Antrag des Landes Nordrhein-Westfalen
Gesetz zu sozialen Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie (Sozialschutz-Paket II)

Punkt 70 der 989. Sitzung des Bundesrates am 15. Mai 2020 Der Bundesrat möge beschließen:

Die Länder sind sich bewusst, dass auch im Bereich der Rechtspflege Maßnahmen für einen wirksamen Infektionsschutz essentiell sind, um die Funktionsfähigkeit der Rechtspflege zu gewährleisten und den Justizgewährungsanspruch der Bürgerinnen und Bürger sicherzustellen.

Durch ihren engagierten Einsatz haben sowohl die Bediensteten der Justizbehörden der Länder als auch die Vertreter der rechtsberatenden und rechtsversorgenden Berufe in den vergangenen Wochen mit der Rechtspflege und Rechtsprechung unter schwierigsten Bedingungen einen der Grundpfeiler unseres Rechtsstaates aufrechterhalten.

Der Bundesrat begrüßt die Absicht des Deutschen Bundestages, die Funktionsfähigkeit der Rechtspflege und Rechtsprechung in Krisenzeiten mit speziell für Krisensituationen konzipierten, zeitlich befristeten Regelungen besonders zu unterstützen. Dennoch geben die mit der Vorlage einer fachlich fundierten Beratung durch den Bundesrat entzogenen Änderungen des Arbeitsgerichtsgesetzes und des Sozialgerichtsgesetzes Anlass zu folgenden Feststellungen:

1. Der Bundesrat sieht kritisch, dass mit den Artikeln 2 bis 5 allein für die Arbeitsund Sozialgerichtsbarkeit Sonderregelungen zur pandemiebedingten Verfahrensvereinfachung geschaffen werden sollen.

Aufgrund der Ausbreitung des Coronavirus ist in allen Gerichtsbarkeiten ein deutlicher Anstieg von Terminsaufhebungen und -verlegungen zu verzeichnen, die einen gewissen Verfahrensstau befürchten lassen. Auch wird als Folge der Krise mit einem Anstieg der Eingangszahlen in anderen Bereichen wie beispielsweise den Zivilsachen, in Strafverfahren und bei den Verwaltungs- und den Insolvenzgerichten zu rechnen sein.

Daher wäre es geboten, vor dem Schaffen von Insellösungen ein tragfähiges Gesamtkonzept für alle Gerichtsbarkeiten abzustimmen. Die gespaltene Zuständigkeit in der Bundesregierung darf nicht zu einer Inkonsistenz verfahrensrechtlicher Regelungen im deutschen Justizwesen führen.

2. Die Ausweitung der Möglichkeiten für Bundessozialgericht und Bundesarbeitsgericht, auch gegen den erklärten Willen der Verfahrensbeteiligten im schriftlichen Verfahren entscheiden zu können, begegnet grundlegenden Bedenken. Gerade bei Bundesgerichten, die rechtliche Grundsatzfragen von erheblicher Tragweite für die gesamte Gesellschaft entscheiden, kommt einer transparenten öffentlichen Verhandlung eine besondere Bedeutung zu.

3. Der Bundesrat bekennt sich dazu, die Nutzung der Videokonferenztechnik in Gerichtsverfahren unter Wahrung der geltenden rechtsstaatlichen Grundsätze zu fördern. Sie kann dazu beitragen, Gerichtsverhandlungen zu beschleunigen und effektiver zu gestalten, weite Anreisen von Verfahrensbeteiligten zu vermeiden und im Bedarfsfall kontaktreduziert zu ermöglichen.

Er stellt bezüglich der gegenständlichen Vorlage aber ausdrücklich klar, dass aus den beabsichtigten Regelungen zur Stärkung und Ausweitung der Video-Verhandlung und -Vernehmung kein Ausstattungsanspruch der Richterinnen und Richter oder Verfahrensbeteiligten abzuleiten sein darf. Vielmehr muss es auch weiterhin den Ländern obliegen, in pflichtgemäßem Ermessen unter Berücksichtigung ihrer technischen und finanziellen Möglichkeiten zu entscheiden, ob und wie die Regelungen in den Arbeits- und Sozialgerichten ausstattungsmäßig umgesetzt werden.

4. Vorsorglich stellt der Bundesrat weiterhin klar, dass eine Umsetzung des mit den neuen Regelungen im Arbeits- und Sozialgerichtsgesetz verfolgten (Soll-)Regelfalls, Verhandlungen und Vernehmungen im Wege der Bild- und Tonübertragung durchzuführen, bis zum avisierten Außerkrafttreten der Reglungen in den meisten der Länder in weiten Teilen praktisch, technisch und finanziell nicht möglich sein wird. Anders als die Gesetzesbegründung annimmt, ist die für Videokonferenzen notwendige Ausstattung bisher nicht flächendeckend an allen Gerichten verfügbar und kann und darf auch nicht durch privat angeschaffte oder anzuschaffende Hard- und Software ersetzt werden. Dies gilt umso mehr im Hinblick auf die ehrenamtlichen Richterinnen und Richter.

