Unterrichtung durch die Bundesregierung
Stellungnahme der Bundesregierung zu der Entschließung des Bundesrates "Es ist normal, verschieden zu sein"

Bundesministerium für Arbeit und Soziales Berlin, 12. Februar 2020

Parlamentarische Staatssekretärin

An den Präsidenten des Bundesrates
Herrn Ministerpräsidenten
Dr. Dietmar Woidke

Sehr geehrter Herr Bundesratspräsident,
anbei übersende ich die erbetene Stellungnahme der Bundesregierung zur Entschließung des Bundesrates "Es ist normal, verschieden zu sein" vom 23. November 2018 (BR-Drs. 495/18(B) HTML PDF ).

Mit ausgezeichneter Hochachtung
Kerstin Griese

Siehe Drucksache 495/18(B) HTML PDF

Anlage
Stellungnahme der Bundesregierung zur Entschließung des Bundesrates "Es ist normal, verschieden zu sein" vom 23. November 2018 (BR-Drs. 495/18 (PDF) Beschluss)

Der Bundesrat fordert die Bundesregierung mit dem Entschließungsantrag "Es ist normal, verschieden zu sein" (BR-Drucksache 495/18(B) HTML PDF ) auf, ein Forschungsgutachten in Auftrag zu geben, das sich mit Verbreitung, Ursachen und Wirkungen der von Menschen mit Behinderung wahrgenommenen Stigmatisierung und den einstellungsbedingten Barrieren in der Gesellschaft auseinandersetzen soll.

Das Gutachten soll dabei vor allem folgende Punkte in den Blick nehmen:

Die Bundesregierung hat sich mit dem Anliegen des Bundesrates eingehend auseinandergesetzt und ist zu folgenden Ergebnissen gekommen:

Zu Punkt 1 des Entschließungsantrages:

Es gab im Laufe der letzten Jahre vereinzelt immer wieder Kritik an der Bezeichnung "Schwerbehindertenausweis". Die letzte größere Diskussion gab es 2012, als der neue Schwerbehindertenausweis in Form der Plastikkarte eingeführt wurde. Es bestand damals ein breiter Konsens unter allen Beteiligten, die Bezeichnung des Ausweises unverändert zu lassen. Im Prozess zur Erarbeitung des Bundesteilhabegesetzes (BTHG) wurde die Bezeichnung des Schwerbehindertenausweises von keiner Seite mehr thematisiert, obwohl das BTHG auch Änderungen der Schwerbehinderten-Ausweisverordnung enthält, die man zum Anlass für eine erneute Diskussion über die Bezeichnung des Ausweises hätte nehmen können.

Nach wie vor gilt, dass für eine Umbenennung des Schwerbehindertenausweises ein breiter Konsens zwischen Bund, Ländern und insbesondere den Verbänden der Menschen mit Behinderung bestehen muss, eine konkrete andere Bezeichnung zu bevorzugen. Eine erneute Diskussion darüber anzustoßen, steht derzeit aber in der Politik der Bundesregierung nicht im Vordergrund. Den Ländern steht es jedoch frei, zusätzlich besondere Ausweishüllen auszugeben.

Zu Punkt 2 des Entschließungsantrages:

Hierzu wurden der Verband Deutscher Verkehrsunternehmen (VDV) und die Länder um Stellungnahme gebeten. Der VDV könnte sich vorstellen, dass sich die Freifahrtberechtigten einen Fahrschein beim Verkehrsunternehmen kaufen und sich die Kosten dann von der zuständigen Behörde erstatten lassen. Als Nachteil führt der VDV an, dass der Anspruch auf Mitnahme einer Begleitperson oder eines Begleithundes mit diesem Fahrschein nicht nachgewiesen werden könne. Außerdem würde durch einen auf das Verbundgebiet beschränkten Fahrausweis der Umfang der Freifahrtberechtigung im Vergleich zu heute deutlich reduziert.

