kommission über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismässigkeit (16. Bericht "Bessere Rechtsetzung" 2008)

1. Einführung

Der vorliegende Jahresbericht über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit ist der 16. Bericht dieser Art, den die Kommission dem Europäischen Rat und dem Europäischen Parlament gemäß dem Protokoll im Anhang zum Vertrag über die Gründung der Europäischen Gemeinschaft vorlegt1. Genau wie der Bericht 2007 befasst sich auch dieser Bericht nicht mit Fragen der besseren Rechtsetzung im Allgemeinen, die in der Mitteilung "Dritte Strategische Überlegungen zur Verbesserung der Rechtsetzung in der Europäischen Union" behandelt wurden2.

2. Rechtlicher und institutioneller Rahmen

2.1. Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit

Die Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit sind in Artikel 5 Absätze 2 und 3 des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (EG-Vertrag) definiert. Die Anwendung dieser beiden Grundsätze ist in Protokoll Nr. 30 zum EG-Vertrag näher erläutert.

Der Grundsatz der Subsidiarität ist maßgebend für die Abgrenzung der Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten von denen der EU (wer soll tätig werden?). Verfügt auf einem Gebiet die Gemeinschaft über die ausschließliche Zuständigkeit, steht zweifelsfrei fest, wer tätig werden muss, und die Subsidiarität findet keine Anwendung. Teilen sich die Gemeinschaft und die Mitgliedstaaten die Zuständigkeit, so begründet dieser Grundsatz eindeutig eine Vermutung zugunsten eines Tätigwerdens der Mitgliedstaaten. Die Gemeinschaft sollte nur dann tätig werden, wenn die Ziele auf der Ebene der Mitgliedstaaten nicht ausreichend erreicht werden können (Erforderlichkeitsprüfung) und besser auf Gemeinschaftsebene erreicht werden können (Prüfung des Mehrwerts einer Gemeinschaftsmaßnahme bzw. Vergleich der Wirksamkeit).

Die Subsidiarität ist ein dynamisches Konzept, daher entwickelt sich die Subsidiaritätsprüfung im Laufe der Zeit weiter. Das Konzept erlaubt der Gemeinschaft, ihre Tätigkeit im Rahmen ihrer Befugnisse auszuweiten, wenn die Umstände dies erfordern, es bedeutet andererseits aber auch, dass sie ihre Tätigkeit einschränken oder einstellen muss, wenn diese den Subsidiaritätskriterien nicht mehr genügt3.

Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ist maßgebend für die Festlegung der Art und Weise, in der die Gemeinschaft sowohl ihre ausschließliche als auch ihre geteilte Zuständigkeit ausübt (in welcher Form und mit welchem Mittel soll die Gemeinschaft tätig werden?). Sowohl nach Artikel 5 EG-Vertrag als auch nach dem Protokoll dürfen die Maßnahmen nicht über das zum Erreichen der Ziele des Vertrags erforderliche Maß hinausgehen. Es muss für die Maßnahme optiert werden, die die geringsten Belastungen mit sich bringt.

2.2. Anwendungsweise, Gelegenheit zur Stellungnahme, nachträgliche Kontrolle

Sämtliche Organe der Gemeinschaft haben beide Grundsätze zu befolgen. Die spezifischen Verpflichtungen, deren Kernelemente im Folgenden zusammengefasst werden, ergeben sich aus dem Protokoll (Nr. 30) und der Interinstitutionellen Vereinbarung zur Subsidiarität von 19934.

Bevor die Kommission einen Vorschlag vorlegt, muss sie umfassende Anhörungen durchführen; sie muss außerdem in der Begründung eines jeden Vorschlags darlegen, inwiefern der betreffende Legislativvorschlag den Grundsätzen der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit entspricht, und der Belastung der Gemeinschaft, der Regierungen der Mitgliedstaaten, der Gebietskörperschaften, der Wirtschaft und der Bürger Rechnung tragen.

Das Europäische Parlament und der Rat müssen ihr Vorgehen unter dem Gesichtspunkt der Subsidiarität rechtfertigen, wenn sie an einem Kommissionsvorschlag Abänderungen vornehmen, die sich auf den Umfang der betreffenden Gemeinschaftsmaßnahme auswirken5.

