Antrag des Freistaates Bayern
Entschließung des Bundesrates "Freies Gesicht im rechtsstaatlichen Gerichtsverfahren"

Der Bayerische Ministerpräsident München, 21. Juni 2016

An den Präsidenten des Bundesrates
Herrn Ministerpräsidenten
Stanislaw Tillich

Sehr geehrter Herr Präsident,
gemäß dem Beschluss der Bayerischen Staatsregierung übermittle ich die als Anlage beigefügte Entschließung des Bundesrates "Freies Gesicht im rechtsstaatlichen Gerichtsverfahren" mit dem Antrag, dass der Bundesrat diese fassen möge.

Ich bitte, den Entschließungsantrag unter Wahrung der Rechte aus § 23 Absatz 3 in Verbindung mit § 15 Absatz 1 der Geschäftsordnung des Bundesrates gemäß § 36 Absatz 2 GOBR auf die Tagesordnung der 947. Sitzung am 8. Juli 2016 zu setzen und anschließend den Ausschüssen zur Beratung zuzuweisen.

Mit freundlichen Grüßen
Horst Seehofer

Entschließung des Bundesrates "Freies Gesicht im rechtsstaatlichen Gerichtsverfahren"

Die Bundesregierung wird aufgefordert, zur Gewährleistung der Identitätsfeststellung und der Wahrheitserforschung gesetzlich zu regeln, dass Verfahrensbeteiligte in Gerichtsverhandlungen ihr Gesicht weder ganz noch teilweise verdecken dürfen.

Begründung:

Weder das Gerichtsverfassungsgesetz noch die einzelnen Verfahrensordnungen sehen bislang spezifische Regelungen vor, ob Verfahrensbeteiligte ihr Gesicht in Gerichtsverhandlungen verdecken dürfen und wie in entsprechenden Fällen zu verfahren ist. Das geltende Recht ermöglicht den Gerichten zwar, die Abnahme verdeckender Elemente im Einzelfall nach pflichtgemäßem Ermessen anzuordnen oder aber davon Abstand zu nehmen. Im Interesse der Rechtssicherheit und Rechtsklarheit sollte bei Betroffenen wie Gerichten hierüber jedoch schon aufgrund des Gesetzeswortlautes Gewissheit herrschen - nicht zuletzt, um zeitraubende Auseinandersetzungen zu vermeiden und eine effiziente Verfahrensführung zu ermöglichen.

Das in Artikel 20 Absatz 3 Grundgesetz verankerte Rechtsstaatsprinzip gebietet den Gerichten, den wahren Sachverhalt bestmöglich aufzuklären. Das Gericht muss sich über die Identität von Verfahrensbeteiligten Gewissheit verschaffen und alle - auch aussagepsychologischen - Erkenntnisquellen einschließlich Mimik ausschöpfen, um materielle Gerechtigkeit zu schaffen und Fehlentscheidungen zu vermeiden. Eine offene, auch nonverbale Kommunikation zählt darüber hinaus zu den unverzichtbaren Elementen einer effektiven Verhandlungsführung. Ein ganz oder teilweise verdecktes Gesicht steht einer solchen entgegen und darf daher in aller Regel vor Gericht nicht hingenommen werden.

Ein etwaiger Eingriff in die von Artikel 4 des Grundgesetzes geschützte Religionsfreiheit wäre jedenfalls durch die verfassungsimmanente Schranke des Rechtsstaatsprinzips gerechtfertigt. Für den Rechtsstaat ist die Wahrheitserforschung vor Gericht gleichermaßen zentrale Aufgabe wie Verpflichtung. Der demokratisch legitimierte Gesetzgeber sollte der gerichtlichen Praxis eine klarstellende Regelung an die Hand geben, um dieses normative Spannungsverhältnis im Einzelfall zu lösen.