Begründung:

Das Grundanliegen der Artikel 2 bis 5 der Vorlage, die Verfahrensordnungen der Arbeits- und Sozialgerichtsbarkeit krisenfest zu gestalten, ist grundsätzlich zu begrüßen. Die geplanten Regelungen sind insoweit indes nicht frei von Bedenken.

Durch die Art der Einbringung der Vorlage in den Bundesrat wird es den Ländern aber genommen, diese fachlich zu diskutieren und punktuell notwendige Änderungen zu empfehlen. Weil der Gesetzentwurf an anderen Stellen zahlreiche Änderungsvorschläge zur sozialen Sicherung der Bürgerinnen und Bürger enthält, die mit der Anrufung des Vermittlungsausschusses nicht verzögert werden dürfen, sollten die Bedenken wenigstens im Wege einer Entschließung verlautbart werden.

Zu Nummer 1

Es ist schwer nachvollziehbar, warum gerade für die Arbeits- und Sozialgerichtsbarkeit, in der eine Disparität der Parteien besonders häufig anzutreffen sein wird, eine Insellösung für Videoverhandlungen und -vernehmungen und schriftliche Verfahren geschaffen werden sollte. Nur ein auf alle Gerichtsbarkeiten abgestimmtes Vorgehen wäre hier zielführend gewesen. Die offenbar erwartete Welle an Kündigungen und damit auch an Kündigungsschutzklagen und ein aus steigenden Arbeitslosenzahlen resultierender Anstieg sozialgerichtlicher Verfahren dürfte in der Folge auch die Zahl der zivilrechtlichen Streitigkeiten künftig steigen lassen, wenn beispielsweise Forderungen aus Dauerschuldverhältnissen nicht beglichen und eingeklagt werden. Gleichfalls ist ein Anstieg der Strafverfahren und insolvenzgerichtlichen Streitigkeiten zu befürchten. Da auf absehbare Zeit damit zu rechnen ist, dass auch weiterhin auf das Infektionsschutzgesetz oder sonstiges Gefahrenabwehrrecht gestützte Maßnahmen ergehen werden, ist auch von einem Anstieg der Verfahren bei den Verwaltungsgerichten auszugehen.

Schließlich erscheint die Stärkung der Möglichkeiten, Verhandlungen unter Zuhilfenahme der Video-Technik führen zu können, nur bedingt geeignet, der erwarteten Klagewelle zu begegnen, weil auch für diese die rechtsstaatlichen Verfahrensmaximen Geltung beanspruchen.

Zu Nummer 2

Die gegen den erklärten Willen der Parteien mögliche Beschränkung des Mündlichkeitsgrundsatzes an den betroffenen Bundesgerichten wird besonders kritisch gesehen. Der Mündlichkeitsgrundsatz steht als Bestandteil eines fairen Verfahrens im engen Zusammenhang mit der Garantie der öffentlichen Verhandlung (§ 169 Abs. 1 Satz 1 GVG, Artikel 6 Abs. 1 EMRK), denn die Öffentlichkeit der Verhandlung - und die Kontrolle der Rechtsprechung durch die Öffentlichkeit - ist nur bei mündlicher Verhandlung denkbar. Auch findet der Mündlichkeitsgrundsatz seine Ergänzung im Grundsatz der Unmittelbarkeit, der Erörterung des Prozessstoffes vor dem erkennenden Gericht. Diese Verfahrensgrundsätze gerade an den Bundesgerichten einzuschränken, welche die Leitlinien für die bundesweite Rechtsprechung setzen, erscheint überaus unglücklich. Vorzugswürdig wäre hier gewesen, für alle Instanzen und in Frage kommenden Verfahrensordnungen eine leichte Modifizierung der bisher geltenden Standards vorzunehmen, wonach ein schriftliches Verfahren nach Anhörung der Parteien angeordnet werden kann, wenn keine der Parteien widerspricht.

Zu Nummer 3

Die Formulierung von § 114 Absatz 3 ArbGG-E und § 211 Absatz 3 SGG-E als Soll-Vorschrift engt das Ermessen der Richterinnen und Richter bei der Anordnung deutlich ein und wird sich in vielen Fallgestaltungen zu einem Anspruch der dies fordernden Verfahrensbeteiligten auf Anordnung der audiovisuellen Verhandlungsführung oder Vernehmung verdichten. Dies begründet die Gefahr, dass sich auch das Ermessen der Landesjustizverwaltungen bei der Entscheidung über die Reichweite der Ausstattung der Richterinnen und Richter mit entsprechender Technik zur Durchführung von Video-Verhandlungen weiter einengt.