Findet das Konsultationsverfahren oder das Verfahren der Zusammenarbeit Anwendung, muss der Rat gegenüber dem Europäischen Parlament seine Auffassung hinsichtlich der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit begründen6. Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss und der Ausschuss der Regionen nehmen entweder anlässlich ihrer Anhörung oder auf eigene Initiative Stellung. Auch die Konferenz der Ausschüsse für Gemeinschafts- und Europa-Angelegenheiten der Parlamente der Europäischen Union (COSAC) kann zur Anwendung des Subsidiaritätsprinzips Stellung nehmen7.

Seit September 2006 leitet die Kommission ihre Vorschläge für Rechtsakte den nationalen Parlamenten zur Stellungnahme zu. Dabei geht es zwar längst nicht nur um Themen im Zusammenhang mit der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit, doch viele Stellungnahmen der nationalen Parlamente betreffen eben diese Grundsätze.

Schließlich kann die Rechtmäßigkeit von Maßnahmen der Gemeinschaftsorgane unter dem Aspekt der Subsidiarität auch vom Gerichtshof und dem Gericht erster Instanz überprüft werden.

3. Anwendung der Grundsätze durch die Kommission 2008

3.1. Behandlung der Grundsätze durch die Kommission

Gemäß dem Protokoll muss die Kommission begründen, warum ihrer Auffassung nach ein Legislativvorschlag den Grundsätzen der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit entspricht. Die Kommission geht hierbei auf unterschiedliche Weise vor - Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit werden im Rahmen der Folgenabschätzungen untersucht, die von der Kommission für all ihre wichtigen Initiativen vorgenommen werden, und in den Begründungen und Erwägungsgründen der Legislativvorschläge behandelt.

Ein Kernmerkmal des Folgenabschätzungssystems der Kommission ist die unabhängige Qualitätskontrolle durch den Ausschuss für Folgenabschätzung (IAB). Der IAB empfiehlt in seinen Stellungnahmen Nachbesserungen an zentralen Aspekten der Folgenabschätzungen, u. a. auch an der Bewertung der Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit. Die Stellungnahmen des IAB sind Bestandteil des internen Entscheidungsfindungsprozesses der Kommission und nach Annahme der betreffenden Vorlage für die übrigen Institutionen sowie für die Allgemeinheit zugänglich.

Aus dem Bericht des IAB für 2008 geht hervor, dass die Anzahl der Empfehlungen des IAB zu Fragen der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit gestiegen ist (2007: 29

3.2. Beispiele für die Anwendung der Grundsätze durch die Kommission in ihren Folgenabschätzungen

Dieses Paket besteht aus zwei Richtlinien: einer Richtlinie über den Schutz schwangerer Arbeitnehmerinnen (Verlängerung der Mindestdauer des Mutterschaftsurlaubs von 14 auf 18 Wochen, grundsätzlich bei voller Bezahlung) und einer Richtlinie über mitarbeitende Ehepartner von selbständigen Erwerbstätigen (auf Antrag wird mitarbeitenden Ehepartnern der gleiche Sozialversicherungsschutz wie ihrem selbständigen Partner gewährt). Aus den ersten Ergebnissen der Folgenabschätzung geht hervor, dass insbesondere der zweite Vorschlag in einigen Mitgliedstaaten mit wesentlichen Umsetzungskosten verbunden wäre. Damit bestimmte Maßnahmen in einem angemessenen Verhältnis zur Erreichung der Ziele stehen, hat die Kommission vorgeschlagen, dass deren Anwendung für die Mitgliedstaaten freiwillig ist.

Der Vorschlag der Kommission, die MwSt-Sätze für lokal erbrachte arbeitsintensive Dienstleistungen zu ermäßigen, ermöglicht den Mitgliedstaaten größere Flexibilität bei der Festlegung der MwSt-Sätze für Dienstleistungen, deren Binnenmarktdimension nicht ins Gewicht fällt. Dies ist ein Beispiel dafür, wie durch eine erneute Prüfung der Anwendung einer Rechtsvorschrift das Ausmaß eines Vorgehens auf EU-Ebene verringert werden kann.

