Der Bundesrat hat in seiner 922. Sitzung am 23. Mai 2014 gemäß §§ 3 und 5 EUZBLG die folgende Stellungnahme beschlossen:
Allgemeines
- 1. Der Bundesrat nimmt die Mitteilung der Kommission zur Kenntnis. Er vertritt die Auffassung, dass sich die bisherige Praxis von Fünfjahresprogrammen bewährt hat. Das Stockholmer Programm als "Arbeitsprogramm" des Europäischen Rates für die Jahre 2010 bis 2014 endet - ebenso wie der damit verbundene Aktionsplan der Kommission (IP/10/447) - am 1. Dezember 2014. Der Bundesrat hält angesichts des erforderlichen institutionellen Gleichgewichts zwischen Kommission und den Mitgliedstaaten ein Post-Stockholm-Programm für erforderlich und ist der Ansicht, im neuen Mehrjahresprogramm grundsätzlich auf die Konsolidierung, Evaluierung und Implementierung der bestehenden Gesetzgebung abzustellen. Allerdings sollten dabei erkannte Defizite behoben und die aus dem Stockholmer Programm noch offenen Punkte - soweit der Bedarf fortbesteht - konsequent umgesetzt werden.
Ein offenes und sicheres Europa - Weiterentwicklung des Datenschutzes im Rahmen der Grundsätze von Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit
- 2. Der Bundesrat unterstützt die weitere Entwicklung der EU zu einem Europa der Rechte und betont die Bedeutung der Grundrechte und Grundfreiheiten in der Union. Der Bundesrat bedauert deshalb, dass in der Mitteilung die weitere Entwicklung des europäischen Datenschutzrechts nicht in den Blick genommen wird, obwohl die laufenden Beratungen über den allgemeinen Rechtsrahmen für den Datenschutz bereits weitreichend Reformerfordernisse aufgezeigt haben.
- 3. Er hält die Verwirklichung wirksamer Garantien zum Schutz personenbezogener Daten gerade unter den Bedingungen global vernetzter Kommunikation weiterhin für eine der zentralen strategischen Aufgaben einer dem Schutz ihrer Bürgerinnen und Bürger verpflichteten EU. Ein modernes europäisches Datenschutzrecht auf einem hohen Niveau muss dabei neben den durch die EU-Verträge gezogenen Grenzen zum Beispiel im Bereich der nationalen Sicherheit vor allem den unterschiedlichen Regelungsbedarfen des öffentlichen und des privaten Sektors Rechnung tragen und darf nicht hinter bereits bestehende nationale Regelungen und den geltenden Rechtsakt der EU für den Datenschutz bei der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit von Polizei und Justiz zurückfallen.
- 4. Der Bundesrat hat in seinen Stellungnahmen vom 30. März 2012 zentrale Nachbesserungserfordernisse beim Vorschlag für eine Datenschutzgrundverordnung wie auch beim Vorschlag einer Richtlinie für den Datenschutz bei Polizei und Justizbehörden aufgezeigt (vgl. BR-Drucksachen 052/12(B) und 052/12(B) (2), BR-Drucksachen 051/12(B) und 051/12(B) (2)). Diese Forderungen, insbesondere das Kernanliegen zur Gewährleistung ausreichender Spielräume für nationale Datenschutzregelungen im öffentlichen Bereich, gelten fort.
Er stellt fest, dass die Beratungen zu dem von der Kommission im Januar 2012 vorgestellten Datenschutz-Reformpaket seit dem Beschluss des Bundesrates vom 30. März 2012 fortgeschritten sind. Die Verhandlungen im Europäischen Parlament, die durch den am 12. März 2014 in erster Lesung festgelegten Standpunkt vorerst beendet sind, zeigen erste Lösungsansätze für einen möglichst einheitlichen und hohen EU-Datenschutzstandard.
Dennoch sieht der Bundesrat Klarstellungsbedarf insbesondere mit Blick auf die Möglichkeiten, in den Mitgliedstaaten besondere Anforderungen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten vorzusehen. Er hält eine rasche Klärung der noch offenen Fragen im Ministerrat für notwendig, damit dieser schnellstmöglich in Verhandlungen mit dem Europäischen Parlament eintreten kann.
Für den Bundesrat ist es unerlässlich, dass zeitnah ein einheitlicher Rechtsrahmen für den Datenschutz auf EU-Ebene gefunden wird.
