Antrag der Länder Rheinland-Pfalz, Bremen, Nordrhein-Westfalen
Entschließung des Bundesrates zur Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns

Der Ministerpräsident des Landes Rheinland-Pfalz Mainz, den 10. Dezember 2010

An die Präsidentin des Bundesrates
Frau Ministerpräsidentin
Hannelore Kraft

Sehr geehrte Frau Präsidentin,
die Landesregierungen von Rheinland-Pfalz, Bremen und Nordrhein-Westfalen haben beschlossen, beim Bundesrat den in der Anlage mit Begründung beigefügten Antrag für eine Entschließung des Bundesrates zur Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns einzubringen.

Ich bitte Sie, den Entschließungsantrag gemäß § 36 Absatz 2 der Geschäftsordnung auf die Tagesordnung der 878. Sitzung des Bundesrates am 17. Dezember 2010 zu setzen und anschließend den Ausschüssen zur Beratung zuzuleiten.

Mit freundlichen Grüßen
Kurt Beck

Entschließung des Bundesrates zur Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns

Der Bundesrat möge beschließen:

I. Der Bundesrat stellt fest:

II. Der Bundesrat fordert die Bundesregierung auf,

unverzüglich einen Gesetzentwurf vorzulegen, der vor allem die nachfolgenden Punkte regelt:

Begründung:

Das Ausmaß der Niedriglohnbeschäftigung in Deutschland hat seit Mitte der 1990er Jahre deutlich zugenommen und liegt mittlerweile deutlich über dem europäischer Nachbarländer. Das Institut Arbeit und Qualifikation (IAQ) hat eine Bestandsaufnahme von 2008 ausgewertet und festgestellt, dass in diesem Jahr 6,55 Millionen Beschäftigte von Niedriglöhnen betroffen waren. Dies ist eine Steigerung allein zwischen 2004 und 2008 - also im Wirtschaftsaufschwung - um 650.000 Beschäftigte. Die durchschnittlichen Stundenlöhne im Niedriglohnsektor sind im Vergleich von 1995 und 2007 inflationsbereinigt nicht gestiegen bzw. in Westdeutschland sogar gesunken. Der Anteil von Beschäftigten mit Niedriglöhnen von weniger als 50 Prozent oder sogar einem Drittel des Medians ist laut IAQ deutlich gestiegen. Aktuell bekommen 15 Prozent der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Westen und 35 Prozent im Osten einen Stundenlohn von weniger als 8,50 Euro.

Von Niedriglöhnen sind zwar insbesondere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in atypischen Beschäftigungsverhältnissen betroffen, aber auch unter den Vollzeitbeschäftigten arbeitet inzwischen jeder Siebte für einen Niedriglohn. Damit würde ein Mindestlohn auf Bruttostundenbasis sowohl Vollzeit- wie auch Teilzeitbeschäftigte vor unangemessenen niedrigen Löhnen schützen.

Um dieser Entwicklung entgegenzuwirken hatten Rheinland-Pfalz und Bremen bereits im Jahr 2007 den "Entwurf eines Gesetzes über die Festsetzung des Mindestlohns - Mindestlohngesetz" im Bundesrat (Bundesrats-

Drucksache 622/07 (PDF) ) eingebracht. Leider wurde diese Chance nicht genutzt, so dass sich die Ausweitung des Niedriglohnsektors in Deutschland weiter fortsetzen konnte.

Das Bundesverfassungsgericht hat mit seinem Urteil vom 9. Februar 2010 Standards für die Neubemessung der Regelsätze und Regelleistungen im Sozialgesetzbuch II und Sozialgesetzbuch XII gesetzt. Hilfebedürftige haben Anspruch auf die Gewährung des menschenwürdigen Existenzminimums.

Der Staat ist durch dieses Urteil auch in der Pflicht, sicher zu stellen, dass ein Arbeitnehmer zumindest dieses menschenwürdige Existenzminimum erhält. Dies kann er einerseits über ergänzende Sozialleistungen erreichen. Damit würde das Arbeitseinkommen zum Hinzuverdienst herabgestuft und die Arbeitsleistung des einzelnen nicht gewürdigt.