Der Vorschlag zur Anwendung des Grundsatzes der Gleichbehandlung ungeachtet der Religion oder der Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung enthält eine Reihe von Schutzklauseln, um eindeutig festzulegen, in welchen Bereichen die Mitgliedstaaten weiterhin zuständig sind (z.B. Gestaltung der Bildung, säkularer Charakter des Staates, Anerkennung der gleichgeschlechtlichen Ehe). Angesichts von Bedenken, dass die Maßnahmen im Zusammenhang mit Behinderungen zu unverhältnismäßigen Kosten für Unternehmen führen könnten, hat die Kommission sichergestellt, dass der Vorschlag auf dem Konzept der angemessenen Vorkehrungen basiert, das den Unternehmen bekannt ist, da es mit der Richtlinie über die Gleichbehandlung bei der Beschäftigung13 eingeführt wurde. Im Kommissionsvorschlag werden die bei der Bewertung der Angemessenheit zu berücksichtigenden Faktoren spezifiziert und in der Begründung ist dargelegt, inwiefern dies den Grundsätzen der Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit entspricht.

Die Kommission hat mit der Erarbeitung einer Initiative begonnen, mit der den Mitgliedstaaten empfohlen wird, Maßnahmen zur Lösung drogenbedingter Probleme in Gefängnissen zu ergreifen. Auf diese Weise wäre die bereits bestehende allgemeine Empfehlung über die Drogensucht ergänzt worden. Nach der Folgenabschätzung stellte sich jedoch angesichts des begrenzten Umfangs dieses Problems die Frage nach der Verhältnismäßigkeit;

Bedenken zur Verhältnismäßigkeit zählten auch zu den Gründen, warum die Kommission diese Initiative nicht weiterverfolgte.

In verschiedenen anderen Fällen forderte der IAB eine verbesserte Subsidiaritätsprüfung an, z.B. für den Vorschlag für eine Verordnung über die Fahrgastrechte im Kraftomnibusverkehr14, den Vorschlag für eine Richtlinie über die Gesamtenergieeffizienz von Gebäuden15, den Vorschlag für eine Richtlinie zur Erleichterung der grenzübergreifenden Durchsetzung von Verkehrssicherheitsvorschriften16, den Vorschlag für eine Richtlinie zum Schutz der für wissenschaftliche Zwecke verwendeten Tiere17, den Vorschlag für eine Verordnung hinsichtlich der Abgabe von Nahrungsmitteln an Bedürftige18, den Vorschlag für eine Verordnung zur Einführung eines Schulobstprogramms19, den Vorschlag für eine Richtlinie über Phase II der Benzindampf-Rückgewinnung beim Betanken von Personenkraftwagen an Tankstellen20. Auf der Website der Kommission für die Folgenabschätzung sind dazu nähere Informationen zu finden21.

4. Einbindung der nationalen Parlamente

4.1. Bei der Kommission eingegangene Stellungnahmen

Seit 2006 übermittelt die Kommission den nationalen Parlamenten alle neuen Vorschläge und hat ein Verfahren eingerichtet, das eine Beantwortung der Stellungnahmen der Parlamente vorsieht.22 Die Anzahl der bei der Kommission eingegangenen Stellungnahmen hat sich jedes Jahr ungefähr verdoppelt und ist von 53 (2006) bzw. 115 (2007) auf 200 im Jahr 2008 angewachsen23. Dies zeigt, dass die nationalen Parlamente die für die Reaktion auf Kommissionsinitiativen notwendigen Modalitäten zunehmend umsetzen. Auch wenn es hierbei nicht nur um Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit geht, haben die Parlamente diese Themen regelmäßig angesprochen, z.B. im Zusammenhang mit folgenden Initiativen:

Der Kommission wurden drei Stellungnahmen übermittelt. Der französische Senat betonte, im Sinne der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit solle im Vorschlag anerkannt werden, dass die Zuständigkeit für die Organisation der Gesundheitsversorgung bei den Mitgliedstaaten liegt. Nach Auffassung der beiden Kammern des niederländischen Parlaments ist unklar, warum ein Vorgehen auf EU-Ebene notwendig ist; sie äußerten Zweifel im Hinblick auf die Wahrung der nationalen Souveränität bei der Organisation und Finanzierung des Gesundheitssystems sowie auf die Wahl des Rechtsinstruments (Richtlinie). Der deutsche Bundesrat betonte, dass in diesem Rahmen die Sozialdienstleistungen auszuschließen seien und argumentierte, dass durch die Inanspruchnahme von Artikel 95 EG-Vertrag als Rechtsgrundlage nicht die Grenzen der Gemeinschaftsmaßnahmen im Bereich Gesundheit gemäß Artikel 152 umgangen werden dürfen. Der Bundesrat unterstrich außerdem, dass Artikel 5 des Vorschlags, in dem die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten für die Organisation der Gesundheitsversorgung bestätigt wird, weiter gestärkt werden sollte. In ihrer Reaktion auf die Stellungnahmen der nationalen Parlamente wies die Kommission darauf hin, dass die Mitgliedstaaten gemäß Artikel 152 Absatz 5 EG-Vertrag weiterhin für die Organisation und Bereitstellung des Gesundheitswesens und der medizinischen Versorgung, insbesondere für die Feststellung von Patientenansprüchen und die Art und Weise, wie Gesundheitsleistungen erbracht werden, zuständig sind. Sie stellte in ihrer Antwort auf die Stellungnahme des deutschen Bundesrats außerdem fest, dass die vorgeschlagene Richtlinie auf die Standards für bereitgestellte Gesundheitsleistungen Anwendung findet, jedoch nicht die Erstattung von Sozial- und sonstigen Vorsorgeleistungen abdeckt.

Der deutsche Bundesrat äußerte Zweifel hinsichtlich des Aspekts der Subsidiarität und der Frage, ob durch die vorgeschlagene Harmonisierung die festgelegten Ziele erreicht werden können. Beide Kammern des niederländischen Parlaments forderten eine eindeutige Begründung der Rechtsgrundlage und möchten eine Situation vermeiden, in der die einzelstaatlichen Vorschriften, die eine missbräuchliche Ausnutzung verbieten, durch europäische Vorschriften ausgehöhlt werden. Sie stellten außerdem den Mehrwert der Initiative und die Prognose der Kommission hinsichtlich der wirksamen Nutzung der Europäischen Privatgesellschaft in Frage. In ihrer Antwort an den deutschen Bundesrat wies die Kommission darauf hin, dass die Berücksichtigung eines grenzüberschreitenden Bezugs als Voraussetzung für die Gründung einer Europäischen Privatgesellschaft nicht mit dem Ziel des Vorschlags im Einklang stünde, insbesondere nicht mit dem Ziel, zur Vollendung und Verbesserung der Funktionsweise des Binnenmarkts beizutragen und den Zugang zum Binnenmarkt für KMU zu verbessern.

Der deutsche Bundesrat hatte gewisse Vorbehalte hinsichtlich der Subsidiarität, zum Beispiel was die Programme für europäische Schulen zur Förderung des unternehmerischen Denkens anbelangt. Der italienische Senat hingegen unterstützte alle Grundsätze des Small Business Act. Die Kommission ersuchte in ihrer Antwort sowohl den deutschen Bundesrat als auch den italienischen Senat, sich aktiv am Folgeprozess zu beteiligen und insbesondere Informationen über bewährte Verfahrensweisen im Hinblick auf nationale und regionale KMU-Politik und -Maßnahmen auszutauschen, beispielsweise zum Thema Benchmarking.

Der Vertrag von Lissabon würde nach seiner Ratifizierung die Rolle der nationalen Parlamente im EU-Gesetzgebungsverfahren stärken27. In den Protokollen 1 und 2 des Vertrags ist ein verbessertes System vorgesehen, damit nationale Parlamente sich dazu äußern können, ob Entwürfe von Legislativvorschlägen dem Grundsatz der Subsidiarität genügen. Sie würden über alle Entwürfe von Legislativvorschlägen unterrichtet und hätten außer in begründeten dringenden Fällen acht Wochen Zeit, um ihren Standpunkt kund zu tun28. Die nationalen Parlamente hätten dann das Recht, in Fällen, in denen ein Legislativvorschlag ihrer Ansicht nach nicht mit dem Subsidiaritätsprinzip in Einklang steht, der Kommission eine begründete Stellungnahme zu übermitteln29. Je nach der Anzahl der Parlamente, die Stellungnahmen übermitteln, sieht der Vertrag zwei Verfahrenswege vor - die "gelbe" und die "orange" Karte -, die die Überprüfung. Mögliche Änderung oder die Rücknahme des Vorschlags zur Folge hätten. Der Vertrag enthält außerdem neue Bestimmungen in Bezug auf die rechtliche nachträgliche Kontrolle: die nationalen Parlamente30 und der Ausschuss der Regionen hätten die Möglichkeit, bei mutmaßlichen Verstößen gegen den Grundsatz der Subsidiarität vor dem Europäischen Gerichtshof Klage zu erheben31.