Eine Reduzierung des Umfangs der Freifahrtberechtigung wird von den Ländern klar abgelehnt. Ein Erstattungsverfahren wie vom VDV vorgeschlagen wird von den Ländern als nicht zielführend angesehen. Sowohl für die anspruchsberechtigten Personen als auch für die Erstattungsbehörden wäre ein solches Verfahren zu kostenaufwendig. Darüber hinaus bestehen von Seiten der Länder Zweifel, inwieweit der Vorschlag in das im Übrigen bestehende Erstattungssystem anhand eines Prozentsatzes eingebunden werden könnte. Mögliche Alternativen zur Vorzeigepflicht des Schwerbehindertenausweises bei der Inanspruchnahme der unentgeltlichen Beförderung dürfen aus Sicht der Länder für den anspruchsberechtigten Personenkreis zu keiner Verschlechterung führen, aber auch keinen relevanten finanziellen oder administrativen Mehraufwand für die Erstattungsbehörden begründen.

Nach reiflicher Überlegung ist daher das Vorzeigen des Schwerbehindertenausweises die beste Möglichkeit, eine bundesweite Fahrberechtigung nachzuweisen. Der Ausweis ist beim Kontrollpersonal bekannt. Das Verfahren hat sich eingespielt. Mehrheitsfähige Alternativen, die man in einem Gutachten untersuchen lassen könnte, sind nicht eingebracht worden.

Zu den Punkten 3 und 4 des Entschließungsantrages:

Zu diesen Punkten wurden bereits Forschungsvorhaben in Auftrag gegeben. Hier ist insbesondere die empirische Studie "Repräsentativbefragung zur Teilhabe von Menschen mit Behinderungen" zu nennen, die die Auswirkungen von Beeinträchtigungen und Behinderungen auf Möglichkeiten der Teilhabe in verschiedenen Lebensbereichen untersucht.

Ein Aspekt der Steigerung der Wertschätzung ist die Entstigmatisierung des Begriffs "behindert". Menschen mit Behinderungen sind nach dem Gesetz zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen (Behindertengleichstellungsgesetz - BGG) "Menschen, die langfristige körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, welche sie in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren an der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern können." Diese Beschreibung greift die Formulierung aus Artikel 1 Absatz 2 UN-BRK in Verbindung mit der Präambel der UN-BRK auf. Dort wird auch darauf hingewiesen, dass das Verständnis von Behinderung sich fortlaufend verändert. Über lange Zeit waren damit Funktionsstörungen einer Person gemeint, und Beeinträchtigungen wurden vor allem als individuelles Problem verstanden. In der aktuellen Beschreibung werden die Beeinträchtigungen einer Person dagegen in einen Zusammenhang mit ihrer sozialen und räumlichen Umgebung gestellt. Durch das BTHG hat dieser Behinderungsbegriff auch Eingang in das Neunte Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) gefunden.

Durch diese Änderung der Begrifflichkeit wurden bereits Schritte zur Steigerung der Wertschätzung initiiert. Die Definition der UN-BRK, dass nicht der Mensch behindert ist, sondern die Umwelt bzw. das Umfeld so ist, dass der Mensch behindert wird, ist ein weiterer Aspekt, der den Fokus weg vom einzelnen Menschen schiebt.

Das vorgeschlagene interdisziplinäre Gutachten, das subjektive Diskriminierungserfahrungen untersuchen soll, würde Erkenntnislücken über gesellschaftliche Gruppen mit hohem Diskriminierungsrisiko nur im Rahmen von repräsentativen, mit sozialwissenschaftlichen Methoden durchgeführten statistischen Erhebungen schließen. Für die Gruppe der Menschen mit Behinderungen läuft aber bereits die große Teilhabebefragung im Auftrag des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales. Mit dem Gesamtergebnis ist 2021 zu rechnen. Zuvor geben regelmäßige Zwischenberichte Auskunft über den Stand der Befragung. Sofern möglich sollen erste Ergebnisse bereits in den dritten Teilhabebericht der Bundesregierung über die Lebenslagen von Menschen mit Behinderungen einfließen (geplant für Ende 2020).

Vor diesem Hintergrund steht die Vergabe weiterer Gutachten für die Bundesregierung nicht im Vordergrund.