Unterrichtung durch das Europäische Parlament
Entschließung des Europäischen Parlaments vom 8. Juli 2008 zu den Umweltauswirkungen der geplanten Ostsee-Pipeline zwischen Russland und Deutschland (Petitionen 0614/2007 und 0952/2007) (2007/2118(INI))

Zugeleitet mit Schreiben des Generalsekretärs des Europäischen Parlaments - 115580 - vom 5. August 2008.

Das Europäische Parlament hat die Entschließung in der Sitzung am 8. Juli 2008 angenommen.

Das Europäische Parlament,

A. in der Erwägung, dass acht Mitgliedstaaten der Europäischen Union Ostseeanrainerstaaten sind und sich 80 % der Ostseeküste in der Europäischen Union befinden; in der Erwägung, dass die OAO Gazprom der größte Anteilseigner von Nord Stream ist,

B. in der Erwägung, dass der Erhalt der Umwelt im Ostseeraum eines der grundlegenden Ziele der Nördlichen Dimension der Europäischen Union, was bereits mehrfach in den Mitteilungen der Kommission und den Entschließungen des Parlaments bekräftigt wurde,

C. in der Erwägung, dass die Landwirtschaft und die Industrie sämtlicher benachbarter Mitgliedstaaten und Russlands die Ostsee am stärksten verschmutzen und für deren ökologisches Gleichgewicht die größten Probleme aufwerfen,

D. in der Erwägung, dass sich die Europäische Union dem Umweltschutz, unter anderem. dem Schutz der Meeresumwelt, besonders verpflichtet fühlt,

E. in der Erwägung, dass die Kommission vor dem Gerichtshof mehrfach bekräftigt hat, dass der Umweltschutz ein grundlegendes Ziel der Europäischen Union ist, und der Gerichtshof die Zuständigkeit der Gemeinschaft für den Schutz und den Erhalt der Meeresumwelt bestätigt hat,

F. in der Erwägung, dass es derzeit Pläne für den Bau zahlreicher Infrastrukturprojekte in der Ostsee gibt ( Nord Stream, Windparks, Scanled Baltic Pipe, eine Gaspipeline zwischen Finnland und Estland, Stromleitungen zwischen Schweden und Litauen, Flüssiggas-(LNG)-Terminals in Œwinoujscie/Swinemünde usw.),

G. in der Erwägung, dass Europa eine Möglichkeit finden muss, auf die lebenswichtige Frage der Sicherheit der Energieversorgung zu reagieren,

H. in der Erwägung, dass der wachsende Beitrag von Erdgas zur Energiebilanz in Europa - insbesondere seit 1990 - die wichtigste Einzelquelle für die Reduzierung der Kohlendioxidemissionen (CO₂) ist,

I. in der Erwägung, dass gemäß dem in Artikel 174 Absatz 2 des EG-Vertrags verankerten Vorsorgeprinzip alle Akteure verpflichtet sind, die Maßnahmen einzuleiten, die erforderlich sind, um die möglichen Auswirkungen von neuen Entscheidungen oder einer Aufnahme von bestimmten Tätigkeiten auf die Umwelt abzuschätzen, sowie die geeigneten Präventionsmaßnahmen einzuleiten, wenn eine begründete Wahrscheinlichkeit gegeben ist, dass Gefahren für die Umwelt eintreten werden,

J. in der Erwägung, dass gemäß dem Grundsatz, dass die Erfordernisse des Umweltschutzes in die sektorenspezifischen Politiken integriert werden müssen, der Umweltschutz bei der Umsetzung sämtlicher Maßnahmen und Ziele der Gemeinschaft berücksichtigt werden muss,

K. in der Erwägung, dass in Artikel 194 des künftigen Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union, wie er durch den Vertrag von Lissabon eingefügt wird, eindeutig darauf hingewiesen wird, dass die Energiepolitik der Union im Geiste der Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten und unter Berücksichtigung der Notwendigkeit der Erhaltung und Verbesserung der Umwelt umgesetzt werden muss,

L. in der Erwägung, dass die Internationale Meeresorganisation auf die besondere ökologische Anfälligkeit der Ostsee hingewiesen und die Ostsee als "besonders sensiblen Meeresbereich" eingestuft hat,

M. in der Erwägung, dass die Ostsee gegenwärtig zu den weltweit am stärksten verschmutzten Meeren zählt, und in der Erwägung, dass insbesondere die Konzentration von gefährlichen Stoffen im Wasser der Ostsee und in den darin vorkommenden Lebewesen nach wie vor ungewöhnlich hoch ist,

N. in der Erwägung, dass es sich bei der Ostsee um ein typisches Binnen- und Flachmeer handelt und ihr Wasseraustausch mit den Weltmeeren gemeinsam mit dem Schwarzen Meer am geringsten ist und für einen Austausch rund 30 Jahre erforderlich sind,