4.2. Aktionen zum Thema Subsidiarität des COSAC

2008 führte die Konferenz der Ausschüsse für Gemeinschafts- und Europa-Angelegenheiten der Parlamente der Europäischen Union (COSAC) zwei neue Aktionen zum Thema Subsidiarität durch, um die im Vertrag von Lissabon verankerten Verfahren zu simulieren. Vor dem Hintergrund dieser Aktionen gingen bei der Kommission 27 Stellungnahmen ein.

Insgesamt gingen zwölf Stellungnahmen ein. Lediglich das britische Unterhaus lehnte den Vorschlag mit Berufung auf das Subsidiaritätsprinzip ab. Fünf Kammern nationaler Parlamente baten die Kommission um die Erläuterung bestimmter Aspekte im Zusammenhang mit der Subsidiarität; fünf weitere ersuchten um Erklärung der Verbindung zwischen dem Rahmenbeschluss und dem Übereinkommen des Europarats zur Verhütung des Terrorismus.

Zu diesem Vorschlag gingen 15 Stellungnahmen ein, wovon 14 den Vorschlag im Hinblick auf die Subsidiarität befürworteten. Die einzige negative Stellungnahme wurde vom tschechischen Senat übermittelt.

5. Anwendung durch den Rat

Im Bericht über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit aus dem Jahr 2007 wurde auf die rege Debatte im Zusammenhang mit dieser Richtlinie hingewiesen. Trotz der Bemühungen der Präsidentschaft, die von der Kommission hierbei unterstützt wurde, konnte der Rat im Dezember 2007 keine politische Einigung über diese Richtlinie erreichen. Der endgültige Kompromiss, der einen hohen Grad an Flexibilität für die Mitgliedstaaten und geringere Kosten für die Umsetzung der Richtlinie vorsah, wurde von einer Sperrminorität aus Gründen der Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit abgelehnt. 2008 werden die Gespräche auf technischer Ebene fortgesetzt.

In diesem Vorschlag ist eine Bestimmung enthalten, mit der die Pflicht aufgehoben wird, Unternehmensgesetze in Papierform zu veröffentlichen, sofern die zu veröffentlichenden Informationen stattdessen auf einer elektronischen Plattform bereitgestellt werden. Auf diese Weise sollen Kosteneinsparungen für Unternehmen bewirkt werden. Verschiedene Mitgliedstaaten, die zusammen eine Sperrminorität bilden, befürworten eine Beibehaltung der Pflicht für Unternehmen, auf eigene Kosten Informationen in der nationalen oder lokalen Presse zu veröffentlichen. Zwei Mitgliedstaaten, die sich hierbei auf das Subsidiaritätsprinzip berufen, wiesen darauf hin, dass eine Veröffentlichung in nationalen oder lokalen Zeitungen einen Mehrwert für lokale Gesellschaften darstelle, insbesondere bei einer geringen Internet-Abdeckung. Sie wiesen außerdem darauf hin, dass dies eine Finanzierungsquelle für nationale Zeitungen sei, die gewahrt werden solle.

Deutschland lehnte den Vorschlag mit Berufung auf das Subsidiaritätsprinzip ab. Irland äußerte dieselben Zweifel und der tschechische Senat verabschiedete eine Entschließung mit ähnlichem Tenor. Nach Ansicht dieser Mitgliedstaaten überschreitet der Vorschlag die in der Rechtsgrundlage (Artikel 13 EG-Vertrag) gesetzten Grenzen im Hinblick auf die Anregung, Unterstützung oder Ergänzungen der Maßnahmen der Mitgliedstaaten. Anderen Mitgliedstaaten (insbesondere Niederlande und Italien) sind der Auffassung, der Vorschlag stehe angesichts der damit verbundenen Verwaltungs- und finanziellen Kosten nicht im Einklang mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Die Erörterungen im Rat zu diesem Vorschlag werden unter schwedischem Vorsitz fortgesetzt.