- 5. Ungeklärte Schnittstellen zum Datenschutz im Telekommunikationsbereich, eine unzureichende Verzahnung mit der Cloud-Computing-Strategie oder parallele Initiativen zur Verbesserung der Sicherheit europäischer Kommunikationsnetze oder der Sicherheit vor Cyberangriffen belegen die Notwendigkeit für eine übergreifende strategische Koordination der Anstrengungen für die Gewährleistung von Freiheit und Sicherheit in der Informationsgesellschaft.
- 6. Der Bundesrat hält es darüber hinaus für erforderlich, den Dialog und die Zusammenarbeit mit Drittstaaten auszubauen, um gemeinsam den Herausforderungen des Datenschutzes in einer vernetzten Welt entgegenzutreten. Er bedauert, dass die bisherigen Anstrengungen der EU hierzu, zum Beispiel beim Dialog über Datenschutzfragen mit den Vereinigten Staaten von Amerika über die Safe-Harbor-Grundsätze oder ein Datenschutz-Rahmenabkommen im Bereich der Strafverfolgung, trotz unstreitigen Handlungsbedarfs bislang nur zu langsamen Fortschritten geführt haben. Er hält es insgesamt für erforderlich, die Instrumente zur Steuerung solcher außenpolitischer Maßnahmen der EU durch eine engere Einbindung des Rates wie auch des Parlaments zu verstärken und ihre Kohärenz durch eine Strategie zeitlicher und inhaltlicher Zielsetzungen für datenschutzrechtliche Vereinbarungen mit Drittstaaten zu fördern.
- 7. Der Bundesrat weist darauf hin, dass die Beratungen zum Datenschutzreformpaket neue allgemeine Fragen zur Abgrenzung zwischen den Kompetenzen der EU und den Verantwortungsbereichen der Mitgliedstaaten im Bereich der Rechtsetzung wie auch im Verwaltungsvollzug aufgezeigt haben, über deren Klärung auch mit Blick auf künftige Strategien der EU eine Verständigung zwischen Kommission, Rat und Europäischem Parlament geboten ist. Mit der Möglichkeit zur Übertragung von Befugnissen zum Erlass delegierter Rechtsakte sowie von Durchführungsrechtsakten können der Kommission weitreichende Gestaltungsmöglichkeiten außerhalb des ordentlichen Rechtsetzungsverfahrens eröffnet werden, ohne dass diesen nach den Vorgaben des AEUV und den Regelungen zum so genannten Ausschussverfahren praktikable und effiziente Einwirkungsrechte von Mitgliedstaaten und Europäischem Parlament gegenüberstehen. Der Bundesrat bezieht sich auf seine grundsätzlichen Stellungnahmen vom 18. März 2011 in BR-Drucksache 097/11(B) und vom 19. Dezember 2013 in BR-Drucksache 768/13(B) . Die Übertragung von Befugnissen zum Erlass delegierter Rechtsakte sowie von Durchführungsrechtsakten sollte im Rahmen einer interinstitutionellen Vereinbarung von Rat, Europäischem Parlament und Kommission beispielsweise an Hand von Fallgruppen eng nach den Grundsätzen der Verhältnismäßigkeit und Subsidiarität begrenzt und klar auf Regelungsbereiche beschränkt werden, in denen nicht im Rechtsakt selbst zu klärende Fragen unerlässlich durch weitere europaweite Regelungen geklärt werden müssen.
- 8. Der Bundesrat macht ferner darauf aufmerksam, dass das europäische Primärrecht im Zusammenspiel mit der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs mittlerweile in weitem Umfang Durchbrechungen der Vollzugsverantwortung der Mitgliedstaaten zu Gunsten der Kommission und insbesondere zu Gunsten verselbständigter EU-Agenturen ermöglicht, durch die auch die Balance der Verteilung innerstaatlicher Verwaltungskompetenzen in Frage gestellt wird.
- 9. Die im Rahmen der Datenschutzgrundverordnung geführte Debatte um eine Zentralisierung der Datenschutzaufsicht in Europa durch die rechtliche Verselbständigung eines europäischen Datenschutzausschusses zeigt nicht nur exemplarisch, welche grundlegenden Kompetenzverlagerungen sich daraus ergeben können, dass das Unionsrecht für eine Durchbrechung der Verwaltungskompetenz der Mitgliedstaaten bereits das Interesse an einer einheitlichen Verwirklichung des Binnenmarktes genügen lässt. Da nicht nur im Bereich der Digitalisierung grenzüberschreitende Lebens- und Wirtschaftsbeziehungen stetig zunehmen, kann die so eröffnete Verschiebung von Entscheidungskompetenzen auf zentrale europäische Verwaltungsorgane zwar aus Sicht des Binnenmarktes förderlich sein, aber die Wahrnehmung der Freiheiten und Rechte der einzelnen Bürgerinnen und Bürger etwa durch eine Verlagerung des Rechtsschutzes im praktischen Ergebnis erschweren. Es gilt, die Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit zu wahren.