Der andere Weg führt über die Festsetzung eines gesetzlichen Mindestlohns, der das menschenwürdige Existenzminimum während des Arbeitslebens und auch noch im Alter gewährleistet und zudem zwingend erforderlich ist, um sowohl bei Löhnen als auch bei der Grundsicherung für Arbeitsuchende und der Sozialhilfe eine Armut und Ausgrenzung bewirkende "Entwicklung nach unten" zu verhindern.

Für die Einführung eines solchen gesetzlichen Mindestlohns, der als Mindestforderung ein angemessenes Entgelt für Vollzeitarbeit und die Ernährung der Familie gewährleistet und eine Höhe haben soll, die die Inanspruchnahme von sozialrechtlichen Transferleistungen auch im Alter entbehrlich macht, hat sich auch der 68. Deutsche Juristentag 2010 ausgesprochen.

Gegner eines gesetzlichen Mindestlohns warnen vor dessen negativen Beschäftigungswirkungen. Die neuere empirische Forschung - vor allem des UC Institute for Labor and Employment in Berkeley - sowie zahlreiche Studien im Auftrag der britischen Low Pay Commission kommen jedoch zum Ergebnis, dass die Einführung oder Erhöhung von Mindestlöhnen neutrale oder sogar leicht positive Beschäftigungseffekte hat.

Über die Höhe eines gesetzlichen Mindestlohnes sollte nicht das Parlament entscheiden. Es bietet sich an, dass eine unabhängige Mindestlohnkommission nach dem Vorbild Großbritanniens (Low Pay Commission), die im Einvernehmen mit den Tarifparteien eingesetzt wird, regelmäßig über die Einkommensentwicklung im unteren Bereich berichtet und eine Empfehlung ausspricht. Die endgültige Festsetzung des Mindestlohnes soll dann durch das BMAS erfolgen.

Durch die Berufung von Vertreterinnen und Vertretern aus Kreisen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und der Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber sowie der Wissenschaft in die Kommission wird eine ausgewogene Berücksichtigung der für die Entscheidung erforderlichen Aspekte gewährleistet.

Die vorgesehene Regelung steht im Einklang mit dem Verfassungsrecht. Sie schafft einen verfassungsmäßig gebotenen Ausgleich zwischen der Tarifautonomie ( Artikel 9 Absatz 3 des Grundgesetzes - GG) und dem Sozialstaatsgebot (Artikel 20 Absatz 1, Artikel 28 Absatz 1 GG). Die Festsetzung des Mindestlohnes dient dazu, die existenzsichernde Funktion des Arbeitsentgelts und die elementare Würde und ökonomische Funktion von Arbeit zu sichern. Sie soll in den Bereichen, in denen die Gefahr besteht, dass elementare Gerechtigkeitsmaßstäbe verletzt werden, Lohngerechtigkeit sichern. Dieses Ziel hat aufgrund des Sozialstaatsprinzips und aufgrund der Berufsfreiheit Verfassungsrang.

Ein einheitlicher gesetzlicher Mindestlohn, der für alle Menschen im Land transparent die Lohnuntergrenze festlegt, sichert zudem, dass jede einzelne Arbeitnehmerin und jeder einzelne Arbeitnehmer ihren/seinen Rechtsanspruch ohne weiteres beziffern und rechtlich geltend machen kann.

Beispiele aus europäischen Nachbarländern zeigen, dass sich gesetzliche und tarifliche Mindestlöhne gut vereinbaren lassen. Das AEntG ist (in seinem die Erstreckung tarifvertraglicher Arbeitsbedingungen betreffenden Teil) auf einzelne Branchen beschränkt. Dieses Instrument der Erstreckung auf alle Arbeitgeber und -nehmer einer Branche sollte neben der Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns insbesondere auch im Hinblick auf die volle Freizügigkeit im Mai 2011 durch eine Öffnung des AEntG allen Branchen zur Verfügung gestellt werden.

Unabhängig hiervon ist auch im Hinblick auf den Eintritt der vollen Arbeitnehmerfreizügigkeit für die EU-Beitrittsländer mit Ausnahme von Bulgarien und Rumänien zum 1. Mai 2011 die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns zum Schutz der Arbeitnehmer und auch der Arbeitgeber vor einem Unterbietungswettbewerb bei Löhnen unerlässlich und wichtig für Bereiche, in denen die Tarifvertragsparteien nicht präsent oder zu schwach sind, um angemessene Löhne zu vereinbaren.