Mehrere Mitgliedstaaten (insbesondere die Niederlande) sind der Auffassung, dass der Vorschlag nicht im Einklang mit dem Subsidiaritätsprinzip steht, und zögen es vor, über bestimmte im Rahmen des Vorschlags abgedeckte Fragen gemäß eigenen Verfahren und Erfahrungen frei zu entscheiden.

Ein Mitgliedstaat sprach im Rahmen der Erörterungen im Rat das Thema Subsidiarität an. Dieser Mitgliedstaat hatte im Zusammenhang mit dem Kommissionsvorschlag von 2008 keine Bedenken zur Subsidiarität geäußert; sprach sich aber unter Berufung auf die Subsidiarität gegen ein Element des von der französischen Präsidentschaft vorgeschlagenen Kompromisses aus, gemäß dem mit jedem Antrag eines Mitgliedstaats auf die Anwendung eines ermäßigten MwSt-Satzes eine Folgenabschätzung einzureichen ist, insbesondere bezüglich der finanziellen Folgen. Dieses Element wurde in der im Rahmen des Rates Wirtschaft und Finanzen vom 10. März 2009 erzielten politischen Einigung nicht berücksichtigt.

6. Anwendung durch das Europäische Parlament

Im Jahr 2008 verabschiedete das Europäische Parlament zwei Entschließungen, in denen die Themen Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit umfassend behandelt wurden. Im Oktober verabschiedete das Parlament eine Entschließung über den Bericht der Kommission "Bessere Rechtssetzung 2006 für die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit"39. Der Bericht befasste sich mit der neuen Rolle der nationalen Parlamente im Zusammenhang mit einer eingehenderen Prüfung der Subsidiarität. Die Initiative der Kommission, ihre neuen Vorschläge den nationalen Parlamenten zu übermitteln und deren Stellungnahmen einzuholen, erfuhr Unterstützung. Um diesen Dialog jedoch effizienter zu gestalten, muss nach Auffassung des Europäischen Parlaments ein gemeinsamer Ansatz hinsichtlich der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit entwickelt werden.

Die zweite Entschließung, deren Schwerpunkt auf dem Thema Subsidiarität liegt, ist die Reaktion des Parlaments auf das Grünbuch "Hin zu einer neuen Kultur der Mobilität in der Stadt"40. Das Parlament ist zwar der Ansicht, dass Mobilität in der Stadt in den Zuständigkeitsbereich lokaler Behörden fällt, erkennt aber die Rolle der EU bei der Entwicklung eines integrierten europäischen Ansatzes bei diesem Thema an. Die EU sollte zwar im Bereich der Mobilität in der Stadt keine Rechtsvorschriften erlassen, das Parlament hält es jedoch für notwendig, dass die Europäische Union in jenen Politikbereichen, in denen sie gesetzgeberisch tätig werden kann (z.B. Haushaltspolitik, Umweltpolitik, Sozial- und Arbeitsmarktpolitik, Wettbewerbspolitik, Industriepolitik, Regional- und Kohäsionspolitik, Verkehrspolitik, Politik im Bereich der Straßenverkehrssicherheit und Energiepolitik) den besonderen Erfordernissen des innerstädtischen Verkehrs Rechnung tragen sollte.

7. Anwendung durch den Ausschuss der Regionen

Im Jahr 2008 ist das Netz für Subsidiaritätskontrolle des Ausschusses der Regionen seit zwei Jahren in Betrieb. Das Netz wird über eine interaktive Website41 betrieben und zielt in erster Linie auf Regierungs- und parlamentarische Institutionen ab, die Europas Regionen und Städte vertreten. Auch die nationalen Parlamente sind aufgefordert, sich einzubringen. Andere EU- und nationale Institutionen können die Aktivitäten des Netzes als Beobachter verfolgen. Wenn der Ausschuss der Regionen eine Stellungnahme zu einem neuen politischen oder legislativen Vorschlag erarbeitet, können registrierte Netzteilnehmer mit Hilfe eines standardisierten elektronischen Formulars Kommentare zur Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips übermitteln. Darüber hinaus können die Berichterstatter des Ausschusses breitere Konsultationen des Netzes einleiten, wenn sie für ihre Arbeit zusätzliche Beiträge zu den Themen Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit benötigen. Im Jahr 2008 fanden drei Konsultationen dieser Art statt42.