Innere Sicherheit
- 10. Der Bundesrat sieht in der Mitteilung einen weiteren wichtigen Schritt zur Konsolidierung der bisherigen Errungenschaften im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts in Europa und eine geeignete Grundlage für das im Juni 2014 unter griechischer Präsidentschaft zu verabschiedende neue Mehrjahresprogramm.
- 11. Er bedauert, dass die Kommission die in ihrem Aktionsplan zur Umsetzung des Stockholmer Programms angekündigte Entwicklung eines "Polizeikodexes einschließlich der Kodifizierung der wesentlichen Rechtsinstrumente zur Regelung des Informationszugangs" bislang nicht umgesetzt hat und dieses Vorhaben möglicherweise auch nicht weiterverfolgen wird. Angesichts der erheblichen Schwierigkeiten in Anwendung und Auslegung, zu denen die gegenwärtigen Regelungen in der Praxis führen, müssten jedoch Schritte unternommen werden, um bereichsbezogen - beispielsweise für die grenzüberschreitende polizeiliche Zusammenarbeit - eine bessere Rechtsetzung zu erreichen und alte Rechtsakte (wie etwa die wenigen noch gültigen Regelungen des Schengener Durchführungsübereinkommens) mit jüngeren Rechtsakten aus dem Schengen-Besitzstand zusammenzuführen.
- 12. Der Bundesrat hält es für erforderlich, dass das Post-Stockholm-Programm eine weitere Verbesserung des polizeilichen Informationsaustausches anstrebt. Er unterstreicht die zentrale Bedeutung des Informationsaustausches für die Zusammenarbeit der Sicherheitsbehörden für den Ausbau der polizeilichen Zusammenarbeit. Er sieht insbesondere in der Umsetzung eines Konzepts für ein Europäisches Kriminalaktennachweissystem (EPRIS) einen notwendigen Schritt, um bestehende Lücken im polizeilichen Informationsaustausch zwischen den Mitgliedstaaten auszufüllen und diesen nachhaltig zu verbessern.
- 13. Der Bundesrat unterstützt im Wesentlichen die von der Kommission in ihrer Mitteilung skizzierten polizeilichen Schwerpunktthemen. Allerdings sind die Inhalte zu diesen Feldern überwiegend ausgesprochen abstrakt gehalten und entziehen sich deshalb weitgehend einer konkreten Bewertung. Zudem bleibt unklar, welche Elemente aus dem Stockholmer Programm nach Auffassung der Kommission noch der Umsetzung bedürfen.
- 14. Der Bundesrat misst bei der Erarbeitung eines neuen Mehrjahresprogramms folgenden Themenfeldern eine besondere Bedeutung bei:
- - Verbesserung der grenzüberschreitenden polizeilichen Zusammenarbeit, - nachhaltige Bekämpfung von Cyberkriminalität, - Bekämpfung von schwerer und organisierter Kriminalität,
- - Bekämpfung von gewaltbereitem Extremismus und Terrorismus,
- - Verhinderung von Gewalt im Zusammenhang mit Sport- und Großveranstaltungen sowie Versammlungen mit internationaler Dimension,
- - Bekämpfung von Kriminalität durch reisende Tätergruppen und
- - Finanzierung von EMPACT-Projekten aus den EU-Fördermitteln des neuen Fonds für die innere Sicherheit (ISF).
- 15. Er betont, dass auch die Länder die Bestrebungen der Kommission kritisch sehen, Abstimmungen mit den Mitgliedstaaten zunehmend im Rahmen informeller Strukturen durchzuführen. Bei politisch wichtigen strategischen oder legislativen Vorhaben und Initiativen im Bereich der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen ist zudem eine rechtzeitige Einbindung des Koordinierungsausschusses für den Bereich der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen (CATS) durch die Ratspräsidentschaft sicherzustellen. Dies sollte nach Auffassung des Bundesrates gerade bei der Erarbeitung des Post-Stockholm-Programms in verstärktem Maße erfolgen.