O. in der Erwägung, dass die Lebensdauer der Gastransportpipeline auf 50 Jahre veranschlagt wird und dass die Arbeiten für die Stilllegung des Pipelinesystems ähnlich umfangreich wie die für den Bau der geplanten Anlage sein werden; in der Erwägung, dass dieser Aspekt gegen die Zeit abgewogen werden sollte, die es braucht, bis der ursprüngliche Zustand von Flora und Fauna wieder vollständig hergestellt sein wird, bedenkt man die ökologischen und wirtschaftlichen Auswirkungen des Vorhabens,

P. in der Erwägung, dass der Kontakt mit Schwermetallen, Giftstoffen und anderen Schadstoffen Gesundheitsrisiken und Auswirkungen auf die Nahrungskette mit sich bringt, die geprüft werden müssen,

Q. in Erwägung einer Reihe von Faktoren wie der langen Verweildauer des Wassers, der Schichtung der Wassersäule, der ausgedehnten industriell genutzten Gebiete im Bereich der Flussmündungen und der erheblichen Intensivierung der Landwirtschaft im Ostseeraum, die für eine besondere Anfälligkeit der Ostsee für Umweltbedrohungen verantwortlich sind,

R. in der Erwägung, dass die Durchführung von Arbeiten unter den besonderen Bedingungen der Ostsee das Wachstum von Algen erheblich begünstigen könnte, was insbesondere Gefahren für Finnland, Schweden und Deutschland sowie die Ostseeanrainerstaaten schaffen könnte,

S. in der Erwägung, dass ein zusätzliches Umweltrisiko von etwa 80 000 Tonnen Kampfmunition ausgeht, die nach dem Zweiten Weltkrieg in der Ostsee versenkt wurden und Giftstoffe wie Schwefellost (Senfgas), Stickstofflost, Lewisit, Clark I, Clark II und Adamsit enthalten, die sowohl eine Bedrohung für die natürliche Umwelt der Ostsee als auch für die Gesundheit und das Leben der Menschen darstellen,

T. in der Erwägung, dass eine Reihe von Staaten von 1945 bis zum Ende der 60er Jahre weiter Behältnisse mit Kampfmunition in der Ostsee versenkt hat,

U. in besonderer Erwägung des kritischen Zustandes dieser Munitionsbehältnisse, bei denen davon auszugehen ist, dass ihr Durchrostungsgrad bei 80 % liegt, sowie der Tatsache, dass nicht immer genau festgestellt werden kann, an welchen Stellen sich die Munition befindet,

V. in der Erwägung, dass der am 15. November 2007 in Krakau verabschiedete Ostsee-Aktionsplan die Ostseeanrainerstaaten verpflichtet, alte Chemikalienbestände und Gerätschaften, die gefährliche Stoffe enthalten, sicher zu lagern,

W. unter Berücksichtigung des möglichen Einflusses der Erdgasleitung auf die Umwelt der Ostsee und die Anrainerstaaten,

X. in Erwägung des zunehmenden Verkehrs von Seeleuten und Öltankern in der Ostsee und der potenziellen Brandgefahr sowie der Gefahr des Auftriebsverlustes und des Sinkens von Schiffen infolge einer möglichen Beschädigung der Pipeline während ihres Baus, ihrer Installation und ihres Betriebs sowie der potenziellen Auswirkungen auf Menschen, Wirtschaft und Umwelt,

Y. in der Erwägung, dass Nord Stream einen auf dem Grund der Ostsee verlaufenden Korridor von etwa 1200 km Länge und einer Breite von etwa 2 km plant, also auf einer Fläche von 2400 km2, Baumaßnahmen vorgenommen werden würden und damit die weltweit größte Baustelle unter der Wasseroberfläche entstünde,

Z. in der Erwägung, dass Fischerei, Tourismus und Schifffahrt durch den Bau, die Installation und den Betrieb des Projekts beeinträchtigt werden könnten, was höchstwahrscheinlich negative Auswirkungen auf die Wirtschaft der Küstenregionen haben wird,

AA. in der Erwägung, dass Artikel 123 des UNCLOS, das integraler Bestandteil des acquis communautaire ist, die Anrainerstaaten eines halbumschlossenen Meeres verpflichtet, die Ausübung ihrer Rechte und die Erfüllung ihrer Pflichten hinsichtlich des Schutzes und der Bewahrung der Meeresumwelt zu koordinieren,

AB. in der Erwägung, dass die Vertragsparteien gemäß Artikel 2 Absatz 1 des Espoo-Übereinkommens verpflichtet sind, einzeln oder gemeinsam alle geeigneten wirksamen Maßnahmen zur Verhütung, Verringerung und Bekämpfung erheblicher nachteiliger grenzüberschreitender Auswirkungen der geplanten Tätigkeiten auf die Umwelt zu ergreifen,