Um etwaigen Amtshaftungsansprüchen und dienstrechtlichen Beanstandungen vorzubeugen, ist in Fortschreibung des gesetzgeberischen Willens bei der letzten Änderung des § 128a ZPO und seiner Entsprechungsvorschriften durch das Gesetz zur Intensivierung des Einsatzes von Videokonferenztechnik in gerichtlichen und staatsanwaltschaftlichen Verfahren klarzustellen, dass aus der vorliegenden programmatischen Änderung kein weitergehender Ausstattungsanspruch abzuleiten ist.

Der damalige Gesetzentwurf des Bundesrates sah aufgrund der Ausstattungsbedenken noch einen Zulassungsvorbehalt für den Einsatz von Videokonferenztechnik für die Länder vor, welcher vom Deutschen Bundestag gestrichen wurde. In der Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschuss des Bundestages (BT-Drs. 17/12418 S. 17) hieß es dazu ausdrücklich:

"... Der Wegfall des Zulassungsvorbehalts in Artikel 9 Absatz 1 des Gesetzentwurfs des Bundesrates führt nicht zu einem allgemeinen Ausstattungszwang der Justiz mit Videokonferenztechnik. Die Vorschriften über den Einsatz von Videokonferenztechnik in gerichtlichen Verfahren sind - wie bereits im geltenden Recht - als Befugnisnormen für das Gericht zu verstehen. Einen Anspruch des Gerichts oder eines Verfahrensbeteiligten auf technische Ausstattung der Gerichte und Justizbehörden begründen sie über den im strafrechtlichen Bereich durch höchstrichterliche Rechtsprechung (BGH, NJW 2007, 1475, 1476) entwickelten, eng umgrenzten Ausstattungsanspruch hinaus nicht. Im Übrigen zielt der Gesetzentwurf ausweislich seiner Begründung auf eine Kostenentlastung durch den Einsatz von Videotechnik ab. ... Es gibt keine Anhaltspunkte, welche die Befürchtung rechtfertigen würden, dass die Gerichte die Videokonferenz nicht maßvoll, überlegt und insbesondere im Rahmen des technisch Machbaren anordnen.

Artikel 9 Absatz 1 des Gesetzentwurfs ist daher zu streichen. ...". Diese Erwägungen beanspruchen auch vorliegend Geltung.

Unter Berücksichtigung der Länderinteressen erschiene es unverhältnismäßig, aus den neuen, ohne Umsetzungsfrist sofort geltenden, aber zeitlich auf wenige Monate befristeten Regelungen einen umfassenden Ausstattungsanspruch der Arbeits- und Sozialgerichtsbarkeit abzuleiten. Zudem gilt es zu bedenken, dass eine Ausstattung der Gerichte wenig Sinn macht, wenn sich die Kommunikationspartner nicht ebenfalls binnen der kurzen zur Verfügung stehenden Zeit mit der notwendigen Technik ausstatten können. Dies erscheint, jedenfalls in nennenswertem Umfang, höchst zweifelhaft, zumal eine Rechtspflicht für jedermann, diese Kommunikationstechnik vorzuhalten, aktuell nicht besteht und kurzfristig auch nicht umsetzbar wäre.

Zu Nummer 4

Der Ausstattungsgrad mit Videokonferenztechnik an den Gerichten ist in den einzelnen Ländern sehr unterschiedlich. In vielen Ländern ist eine teils erhebliche Ertüchtigung der vorhandenen technischen Ausstattung unter Berücksichtigung verfahrensrechtlicher, datenschutzrechtlicher und IT-sicherheitsrelevanter Vorgaben erforderlich, damit die Videokonferenztechnik in einer Vielzahl von Verfahren zum Einsatz gelangen kann. Notwendige Beschaffungs- und Installationsvorgänge bei den Gerichten und wohl auch für die ehrenamtlichen Richterinnen und Richter dürften weder personell noch finanziell für diese Länder kurzfristig leistbar sein.

Die Nutzung privater Endgeräte ist weder den Richterinnen und Richtern der Länder noch den ehrenamtlichen Richterinnen und Richtern zuzumuten. Auch wären für eine solche zunächst Standards zu entwickeln und bundesweit abzustimmen, welche bis zum Ablauf der befristeten Geltungsdauer der in Rede stehenden Vorschriften kaum zur Verfügung stehen werden.