- 16. Der Bundesrat begrüßt die Prämisse in der Mitteilung der Kommission, wonach die politische Schwerpunktsetzung im Bereich der EU-Innenpolitik künftig auf einem faktenbasierten Ansatz beruhen muss. Er hat allerdings Bedenken, ob die Kommission diesem hohen Anspruch mit den tatsächlich verfügbaren validen Daten gerecht werden kann. Zudem muss sichergestellt werden, dass die Kommission die Bedarfsträger in den Mitgliedstaaten in ausreichendem Maße konsultiert und einbindet statt autonom und ausschließlich auf Basis statistischer Daten zu agieren.
- 17. Der Bundesrat unterstützt die Zielsetzung der Kommission, im neuen Mehrjahresprogramm auf die Umsetzung bestehender Rechtsakte, die Kon solidierung des bislang Erreichten und die Verbesserung der praktischen Zusammenarbeit abzustellen. Gleiches gilt für die angestrebte Überwachung und Evaluation der Wirksamkeit von Rechtsakten und Strategien, um zielgerichtete Anpassungen vornehmen zu können, sowie für die Fokussierung auf das Prinzip des bürgerorientierten Ansatzes.
- 18. Der Bundesrat begrüßt grundsätzlich das Bemühen der Kommission, den Bildungsauftrag der europäischen Polizeiakademie CEPOL mit Hilfe eines europäischen Weiterbildungsprogramms fortzuschreiben. Es gilt dabei aber stets, das durch Artikel 87 Absatz 2 Buchstabe b AEUV auf die Erbringung von Unterstützungsleistungen limitierte Mandat der EU im Bereich der Aus- und Weiterbildung des Personals der Polizeien der Mitgliedstaaten zu berücksichtigen. In diesem Zusammenhang kommt auch der Wahrung des Subsidiaritätsgrundsatzes besondere Bedeutung zu. Der Bundesrat verweist in diesem Zusammenhang auf seine umfangreiche Stellungnahme vom 3. Mai 2013 (BR-Drucksache 248/13(B) ).
- 19. Auch hinsichtlich des Themenfeldes Cybersicherheit vertritt der Bundesrat die Position, dass es im Post-Stockholm-Prozess weniger neuer europäischer Gesetzgebungsinitiativen bedarf als vielmehr der konsequenten und abgestimmten Umsetzung bestehender Regelungen in nationales Recht und dessen konsequenter Anwendung.
- 20. Der Bundesrat ist der Auffassung, dass wesentliche Aspekte der IT- und Cybersicherheit wegen der besonderen Nähe zu Datenschutz, Sicherheit und kritischen Infrastrukturen auf europäischer Ebene unter Beibehaltung der bestehenden Strukturen und Zuständigkeiten im Rat auch im Bereich Justiz und Inneres behandelt werden sollten.
- 21. Der Schutz der kritischen Infrastrukturen muss daher einen Schwerpunkt der Cybersicherheit darstellen. Dabei ist im Besonderen die Zusammenarbeit zwischen Versorgungswirtschaft und staatlichen Einrichtungen im Bereich der Krisenreaktion angemessen auszugestalten.
Katastrophenschutz
- 22. Auf dem Feld des europäischen Katastrophenschutzes ist eine Phase der Konsolidierung angezeigt. Durch den Beschluss Nr. 1313/2013/EU des Europäischen Parlaments und des Rates über ein Katastrophenschutzverfahren der Union vom 17. Dezember 2013 mit Wirkung vom 1. Januar 2013 hat dieser eine grundlegend neue Rechtsgrundlage erhalten. Diese neuen EU-Regelungen vom 17. Dezember 2013 bedürfen der Evaluierung und kritischer Begleitung. Für neue gesetzgeberische Initiativen ist aus Sicht des Bundesrates kein Raum.
- 23. Im Ergebnis stellen die erzielten europäischen Regelungen zur Bedeutung der Prävention im Katastrophenschutz, der Rolle des "Emergency Response Coordination Centre" (vormals MIC), den Risikomanagementplänen und insbesondere zum so genannten Freiwilligen Pool als europäische Notfallbewältigungskapazität eine solide Grundlage für die Wirksamkeit des neuen Mechanismus dar. Das Augenmerk wird sich hier auf eine sachgerechte Implementierung und Konsolidierung des Regelwerks konzentrieren müssen.