AC. in der Erwägung, dass gemäß Artikel 5 Buchstabe a des Espoo-Übereinkommens im Rahmen der Konsultationen mit den von den grenzüberschreitenden nachteiligen Auswirkungen betroffenen Parteien mögliche Alternativen zu dem geplanten Projekt, einschließlich seiner Unterlassung, behandelt werden müssen,

AD. in der Erwägung, dass die Vertragsparteien gemäß Artikel 12 des Helsinki-Übereinkommens verpflichtet sind, sämtliche erforderlichen Schritte einzuleiten, um eine Verschmutzung der Ostsee zu verhindern, die aus Untersuchungen oder der Nutzung des Meeresbodens bzw. damit im Zusammenhang stehenden Maßnahmen resultiert,

AE. in der Erwägung, dass die geplante Nordeuropäische Gasleitung durch Gebiete führen würde, die in das Programm Natura 2000 aufgenommen und gemäß der Richtlinie 92/43/EWG als besondere Schutzgebiete ausgewiesen wurden,

AF. in der Erwägung, dass die Mitgliedstaaten gemäß Artikel 6 Absatz 2 der Richtlinie 92/43/EWG geeignete Maßnahmen treffen müssen, um in den besonderen Schutzgebieten die Verschlechterung der natürlichen Lebensräume und der Habitate der Arten zu vermeiden,

AG. in der Erwägung, dass gemäß Artikel 6 Absatz 3 der Richtlinie 92/43/EWG Pläne oder Projekte, die nicht unmittelbar mit der Verwaltung des Gebietes in Verbindung stehen oder hierfür nicht notwendig sind, die ein solches Gebiet jedoch erheblich beeinträchtigen könnten, eine entsprechende Prüfung auf Verträglichkeit mit den für dieses Gebiet festgelegten Erhaltungszielen durch die Mitgliedstaaten erfordern,

AH. in der Erwägung, dass gemäß Artikel 6 Absatz 3 der Richtlinie 92/43/EWG die zuständigen einzelstaatlichen Behörden dem Plan bzw. Projekt unter Berücksichtigung dieser Verträglichkeitsprüfung nur zustimmen, wenn sie festgestellt haben, dass das Gebiet als solches nicht beeinträchtigt wird, und nachdem sie gegebenenfalls die Öffentlichkeit angehört haben,

AI. in der Erwägung, dass es sich bei der geplanten Gaspipeline um die weltweit längste aus zwei Leitungstrassen bestehende Gasleitung handelt, die gleichzeitig jedoch den geringsten Abstand zur Wasseroberfläche aufweist, wodurch sie besonders anfällig für mögliche Beschädigungen wäre,

AJ. in der Erwägung, dass die Nordeuropäische Gasleitung gemäß der Entscheidung Nr. 1364/2006/EG auf der Liste der Prioritäten steht, die im Interesse Europas liegen,

AK. in der Erwägung, dass alle umfangreichen technischen Konstruktionen auf dem Meeresgrund mit gewissen Risiken verbunden sind und deshalb einer besonders eingehenden und umfassenden Analyse und Umweltverträglichkeitsprüfung unterzogen werden müssen, wie sie von dem Espoo-Übereinkommen, der HELCOM-Konvention und allen anderen einschlägigen europäischen und nationalen Rechtsvorschriften vorgeschrieben ist,

AL. in der Erwägung, dass gemäß dem Espoo-Übereinkommen bei allen Investitionen dieser Tragweite im Vorfeld untersucht werden muss, welche alternativen Möglichkeiten bestehen, was für diesen konkreten Fall heißt, ob ein Trassenverlauf über Land möglich wäre, wobei insbesondere die Kosten für die Umsetzung und Umweltschutzaspekte berücksichtigt werden müssen,

AM. in der Erwägung, dass Teile der geplanten Gasleitung bereits nach Kotka in Finnland transportiert worden sind, um dort bearbeitet zu werden,

AN. in der Erwägung, dass nach Artikel 1 des Arhus-Übereinkommens jede Vertragspartei in Umweltangelegenheiten das Recht auf Zugang zu Informationen, auf Öffentlichkeitsbeteiligung an Entscheidungsverfahren und auf Zugang zu Gerichten gewährleisten muss,

AO. in der Erwägung der geltenden Rechtsvorschriften für die Durchführung einer gründlichen Umweltverträglichkeitsprüfung, in deren Rahmen alle genannten Bedrohungen berücksichtigt werden,

AP. in der Erwägung, dass ferner terroristische Bedrohungen und eventuelle Möglichkeiten zu deren wirksamer Bekämpfung in Betracht gezogen werden müssen,