Der Ausschuss der Regionen strebt an, der Europäischen Kommission mit Hilfe seines Konsultationsnetzes und seiner Plattformen, einschließlich dem Netz für Subsidiaritätskontrolle, Daten über mögliche Folgen ihrer Initiativen auf lokaler und regionaler Ebene zur Verfügung zu stellen. Auf diese Weise können lokale und regionale Behörden zu einem frühen Zeitpunkt am (prä-) legislativen Prozess teilnehmen und zu einer verbesserten Bewertung der territorialen Auswirkungen von politischen und legislativen Vorschlägen der EU beitragen.

8. Anwendung durch den Gerichtshof

Zwar waren keine nennenswerten Änderungen der Rechtsprechung zu verzeichnen, doch eine Vorabentscheidungsfrage, die zu einem Urteil des Gerichtshof zur Subsidiarität führen könnte, ist weiterhin offen. Am 13. Februar 2008 reichte der High Court of Justice (England & Wales) beim Europäischen Gerichtshof ein Vorabentscheidungsersuchen zur Roamingverordnung ein43. Neben einer Frage bezüglich der Rechtsgrundlage legte der High Court dem Europäischen Gerichtshof die Frage vor, ob die Verordnung ungültig sei, "weil die Festsetzung einer Preisobergrenze für Endkundenroamingentgelte gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und/oder den Subsidiaritätsgrundsatz verstößt". Ein Urteil wird vor 2010 erwartet.

9. Schlussfolgerungen

Aus der obigen Analyse lassen sich drei generelle Schlussfolgerungen ziehen: Erstens offenbart die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit oft Meinungsverschiedenheiten im Rat, doch für das Europäische Parlament gilt dies in geringerem Maße, da hier ein breiterer Konsens in Bezug auf die Notwendigkeit und den Mehrwert von Maßnahmen auf EU-Ebene zu bestehen scheint. Zweitens steigt die Anzahl der Stellungnahmen zu den Vorschlägen der Kommission, die ihr von nationalen Parlamenten übermittelt werden, rasch an und verdoppelt sich fast jedes Jahr. Diese Entwicklung dürfte sich nach der Ratifizierung des Vertrags von Lissabon und der Einführung der gelben und orangen Karte fortsetzen und auf diese Weise die Debatte über Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit bereichern. Drittens sind Folgenabschätzungen zum wichtigsten Instrument geworden, um bei der Vorbereitung politischer Initiativen Fragen im Zusammenhang mit der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit innerhalb der Kommission anzusprechen. Der Ausschuss für Folgenabschätzung spielt hier eine Schlüsselrolle und der überarbeitete Leitfaden zur Folgenabschätzung wird voraussichtlich weitere Fortschritte in diesem Bereich bewirken.

Anhang 1
Anzahl der Stellungnahmen von nationalen Parlamenten

Nationale gesetzgebende Versammlungen Eingegangene Stellungnahmen
1 PT - Assembleia da República 65
2 DE - Bundesrat 18
3 SE - Riksdag 16
4 FR - Sénat 13
5 UK - House of Lords 12
6 DK - Folketing 11
7 CZ - Senát 11
8 IT - Senato della Repubblica 8
9 IE - Dáil Éireann and Seanad Éireann 7
10 IT - Camera dei deputati 6
11 NL - Staten Generaal 5
12 PL - Sejm 5
13 AT - Bundesrat 4
14 EL - Vouli ton Ellinon 3
15 DE - Bundestag 2
16 EE - Riigikogu 2
17 LU - Chambre des Députés2
18 BE - Sénat/Senaat 2
19 CY - Vouli ton Antiprosopon 2
20 LV - Saeima 2
21 UK - House of Commons 1
22 CZ - Poslanecká snìmovna 1
23 BE - Chambre des Répresentants/ Kamer van volksvertegenwoordigers 1
24 BG - Narodno sabranie 1
Insgesamt: 200