- 24. Bei der Implementierung und Konsolidierung darf es jedoch nicht zu Verschiebungen im Positionsgefüge des europäischen Katastrophenschutzes kommen, die dem grundlegenden Vorrang der nationalen Verantwortung nicht gerecht werden.
- 25. Der Bundesrat bewertet Artikel 12 des Legislativakts, der Möglichkeiten zur Schließung von Lücken bei den Bewältigungskapazitäten vorsieht, als kaum vereinbar mit Artikel 196 AEUV. Der Rechtsakt leidet insbesondere deshalb an Konstruktionsfehlern, weil er durch zahlreiche Möglichkeiten der europäischen Kofinanzierung nicht nur falsche Anreize setzt, sondern letztlich durch die finanzielle Steuerung des Katastrophenschutzes Tendenzen zu einem EU-geführten Katastrophenschutz verstärkt, in welchem die wesentlichen Einsatz- und Finanzierungsentscheidungen von der Kommission getroffen würden. Ähnliche Fehlentwicklungen lassen auch die neuen Rechtsgrundlagen zur Transportfinanzierung besorgen. Die Umsetzungs- und Implementierungsphase dieser Regelungsbereiche bedarf aus deutscher Sicht strikter Aufmerksamkeit, um die aufgezeigten Gewichtsverlagerungen im europäischen Zusammenspiel zu kontrollieren und zu begrenzen.
Gestaltung der künftigen Politik der EU im Bereich Inneres auf dem Gebiet Asyl, Migration, Integration und Rückkehr in der EU
- 26. Der Bundesrat spricht sich für eine Weiterentwicklung der EU zu einem Europa der Verantwortung, der Solidarität und der Partnerschaft auch in Migrations- und Asylfragen aus.
- 27. Der Bundesrat unterstützt die bisherige Zielsetzung der EU, mit dem Gemeinsamen Europäischen Asylsystem (GEAS) einen gemeinsamen Raum für Schutz und Solidarität zu gewährleisten. Er hält es im Sinne einer nachhaltigen Umsetzung des GEAS in allen Mitgliedstaaten für erforderlich, die geltenden Rechtsvorschriften der Union überall gleichermaßen umzusetzen, um die teilweise großen Unterschiede zwischen den Mitgliedstaaten bei der Aufnahme von Schutzsuchenden und hinsichtlich der Verfahrensregelungen konsequent abzubauen.
- 28. Darüber hinaus erfordert auch die nachhaltige Umsetzung des GEAS nach Auffassung des Bundesrates in allen Mitgliedstaaten ein hohes Maß an Solidarität untereinander. Ziel muss es sein, eine gleichmäßige Verteilung der Aufgaben und der damit verbundenen Folgen zu erreichen. Der Bundesrat sieht alle Mitgliedstaaten der EU sowohl gemeinsam als auch nationalstaatlich hinsichtlich der Aufnahme von Flüchtlingen in der Pflicht, im Rahmen ihrer Möglichkeiten Solidarität zu zeigen und Hilfestellung zu leisten.
Nur eine europaweit kohärente und konsequente Umsetzung und Anwendung der verabschiedeten Rechtsinstrumente des GEAS in allen Mitgliedstaaten ermöglicht den erforderlichen Schutz der Rechte der Flüchtlinge und genügt den Vorgaben der Europäischen Grundrechtecharta.
- 29. Bei Verstößen von Mitgliedstaaten gegen die europarechtlichen Standards des GEAS müssen künftig alle Möglichkeiten konsequent ausgeschöpft werden: von einer verbesserten Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten unter Mitwirkung eines finanziell und personell gestärkten Europäischen Unterstützungsbüros für Asylfragen (EASO) bis hin zur Einleitung von Vertragsverletzungsverfahren durch die Kommission.
- 30. Notwendig erscheinen auch größere Anstrengungen und Maßnahmen der Kommission zur Begleitung des Umsetzungs- und Anwendungsprozesses. Um zu einem effektiven GEAS zu kommen, ist die in den jeweiligen Rechtsakten vorgesehene Evaluierung konsequent zu nutzen.
- 31. Zu den Vorstellungen der Kommission, europäische Regelungen zur gegenseitigen Anerkennung der nationalen Asylentscheidungen bzw. einen unionsweit gültigen Asylstatus einzuführen, bekräftigt der Bundesrat seine kritische Haltung (siehe hierzu auch die Stellungnahme des Bundesrates vom 18. September 2009, BR-Drucksache 616/09(B) , Ziffer 69). Die gegenseitige Anerkennung würde voraussetzen, dass in allen Mitgliedstaaten ein einheitlicher Verfahrens- und Schutzstandard auch tatsächlich umgesetzt wird. Insoweit müssen zunächst die weiteren Fortschritte bei der Umsetzung des GEAS abgewartet und umfassend evaluiert werden.
- 32. Bei Maßnahmen der Grenzsicherung sowie bei der Kooperation mit Drittstaaten ist die konsequente Einhaltung menschenrechtlicher und humanitärer Standards zu gewährleisten. Der Bundesrat hält es für unabdingbar, konsequente Maßnahmen zu ergreifen, die das Risiko, dass Menschen auf dem Weg nach Europa ihr Leben verlieren, minimieren. In enger Abstimmung mit den anderen Mitgliedstaaten und der Kommission sollten diesbezüglich zur Verfügung stehende Mittel effizient insbesondere für die Stärkung der Aktivitäten der Europäischen Agentur für die operative Zusammenarbeit an den Außengrenzen (FRONTEX) im Mittelmeer und an den südöstlichen Grenzen der EU genutzt werden. Der Grundsatz der Nichtzurückweisung und die Pflicht zur Seenotrettung müssen umfassend beachtet werden.
- 33. Mit Blick auf den demografischen Wandel und den zunehmenden Fachkräftemangel in der EU sollte in erster Linie die Zielsetzung verfolgt werden, die legalen Zuwanderungsmöglichkeiten zur Arbeitsmigration entsprechend der Bedürfnisse der nationalen Arbeitsmärkte zu fördern. Im Rahmen der externen Dimension der Asylpolitik sollte die Konsolidierung bzw. der Ausbau regionaler Schutzprogramme (Regional Protection Programm -RPP-) und die Umsetzung von Maßnahmen nach dem Gesamtansatz für Migration und Mobilität (Global Approach for Migration and Mobility -GAMM-) besondere Berücksichtigung finden.
- 34. Angesichts der ununterbrochenen Flüchtlingsströme, insbesondere aus Syrien, dessen Anrainerstaaten und Ägypten, bedarf es eines stärkeren Engagements aller Mitgliedstaaten der EU, im Rahmen ihrer Möglichkeiten Solidarität zu zeigen und Hilfestellung zu leisten. Deutschland hat sich durch seine Flüchtlingsaufnahmeprogramme zusätzlich zur Aufnahme eines großen Anteils der irregulär nach Europa einreisenden Asylsuchenden zu dieser Verantwortung bekannt. Neben einer deutlichen Anhebung der Fördermöglichkeiten nationaler Maßnahmen über den Asyl-, Migrations- und Integrationsfonds (AMIF) sollte die EU eine stärkere gesamteuropäische Koordinierung der nationalen Aufnahmen von Schutzbedürftigen anstreben.
- 35. Mit dem aktuellen Kommissionsvorschlag, eine Asylantragstellung aus dem Ausland zu ermöglichen, sind komplexe Fragen aufgeworfen, die einer vertieften Beratung bedürfen.
- 36. Soweit Personen kein Aufenthaltsrecht in den Mitgliedstaaten zusteht, ist die Rückkehr in die Heimatstaaten zu betreiben, wobei der freiwilligen Rückkehr der Vorzug zu geben ist. Durch unionsweite Zusammenarbeit sollten auch die Herkunftsländer zu einer besseren Zusammenarbeit veranlasst werden. Die bisherigen Rückkehrabkommen der EU sind dazu eine gute Grundlage, die weiter ausgebaut werden sollte. Insoweit ist der Vorschlag, neue Vereinbarungen mit wichtigen anderen Herkunftsstaaten zu suchen, zu begrüßen. Mittel aus dem Fonds AMIF bieten auch für Projekte der Wieder- und Neuansiedlung über die Länder- und Mitgliedstaatengrenzen hinweg Raum.
- 37. Gegenüber den Regierungen der Westbalkanstaaten Bosnien und Herzegowina, Mazedonien und Serbien sollte die Kommission sich dafür einsetzen, rasche und nachhaltige Schritte zur Verbesserung der Lebenssituation vor Ort zu ergreifen.
Direktzuleitung der Stellungnahme an die Kommission
- 38. Der Bundesrat übermittelt diese Stellungnahme direkt an die Kommission.